| # taz.de -- Joe Sacco, „Wir gehören dem Land“: Zwischen Tradition und Anpa… | |
| > Fracking versus Biberjagd: Joe Saccos Comicreportage erzählt von der | |
| > Geschichte und Gegenwart der indigenen Bevölkerungen Kanadas. | |
| Bild: Sacco erzählt, wie indigene Kinder gegen ihren Willen in weit entfernte … | |
| Das Bild ist an Grausamkeit kaum zu überbieten: ein kleiner indigener Junge | |
| wird gegen seinen Willen, zusammen mit zwei Geschwistern, aus seiner | |
| Familie und seinem Wohnort tief in den Wäldern gerissen und per Flugzeug in | |
| ein weit entferntes Internat gebracht. Im Internat bekommt der Junge von | |
| Nonnen die langen Haare abrasiert. Körperliche Züchtigung ist an der | |
| Tagesordnung, man verbietet ihm sogar, die eigene Sprache zu sprechen. | |
| Die erschütternde Erzählung eines „Überlebenden“ dieser Internate deckt | |
| sich mit denen vieler weiterer ehemaliger Schülerinnen und Schüler | |
| indigener Abstammung in Kanada. Joe Sacco hat sie aufgezeichnet. [1][Der | |
| renommierte Comicautor, der seit den 1990er Jahren oftmals Krisengebiete | |
| bereiste] und nach den Recherchen umfangreiche Comicreportagen in Buchform | |
| veröffentlichte („Palästina“, „Sarajevo“, „Gaza“), hat das mittle… | |
| Künstlern beliebte Genre wesentlich geprägt. | |
| Er widmet sich in seiner jüngsten Publikation „Wir gehören dem Land“ einem | |
| vergleichsweise friedlichen, doch keineswegs von Gewalt freien Thema. „Wir | |
| gehören dem Land“ erzählt von den First Nations in Kanada. Die Geschichte | |
| ihrer Kolonisierung im hohen Norden Amerikas hat Sacco dabei besonders im | |
| Fokus. | |
| Als Sammelbezeichnung für alle Menschen indigener Herkunft im Norden | |
| Kanadas – in den „Nordwest-Territorien“ und angrenzenden Gebieten wie Yuk… | |
| und British Columbia – hat sich der von den First Nations selbst gewählte | |
| Begriff „Dene“ (Volk) durchgesetzt. Der Comic-Titel „Wir gehören dem Lan… | |
| spiegelt die Einstellung vieler Dene wider, dass sie keine Besitzansprüche | |
| [2][auf das Land, auf dem sie leben, stellen und die Natur rücksichtsvoll | |
| behandeln.] | |
| ## Kulturkampf | |
| Joe Sacco beschreibt einen seit Beginn der Kolonisierung bestehenden | |
| Kulturkampf, der diese Gemeinschaften immer wieder zu zerreißen droht. Am | |
| Anfang der Comicreportagen stand eine Reise, die Sacco vor einigen Jahren | |
| zusammen mit Shauna Morgan unternahm. | |
| Sie ist Mitglied des Stadtrats von Yellowknife, einer ehemaligen | |
| Goldgräbermetropole und heute größten Stadt der Nordwest-Territorien. | |
| Shauna bringt Sacco mit zahlreichen Persönlichkeiten der Dene zusammen, die | |
| teils ähnliche, aber auch sehr verschiedene Lebenserfahrungen gemacht | |
| haben. | |
| Paul Andrew erzählt etwa von seiner Kindheit in sehr abgelegenen Gebieten. | |
| Er erinnert sich an das harmonische Leben in der Gemeinschaft, das typisch | |
| sei für das frühere Leben der Dene, in dem die Jagd eine Hauptrolle spielte | |
| und große Familienverbände sich selbst versorgten. Binnen weniger Tage | |
| hätten sie in Gemeinschaftsarbeit große Boote aus Elchleder gebaut. Andrew | |
| zitiert alte, mündlich überlieferte Legenden, die von gigantischen Bibern | |
| handeln und dem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. | |
| ## Dene bekamen schlecht bezahlte Jobs | |
| Das heutige Leben der meisten Dene wird von modernen Wirtschaftsprojekten | |
| und Technologien der Öl- und Gasförderung bestimmt. Sacco zeigt dabei auf, | |
| wie Indigene in wichtigen Gebietsabkommen (von 1899 bis 1921) von der | |
| Regierung übers Ohr gehauen wurden. Sie sollten so der staatlichen | |
| Wirtschaft ertragreiches Land überlassen. Die Dene wurden oft nicht in die | |
| Projekte eingebunden und bekamen nur schlecht bezahlte Jobs. Noch heute | |
| leben viele von Sozialhilfezahlungen. | |
| [3][Die neuen Lebensbedingungen förderten den schon grassierenden | |
| Alkoholismus, Gewalt und Missbrauch] in den Familien nahmen zu. Manche Dene | |
| verstanden es, sich an die neue Zeit anzupassen, und wuchsen in andere | |
| Rollen hinein. Sie wurden Selbstständige, Unternehmer und Politiker. Zu den | |
| größten historischen Verfehlungen Kanadas zählt aber, so legen es viele | |
| Aussagen nahe, die Umerziehung vieler Dene in den Internaten. | |
| 150 Jahre existierten sie bis in die 1990er Jahre, geführt meist von | |
| katholischen und protestantischen Priestern. Sie brachten oft traumatische | |
| Erfahrungen mit sich. Als „staatlich unterstütztes Kidnapping“, | |
| „Missbrauch“ oder „kulturellen Völkermord“ bezeichnen Überlebende die… | |
| Internate. Die indigenen Kinder wurden aus ihrer „rückständigen“ Umgebung | |
| gerissen. Sie sollten Englisch lernen, christlich erzogen und als | |
| kanadische Bürger assimiliert werden. | |
| Die Folge war eine massenhafte Entfremdung von der früheren Gemeinschaft, | |
| von überlieferten Bräuchen und indigenen Sprachen. Die in die Reservate | |
| rückkehrenden jungen Männer verstanden danach auch nicht mehr das Handwerk | |
| des Jagens oder Fischens und verloren so an Ansehen. | |
| ## Nüchtern illustriert und satirisch überspitzt | |
| Sacco findet für seine Reportage einen unaufgeregten Erzählrhythmus. Im | |
| Mittelpunkt stehen Zeitzeugen, die er zitiert und deren Berichte er | |
| nüchtern illustriert – hie und da leicht satirisch überspitzt, wenn er etwa | |
| die unerbittlich prügelnden Nonnen darstellt. In feinen, dicht | |
| schraffierten schwarzweißen Tuschzeichnungen gelingen ihm subtile | |
| Charakterporträts, die unterschiedliche Perspektiven auf die Thematik | |
| beinhalten. | |
| Er berichtet von traditionell die alte Kultur vertretenden Häuptlingen. | |
| Aber auch von modern ausgerichteten, den neuen und umstrittenen | |
| Technologien wie Fracking gegenüber aufgeschlossenen Politikern indigener | |
| Abstammung. Und von jungen AktivistInnen, die das Alte mit dem Neuen | |
| verbinden, um so Lösungen zu finden. Unter den Porträtierten sind auch | |
| einige Frauen, die in die Rolle von Politikerinnen oder Häuptlingen | |
| hineingewachsen sind. Sie wollen [4][indigene Traditionen mit positiven | |
| Aspekten von heute verbinden]. | |
| Aufgefächert in sechs Kapitel, die wiederum in kleinere Episoden gegliedert | |
| sind, gelingt es Sacco, trotz Reporterperspektive eine große Nähe zu den | |
| First Nations herzustellen. Historische Exkurse schließen Wissenslücken. | |
| Mit „Wir gehören dem Land“ ist Sacco eine berührende Reportage gelungen. | |
| Sie macht die Zerrissenheit der Dene zwischen der Tradition sowie den | |
| Möglichkeiten und Zumutungen der Moderne anschaulich. | |
| 2 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ralph Trommer | |
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