| # taz.de -- Buchrezension „Der gefrorene Himmel“: Saul Indian Horse rast ü… | |
| > Richard Wagemese erzählt vom Schrecken der kanadischen Residential | |
| > Schools für indigene Kinder. Und beschreibt die Schönheit des Eishockeys. | |
| Bild: Viele Residential Schools waren in der Hand der katholischen Kirche | |
| Als Saul Indian Horse zum ersten Mal ein Eishockeyspiel sieht, ist das für | |
| ihn das Tor zu einem anderen Leben. Das Zischen des Pucks über die | |
| Eisfläche, das geschmeidige Gleiten auf den Kufen, das Klacken der | |
| Schläger, das Gewirr der Spieler: All das fasziniert den kleinen indigenen | |
| Jungen, als er die Mannschaften der älteren Schüler beim Spielen | |
| beobachtet. Das will er auch: [1][Hockey spielen.] | |
| Die Welt, die er bis dato kennt, ist furchteinflößend und grausam: Saul ist | |
| Schüler der St. Jerome’s Residential School im kanadischen Ontario. Nachdem | |
| seine Großmutter, die sich um ihn gekümmert hatte, gestorben war, brachte | |
| man ihn auf diese Schule. Dort ist es verboten, die indigene Sprache Ojibwe | |
| zu sprechen, Schülerinnen und Schüler werden verprügelt, in Keller | |
| gesperrt, gefügig gemacht. „St. Jerome’s nahm alles Licht aus meinem | |
| Leben“, erinnert sich Saul später. | |
| Der kanadische Schriftsteller und Journalist Richard Wagamese, der aus | |
| Ontario kommt und selbst der indigenen Bevölkerungsgruppe der Ojibwe | |
| entstammt, erzählt in seinem beeindruckenden Roman „Der gefrorene Himmel“ | |
| die Geschichte dieses kleinen Jungen, für den Eishockey Anfang der 1960er | |
| Jahre der Weg hinaus aus dem Elend der Residential School ist. | |
| Im Original ist „Indian Horse“ bereits 2012 erschienen und hat den | |
| kanadischen Preis für indigene Literatur gewonnen (Burt Award for First | |
| Nations, Inuit and Métis Literature 2013). 2017 wurde das Buch verfilmt. Im | |
| selben Jahr ist Wagamese, der einer der bekanntesten indigenen Autoren | |
| Kanadas war, im Alter von 61 Jahren in Kamloops (bei Vancouver) gestorben. | |
| ## Naturtalent auf dem Eis | |
| Der Ich-Erzähler Saul Indian Horse erweist sich als Naturtalent auf dem | |
| Eis, schon früh spielt er ältere Gegenspieler in Grund und Boden. Als | |
| Jugendspieler wird er von Pater Leboutilier gefördert und es geht für ihn | |
| immer steil aufwärts: Zunächst läuft er für das Indigenen-Team The Moose | |
| auf, ehe er für das Aufbauteam der Toronto Maple Leafs gescoutet wird und | |
| schließlich in der NHL spielt. Fortan ist er – als einer der ersten | |
| Indigenen in der Profiliga – der Exot, auf den Mitspieler, Publikum und | |
| Presse ihre Stereotype projizieren können. | |
| „Wenn ich jemanden rammte, war es nicht bloß ein Bodycheck; ich war auf dem | |
| Kriegspfad. Wenn ich allein aufs gegnerische Tor zuraste, sodass die | |
| Zuschauer aufsprangen, war es ein Überfall. Wenn ich bei einem Gerangel an | |
| der Bande versehentlich den Stock zu hoch hatte, jagte ich Skalps. Wenn ich | |
| auf eine Zeitstrafe nicht reagierte, war ich der stoische Indianer.“ | |
| Das geht so lange, bis Saul irgendwann ausrastet, den Spaß am Spiel | |
| verliert und hinschmeißt. Er stürzt ab, sucht sein Heil im Alkohol. Und | |
| stellt später fest, was er zunächst durch Eishockey und dann durch Saufen | |
| alles verdrängt hat. | |
| ## Viele katholische Internate | |
| Wagamese greift in seinem Buch mehrere reale Geschichten auf. Auch wenn der | |
| Autor selbst nicht auf [2][eine Residential School] ging, so waren es doch | |
| seine Eltern (und sicher viele weitere Verwandte), die dort eine Schulzeit | |
| durchlitten. Die Residential Schools (von denen es landesweit mindestens | |
| 139 gab) existierten in Kanada von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert | |
| bis 1996, viele waren in katholischer Hand. | |
| Psychische und sexuelle Gewalt waren an der Tagesordnung, Traumata und | |
| Suizide die Folge. Während der kanadische Staat sich 2008 für den | |
| psychischen und sexuellen Missbrauch und die Gewalt dort entschuldigt | |
| hatte, lehnte Papst Franziskus es 2018 ab, zu einer persönlichen | |
| Entschuldigung nach Kanada zu reisen. | |
| Neben der Historie der Residential Schools verarbeitet Wagamese auch die | |
| Geschichte von Frederick „Fred“ Sasakamoose (1933–2020), einem der ersten | |
| indigenen NHL-Profis. Der rasante Aufstieg von Saul ähnelt dessen Laufbahn, | |
| auch Fred Sasakamoose war ein Opfer der Schulen. | |
| Besonders ist an diesem Roman, dass es ihm gleichermaßen gelingt, den | |
| Horror der Residential Schools zu beschreiben und eine Hommage ans „Hockey“ | |
| zu schreiben, wie der kanadische Nationalsport dort einfach nur heißt. | |
| ## Haken, Checks und Stöße | |
| „Zehn Männer, die in herrlichem Tempo über eine eingezäunte Eisfläche | |
| rasten. Haken, Handwechsel, plötzliche Stopps und Finten. Checks, Stöße, | |
| konzentrierte Entschlossenheit und dann das mitreißende Ballett auf offenem | |
| Eis, wenn alles sich auf eine Linie, einen Punkt konzentrierte, wo nur noch | |
| Schläger, Puck, Schoner und Netz existierten, und die rote Lampe und die | |
| Torsirene, die Tausende in Jubel ausbrechen ließ. Das war aufregend“, denkt | |
| Saul, als er „Hockey Night in Canada“, das kanadische Pendant zur | |
| „Sportschau“, sieht. | |
| Übersetzer Ingo Herzke ist es gelungen, Wagameses direkte, schöne Sprache | |
| und seinen schnörkellosen Erzählstil gut ins Deutsche zu übertragen. Nur | |
| das Cover kommt – in Kombination mit dem Titel – etwas kitschig daher; | |
| davon sollte man sich nicht täuschen lassen. | |
| Die Literatur von indigenen Autorinnen und Autoren in Kanada und den USA | |
| weiß einmal mehr zu begeistern. Auf völlig andere und poetischere Art und | |
| Weise hat sich [3][Tanya Tagaq („Eisfuchs“, 2020)] zuletzt mit dem | |
| Aufwachsen als Indigene und den Residential Schools befasst, auch Tommy | |
| Oranges „Dort Dort“ (2019) war erzählerisch eine Wucht. | |
| Dass Wagameses Roman bislang keine größere Beachtung geschenkt wurde, | |
| überrascht auch deshalb, weil sich [4][das Thema sexuelle Gewalt in der | |
| katholischen Kirche] bei Weitem nicht auf die kanadischen Residential | |
| Schools beschränkt und die Institution bei der Aufarbeitung und Aufklärung | |
| weiterhin auf eklatante Weise versagt. | |
| 21 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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