| # taz.de -- Reportagen der Künstlerin Emily Carr: Die Modernistin, die im Kanu… | |
| > Die kanadische Künstlerin Emily Carr malte nicht nur Totempfähle. Sie | |
| > schrieb auch literarische Reportagen über ihre Reisen. | |
| Bild: Die kanadische Schriftstellerin Emily Carr auf einem undatierten Foto mit… | |
| Emily Carr, die längst als „kanadische Ikone“ (The Canadian Encyclopedia) | |
| gilt, wirkte zeitlebens eher an den Rändern der öffentlichen Wahrnehmung. | |
| 1871 in Victoria auf Vancouver Island geboren, entwickelte sie früh | |
| Interesse an der bildenden Kunst, ging als 19-Jährige zum Studium nach San | |
| Francisco und ergänzte ihre künstlerische Ausbildung später mit langen | |
| Aufenthalten in England und Frankreich, wo sie von europäischen | |
| modernistischen Strömungen beeinflusst wurde. | |
| Als Carr 1912 aus Paris nach Kanada zurückkehrte und sich in Vancouver | |
| niederließ, brachte sie ihren Landsleuten den Fauvismus mit. Für die | |
| meisten war das zu früh. Da Carr von ihrer Kunst nicht leben konnte, zog | |
| sie in ihre Heimatstadt Victoria zurück und eröffnete dort zur Sicherung | |
| des Lebensunterhalts eine Pension. Erst Ende der zwanziger Jahre wurde sie | |
| als Künstlerin zunehmend anerkannt und ganz allmählich auch berühmt. Heute | |
| erzielen ihre Bilder bei Auktionen Höchstpreise. | |
| Emily Carr hat in ihrem bildnerischen Werk immer wieder kulturelle | |
| Zeugnisse der [1][kanadischen First Nations] aufgegriffen, hat indigene | |
| Siedlungen, Skulpturen und vor allem viele Totempfähle gemalt. In diesem | |
| Zusammenhang unternahm sie im Laufe der Jahrzehnte mehrere Recherchereisen | |
| in entlegenere (nach damaligen Verhältnissen jedenfalls) Gebiete von | |
| Vancouver Island. | |
| ## Kanadischer Klassiker im Unterricht | |
| Carr malte nicht nur, was sie dort sah, sondern brachte ihre Erlebnisse | |
| auch in Worten zu Papier. Spät im Leben debütierte sie als Autorin. Ihr | |
| erster Erzählungsband „Klee Wyck“ erschien 1941 und stieß auf großes | |
| allgemeines Interesse. Wenige Jahre später wurde das Werk aufgenommen in | |
| eine Reihe kanadischer Klassiker für den Schulunterricht – allerdings in | |
| gekürzter, leicht zensierter Form. Die Autorin selbst war 1945 gestorben | |
| und konnte sich nicht dagegen wehren. | |
| Kritik an der Tätigkeit der Missionare in den Gebieten der Indigenen oder | |
| an der verheerenden staatlichen Praxis, [2][indigenen Eltern ihre Kinder | |
| wegzunehmen und in Internate zu stecken], sollte in der Schullektüre | |
| kanadischer Kinder nicht vorkommen. Erst 2003 sei „Klee Wyck“ erstmals | |
| wieder in der ursprünglichen Fassung erschienen, wie man aus dem | |
| informativen Vorwort von Kathryn Bridge erfährt, das auch der deutschen | |
| Ausgabe vorangestellt ist. | |
| In der ersten Erzählung, „Ucluelet“, erklärt sich der Titel des Buches. | |
| „Klee Wyck“ ist der Name, den die junge Emily Carr beim Besuch eines | |
| indianischen Dorfes von einer alten Frau bekommt. Er bedeutet so viel wie | |
| „Die, die lacht“. Später benutzte Emily Carr diesen Namen neben ihrem | |
| englischen Geburtsnamen. | |
| ## Sitten der Indigenen | |
| „Ucluelet“ führt die Erzählerin als neu in fremder Umgebung ein. Eigentli… | |
| ist sie sogar doppelt fremd zwischen den beiden Missionarinnen, die in | |
| Ucluelet eine Schule betreiben, viel beten und die junge Emily bei ihrem | |
| Besuch beherbergen, und den indigenen EinwohnerInnen des Dorfes, deren | |
| Sitten die werdende Künstlerin erst noch kennenlernen muss. | |
| Andere Erzählungen spielen in späteren Jahren und an anderen Orten. Meist | |
| ist die Malerin auf der Suche nach Totempfählen, die sie zeichnen will. Oft | |
| stehen diese in ehemaligen Siedlungen, die von den Bewohnern verlassen | |
| wurden. Die Christianisierung der indigenen Bevölkerung bedeutet den | |
| Niedergang von deren alter Kultur und das Ende vieler Dörfer. | |
| Viele Erzählungen handeln von indigenen Freundinnen oder persönlichen | |
| Bekannten der Autorin. Besonders ein Paar, Louisa und Jimmie, kommt | |
| mehrfach vor, von Männern ist insgesamt aber kaum die Rede. Am Leben der | |
| indigenen Frauen dagegen nimmt die Erzählerin großen Anteil. Wiederholt | |
| thematisiert sie die unfassbar hohe Kindersterblichkeit, erzählt von | |
| Geburten und Begräbnisriten. | |
| ## Kinder sollen englisch sozialisiert werden | |
| Auch die Praxis, indigen geborene Kinder von ihren Familien zu trennen und | |
| in Internaten englisch zu sozialisieren, findet Erwähnung: Die Erzählerin, | |
| die von einem Missionar gebeten wird, ihre Freundin Louisa zu überreden, | |
| ihre Söhne ins Internat zu schicken, verweigert sich diesem Ansinnen. | |
| Es ist dies eine der Passagen, die in der alten Schulbuchversion gestrichen | |
| worden waren – ebenso wie das Ende der „Ucluelet“-Erzählung, in der ein | |
| alter indigener Begräbnisplatz beschrieben wird, sowie die traditionelle | |
| Praxis, die Toten in Kisten hoch oben in Bäumen zu bestatten. | |
| Auch die tieftraurige Geschichte „Marthas Joey“ über eine alte Frau, die | |
| einen elternlosen Jungen großgezogen hat und ihn, sobald er das Schulalter | |
| erreicht, weggenommen bekommt, da er weiß ist und nach dem Willen der | |
| Behörden als Weißer aufzuwachsen hat, bekamen Kanadas Schulkinder vor dem | |
| Jahr 2003 nicht zu lesen. | |
| Emily Carrs Stil ist von radikaler Schlichtheit. Eine ihrer Regeln lautete: | |
| „Verwende nie ein großes Wort, wenn ein kleines genügt.“ Ihre Erzählungen | |
| sollten vor allem „wahr“ sein. Gerade ihre Lakonie macht Carrs literarische | |
| Reportagen sehr zeitlos und verleiht der in ihnen geschilderten Realität | |
| große, eindrucksvolle Unmittelbarkeit. | |
| 11 Jan 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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