# taz.de -- Papst-Entschuldigung in Kanada: Bitte um Vergebung | |
> In Kanada bittet Papst Franziskus Indigene erstmals in deren Heimat um | |
> Verzeihung für früheres Unrecht. Hinter manchen Erwartungen bleibt er | |
> zurück. | |
Bild: Nach der Rede von Papst Franziskus fließen bei manchen die Tränen | |
Calgary taz | Als Chief [1][Marie-Anne Day Walker-Pelletier] vor ein paar | |
Monaten in Rom den Papst besuchte, brachte sie ihm aus Kanada zwei Paar | |
kleine Kinderschuhe mit. Die handgefertigten Mokassins aus Leder sollten | |
Franziskus stets daran erinnern, dass in den berüchtigten „Residential | |
Schools“ in Kanada unter der Aufsicht der Kirche viele indigene Kinder | |
starben und nie zu ihren Familien zurückkehrten. | |
Die Häuptlingsfrau aus Saskatchewan übergab die Mokassins in der Hoffnung, | |
sie irgendwann wieder zurückzubekommen. Und zwar dann, wenn eine mahnende | |
Erinnerung nicht mehr nötig ist, weil sich [2][Franziskus in der Heimat der | |
gestorbenen Kinder] für die Verfehlungen der Kirche in den Schulen | |
entschuldigt, in denen über ein Jahrhundert bis zu 6.000 indigene Kinder | |
ums Leben kamen. | |
Am Montag war der Moment endlich gekommen. Um kurz nach elf Uhr morgens an | |
einem regnerischen und kühlen Sommertag bat der Papst zum Auftakt seiner | |
sechstägigen Reise durch Kanada in der indigenen Gemeinde Maskwacis bei den | |
kanadischen Ureinwohnern offiziell um Entschuldigung für das erlittene | |
Unrecht. Danach gab der Papst die Mokassins an Walker-Pelletier zurück. Sie | |
sei erleichtert, die Schuhe wieder in Händen zu halten, sagte sie | |
hinterher. | |
Die Übergabe der Schuhe war der emotionale Höhepunkt eines Tages, an dem | |
der Papst deutlichere Worte wählte als bislang zu diesem Thema. „Ich bitte | |
um Verzeihung für die Art und Weise, in der leider viele Christen die | |
Mentalität der Kolonialisierung unterstützt haben“, sagte er in der | |
kreisrunden Arena von Maskwacis nahe Edmonton, in der sich rund 2.000 | |
Ureinwohner aus allen Teilen Kanadas versammelt hatten. | |
## „Kulturelle Zerstörung und erzwungene Assimilierung“ | |
Die [3][Internatsschulen in Kanada] stünden als Beispiel für „kulturelle | |
Zerstörung und erzwungene Assimilierung“ indigener Gemeinschaften, bekannte | |
Franziskus und bedauerte die Mitwirkung von Kirchenvertretern und | |
Ordensleuten an dem System, das vom Staat finanziert wurde. Die Folgen für | |
indigene Familien seien katastrophal gewesen, die Teilnahme der Kirche ein | |
verheerender Fehler. Live übersetzt wurden die Worte unter anderem in zwölf | |
indigene Sprachen. | |
Bei seiner Rede wirkte Franziskus sichtlich angeschlagen, umrahmt wurde er | |
von den vier Häuptlingen der Region. Der kreisrunde Versammlungsort in | |
einer traditionellen Tanzarena war bewusst gewählt, denn Kreise stehen bei | |
vielen indigenen Völkern für das ewige Leben – und den Akt der Heilung und | |
Versöhnung. Den will der Papst mit den Betroffenen nun gemeinsam gehen. | |
„Ich bitte um Vergebung für das Böse, das so viele Christen indigenen | |
Menschen angetan haben“, schloss Franziskus unter Applaus, bevor er einen | |
traditionellen Federschmuck übergestülpt bekam und als Ehrenmitglied in die | |
Stämme von Maskwacis aufgenommen wurde. Begleitet wurde die Veranstaltung | |
von traditionellen Trommelgesängen, die in vielen indigenen Gemeinschaften | |
den Herzschlag symbolisieren und heute für die Vitalität indigener Kultur | |
stehen. | |
Viele der Anwesenden waren in traditionellen Ornaten gekommen, einige | |
trugen orange T-Shirts mit der Aufschrift: „Every child matters“ – jedes | |
Kind zählt. Auf einem riesigen Banner im Zentrum der Arena hatten die | |
Veranstalter unter den Augen des Papstes die Namen von tausenden | |
gestorbenen und vermissten Kindern aufgelistet, von denen viele in anonymen | |
Gräbern verscharrt wurden. | |
## Die letzte Schule schloss erst 1996 | |
Die meisten der Kinder starben an Unterernährung oder Krankheiten, manche | |
auch an den Folgen der physischen und sexuellen Gewalt, der Entfremdung | |
oder Einsamkeit. Nach offiziellen Schätzungen mussten rund 150.000 | |
Ureinwohnerkinder die Internate besuchen, mit dem Ziel, ihre indigene | |
Kultur zu tilgen und sie in der weißen Gesellschaft zu assimilieren. Die | |
letzte der Schulen schloss im Jahre 1996. | |
Nur wenige Schritte von der Arena von Maskwacis entfernt befand sich lange | |
eine der größten derartigen Schulen in Kanada: Die „Ermineskin Indian | |
Residential School“ war zwischen 1916 und 1975 in Betrieb, wurde | |
mittlerweile aber abgerissen. Heute haben die Ureinwohner dort auf einer | |
grünen Wiese fünf Tipi-Zelte aufgebaut, unweit wurden auf einem Friedhof | |
wohl auch Internatskinder begraben. | |
Manche der Gräber sind markiert mit weißen Kreuzen, manche bleiben | |
unmarkiert. Am Montag stoppte Franziskus an beiden Orten für ein stilles | |
Gebet – es war das erste Mal, dass ein Papst den Standort einer ehemaligen | |
„Residential School“ besuchte. Gekommen war der Papst im Rollstuhl, immer | |
wieder hielt er sichtlich ergriffen inne, später sprach er von einem | |
„Schmerzschrei“ im Angesicht der Gräber. | |
Schmerzvoll war der Tag aber besonders für die ehemaligen Schülerinnen und | |
Schüler. Mit Sondermaschinen und Bussen waren sie aus dem ganzen Land | |
angereist, um bei der historischen Entschuldigung dabei zu sein. Viele | |
verfolgten die Äußerungen des Papstes unter Tränen, manche mit | |
geschlossenen Augen. Für manche war es ein notwendiges Signal der | |
Versöhnung, andere hatten sich mehr erhofft. | |
## Der Papst hat den Begriff des „kulturellen Genozid“ vermieden | |
„Nachdem ich den Papst gehört habe, bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam | |
bei der Versöhnung vorangehen können“, meinte hinterher Häuptling George | |
Archand von der Alexander First Nation in Alberta. „Die Entschuldigung war | |
aufrecht. Ich akzeptiere sie und bin bereit, zu vergeben“, sagte Andre | |
Tautu aus Chesterfield Inlet dem Sender CBC. Tautu musste selbst eine der | |
Schulen besuchen und gehört dem Volk der Inuit an. | |
Die oberste Vertreterin der kanadischen Ureinwohner, RoseAnne Archibald, | |
sprach von einem Schritt voran, der Überlebenden viel bedeute. Sie wies | |
aber auch darauf hin, dass es sich nur um einen Anfang handle und dass die | |
Entschuldigung zu kurz greife. Beispielsweise habe der Papst nicht die | |
Institution Kirche als Ganzes in Verantwortung genommen und anders als die | |
kanadische Wahrheits- und Versöhnungskommission den Begriff „Kultureller | |
Genozid“ für die Verbrechen vermieden. | |
Enttäuscht waren auch jene, die darauf gehofft hatten, dass der Papst | |
Dekrete aus dem 15. Jahrhundert widerrufe, die die Kolonialisierung von | |
nicht christlichen Ländern rechtfertigten. Die [4][sogenannte „Doktrin der | |
Entdeckung“] beschrieb Kanada zur Zeit der Pioniere als ein leeres und | |
nicht bewohntes Land, was zu Landnahme und Missachtung indigener Rechte und | |
Kulturen führte. | |
„Leider ist der Geist des Kolonialismus noch nicht verschwunden“, | |
bemängelte Judy Wilson von der Union of British Columbia Indian Chiefs. Die | |
Kritiker hoffen, dass sich der Papst bis zum Ende seines Besuches noch | |
klarer zu dieser Frage äußert. Morgen reist der Papst weiter nach Québec, | |
danach geht es weiter in die Arktisgemeinde Iqaluit, wo er sich ebenfalls | |
mit Überlebenden der Schulen treffen will. | |
26 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://globalnews.ca/news/8405748/chief-marie-ann-day-walker-pelletier-rep… | |
[2] /Papst-entschuldigt-sich-bei-Indigenen/!5869736 | |
[3] /Indigene-in-Kanada/!5775618 | |
[4] https://doctrineofdiscovery.org | |
## AUTOREN | |
Jörg Michel | |
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