# taz.de -- Roman über deutsche Kolonialgeschichte: Die Moral der Pigmente | |
> Katharina Döbler schreibt in ihrem Roman „Dein ist das Reich“ über ihre | |
> Großeltern. Sie verkündeten in der „Deutschen Südsee“ das Christentum. | |
Bild: Das mittelfränkische Neuendettelsau im Jahr 1935 | |
Spenden sammeln für die Mission, das sah in Katharina Döblers Kindheit so | |
aus: In den Kirchen in und um Neuendettelsau, einer fränkischen Hochburg | |
des Protestantismus, kniete ein schwarzes Männlein vor dem Besucher, mit | |
betend oder bittend zusammengelegten Händen. Wer in die Apparatur eine | |
Münze einwarf, aktivierte eine „obszöne Mechanik“ und brachte das Männle… | |
dazu, dankend seinen Kopf zu neigen. | |
„Dieser Apparatur verdankten meine Großeltern ihre Rente“, vermerkt in | |
Katharina Döblers neuem Roman lapidar die Ich-Erzählerin, das Alter Ego der | |
Autorin. Zeit ihres Lebens habe sich ihre Mutter gewünscht, die Tochter | |
würde einmal über das abenteuerliche Leben der Großeltern bei den | |
„Steinzeitmenschen“ von Papua-Neuguinea ein Buch schreiben. | |
Doch wollte [1][die junge Katharina Döbler] mit dem „kolonialistischen | |
Schwindel“ und den „Familienlegenden“ genauso wenig zu tun haben wie mit | |
all den Onkeln und Tanten im muffig-pietistischen Neuendettelsau, der | |
„Horde“, die allsonntäglich bei Kaffee und Kuchen saß und sich nur höchst | |
selektiv, wie sich erweisen sollte, an die Vergangenheit erinnerte. | |
Zum Glück hat es sich die heute 64-jährige Journalistin und Autorin, seit | |
langem feste freie Mitarbeiterin der deutschen Ausgabe von Le Monde | |
diplomatique, irgendwann anders überlegt und mit den Mitteln des Romans – | |
und ausgedehnten Archivrecherchen – „den Archipel der familiären | |
Überlieferung“ erforscht. | |
## Das Argument der Erlösungsbedürftigkeit | |
Und zwar um einiges gründlicher, als es ihrer inzwischen verstorbenen | |
Mutter wohl recht gewesen wäre. Wobei das Timing für „Dein ist das Reich“, | |
so der Titel des Romans, kaum hätte besser sein können, fällt sein | |
Erscheinen doch mitten hinein in eine hierzulande wieder [2][aufgeflammte | |
Kolonialismus- und Restitutionsdebatte]. | |
Döblers Roman erzählt von einem heute nahezu vergessenen Stück deutscher | |
Kolonialgeschichte in der Südsee und zugleich von transgenerationalen | |
Traumata. Anfang des 20. Jahrhunderts brachten junge Männer und Frauen aus | |
Mittelfranken, meist arme Bauernsöhne und -töchter, als | |
„Heidenmissionare“ Gottes Wort zu den „armen Papuas“ im | |
„Kaiser-Wilhelms-Land“ im Nordosten Neuguineas. | |
Unter ihnen waren auch Döblers Großeltern, zuerst 1913 die beiden | |
Großväter, die im Roman Heiner Mohr und Johann Hensolt heißen, später auch | |
ihre Ehefrauen, Marie und Nette. Bis ins hohe Alter haben sie sich [3][ihr | |
christliches Sendungsbewusstsein] bewahren können, erinnert sich die | |
Ich-Erzählerin. Schließlich glaubten die Papuas an Dämonen und Zauberei, | |
frönten gerüchteweise dem Kannibalismus und kannten noch nicht einmal den | |
Sonntag, waren also dringend erlösungsbedürftig. | |
## Komplexes Bild der Mission | |
Dabei ist das Bild, das Döblers Roman von der Rolle der Mission zeichnet, | |
durchaus komplex. Die weißen „Master“ in ihren weißen Anzügen ließen die | |
Ureinwohner ihre Kultmasken und -trommeln verbrennen und brachten ihnen | |
Lesen und Schreiben bei, sie bescherten ihnen deutsches Leistungsdenken und | |
die Prügelstrafe, medizinische Versorgung, aber auch Grippe und Masern, | |
stifteten Frieden zwischen verfeindeten Stämmen, um am Ende selbst gleich | |
zwei Weltkriege über die Papuas zu bringen. | |
Tendenziell zumindest scheint es den Papuas bei der Mission besser ergangen | |
zu sein als bei den brutalen Pflanzern der benachbarten | |
Neuguinea-Compagnie; Menschen zweiter Klasse waren sie freilich hier wie | |
dort. In Interviews hat die Autorin die Rolle der Mission boshaft mit der | |
der Sozialdemokratie im damaligen Kapitalismus verglichen: die Ausbeutung | |
blieb, wurde aber für die Betroffenen dank des von der Mission gelieferten | |
theoretischen Überbaus erträglicher. | |
Am rassistischen Weltbild der Missionar:innen lässt der Roman | |
jedenfalls keinen Zweifel. Großherzig will man die Papuas auf die eigene | |
Zivilisationsstufe heben, aber völlig undenkbar ist es zum Beispiel, dass | |
ein Missionar eine Papua ehelicht. | |
Als Johann Hensolt, der Großvater mütterlicherseits, ein später von der | |
Familie idealisierter, schon 1942 verstorbener Abenteurer, mit einer Papua | |
ein Kind zeugt, wird der damals noch Unverheiratete prompt aus der Mission | |
geworfen. Später wird die Angelegenheit in der Familie als „Gerücht“ | |
abgetan, bis die Autorin einschlägige Briefdokumente findet. „Ich grübelte | |
lange über die Moral der Pigmente“, heißt es einmal im Roman. | |
Interessanter als der schwärmerisch-naive Johann oder der | |
streng-patriarchalische Heiner sind jedoch deren Ehefrauen. Die Ehen, die | |
die Großeltern führen, könnten unterschiedlicher nicht sein: Die junge | |
Marie ist klug und ehrgeizig, könnte Lehrerin werden, fügt sich dann aber | |
in eine von der Mission arrangierte Heirat, um sich auf Heiner Mohrs | |
Plantage in eine Art zornige Demut zu flüchten. Nette dagegen hatte sich | |
nach dem Ersten Weltkrieg schon in den USA ein neues Leben aufgebaut, | |
verliebt sich dann aber bei einem Heimatbesuch in den charmanten Johann | |
Hensolt, eine vom Zufall gestiftete Liebe, und folgt ihm in den Dschungel. | |
Später wird Nette als beinahe Hundertjährige zu ihrer Enkelin sagen: „Die | |
Weltgeschichte, Kind, wird nicht von den Frauen gemacht …, aber sie müssen | |
halt darin leben.“ Denn ob Pflicht oder Liebe, nationalsozialistische | |
Gedanken machen sich in beiden Ehen breit, wie die Ich-Erzählerin entdeckt: | |
Sowohl Marie als auch Johann treten in die Partei ein, hoffen auf eine | |
Rückgewinnung der enteigneten deutschen Kolonien. | |
## Schweigen und Schuldgefühle | |
Ende der dreißiger Jahren liefern beide Ehepaare ihre schulpflichtigen | |
Kinder, die zum Teil nicht einmal Deutsch können, in dem braun gewordenen | |
Neuendettelsau ab. Mehr als zehn Jahre wird es dauern, bis sich die wieder | |
im Dschungel verschwundenen Eltern und die in Nazi-Heimen sozialisierten | |
Kinder wiedersehen können – fruchtbarer Boden für all das Schweigen in | |
dieser Familie heimatloser Menschen, für Schuldgefühle und einen | |
„ameisenhaften Zwang zur Idylle“, wie die Ich-Erzählerin sarkastisch | |
bemerkt. | |
Katharina Döbler erzählt die Lebensgeschichten ihrer vier höchst | |
unterschiedlichen Protagonist:innen in einer geschmeidigen, | |
stilsicheren Sprache. Mit den Mitteln der Empathie, aber auch mit | |
liebevollem Humor erschließt sie ihr Denken und Fühlen, ihre Sehnsüchte, | |
Träume und Irrwege und entwirft wie nebenbei ein Zeitpanorama vom | |
Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Das sieht leichthändig | |
aus, ist aber das Ergebnis von etwas, das man als kühnes erzählerisches | |
Bungeespringen ins „Meer des Familienschweigens“ bezeichnen könnte. | |
Denn zu Beginn eines jeden Kapitels stehen eigene Kindheits- oder | |
Jugenderinnerungen der Ich-Erzählerin, etwa an ihre seltsam abwesenden | |
Eltern oder den Kommandoton ihrer Großmutter Marie. Von diesen | |
autobiografischen Verankerungen aus erfolgt dann das immer neue Eintauchen | |
in die Vergangenheit ihrer Vorfahren – unterstützt durch den Wechsel vom | |
Präteritum in die Gegenwartsform. Gleichsam als Scharniere, besser: Zunder | |
für die Imagination dient in jedem Kapitel die Beschreibung eines | |
Erbstücks, darunter Fotografien, Tagebücher oder Gegenstände. | |
Das vielleicht Bemerkenswerteste an diesem ebenso historisch lehrreichen | |
wie bewegenden Roman wird einem erst spät bewusst: dass man am Ende gar | |
nicht weiß, wer hier eigentlich exotischer ist, die Papuas, die christliche | |
Versatzstücke umgehend in ihr animistisches Weltbild integrieren, oder die | |
Missionar:innen, die überall „Anfechtungen“ wittern, stolz darauf sind, | |
wenn die Kokospalmen endlich „in Reih und Glied“ wachsen, und nie | |
vergessen, auch im Dschungel den Sonntagsnachmittagskaffee genauso | |
gewissenhaft zu zelebrieren wie den Gottesdienst. | |
30 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Oliver Pfohlmann | |
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