| # taz.de -- Neuer Roman von Robin Robertson: Endlich Kalifornien | |
| > „Wie man langsamer verliert“ von Robin Robertson ist ein emphatischer | |
| > Großstadtroman. Ein vom Krieg Traumatisierter wandert durch Los Angeles. | |
| Bild: Los Angeles, Angels Flight und der 3rd Street Tunnel, mit Blick nach West… | |
| Von New York nach Los Angeles, von Los Angeles nach San Francisco und | |
| wieder zurück, es sind die später vierziger und die erste Hälfe der | |
| fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Und allein schon anlässlich | |
| der kurzen Schilderungen der einzelnen Fahrten, die Robin Robertsons | |
| fantastisches Epos „Wie man langsamer verliert“ strukturieren, möchte man | |
| schwelgen und schwärmen. | |
| Von Manhattan nach Kalifornien geht es mit dem „Golden State“, dem „silbe… | |
| roten Stromlinienzug“: „Langsam wichen Kakteen Palmen, als sie den Colorado | |
| bei Yuma / kreuzten, und dann kam, endlich, Kalifornien: mit Kurs Nordwest | |
| / und Bergen auf der einen Seite, auf der andern einem See, / gleißend wie | |
| ein Kettenhemd. Er sah schärfer hin –“ | |
| Endlich Kalifornien! Die Versbegrenzungen zeigen es an: Dieser Roman ist | |
| über weite Strecken als Langgedicht geschrieben, ein epischer Fluss aus | |
| Schlaglichtern auf einzelnen Beobachtungen, im Ganzen gut lesbar, kurze, | |
| kursiv gesetzte erzählerische Passagen sind in ihn eingefügt, | |
| Tagebucheinträge ebenso. | |
| [1][Von Los Angeles nach San Francisco] fährt Walker, so heißt die | |
| Hauptfigur, später per Autostopp den Highway 1 entlang, die legendäre | |
| Küstenstraße. Ed (von dem wir dann nie wieder etwas lesen werden) nimmt ihn | |
| mit: „Eine halbe Stunde später auf der Strecke, um Point Sur herum, / | |
| bremste Ed hart auf dem Randstreifen ab und warf die Tür auf. /,Blauwale!', | |
| schrie er,ein Paar …' / Sie standen dann bloß am Klippenrand, / und | |
| schauten so scharf hin, dass ihnen die Tränen kamen. / Wischten sich | |
| lachend die Augen, Seite an Seite.“ | |
| Es ist kein Zufall, dass auch an dieser Stelle das scharfe Hinschauen | |
| thematisiert wird. Das ist auch bei den Szenen, in denen Walker einfach | |
| durch die Straßen läuft, so. „Wie man langsamer verliert“ ist ein teilwei… | |
| wie losgelassener, dabei hochkontrollierter und immer wieder | |
| überraschender Roman über die Wahrnehmung von Großstädten, ihrer | |
| Lichtwechsel, ihres Lärms, ihrer Gerüche. Nein, nicht von Großstädten, | |
| sondern von der jeweils einzelnen, konkreten Stadt, wobei New York, Los | |
| Angeles und San Francisco in dieser Zeit die Hauptstädte des 20. | |
| Jahrhunderts waren. | |
| ## Bunker Hill | |
| Bei diesem Beobachtungsstrom kommen stets zwei unterschiedliche Linien | |
| zusammen und erzeugen dabei Spannung. Zum einen werden die Innenstädte, | |
| Bunker Hill in Los Angeles, die Hafengegend in San Francisco, mit einer | |
| Dringlichkeit geschildert wie zum ersten Mal erlebt. Zum anderen kennt auch | |
| Walker viele Schauplätze schon, bevor er sie betreten hat: Er hat sie im | |
| Kino gesehen. | |
| Auch das wird direkt thematisiert. Filmszenen aus „Criss Cross“, „Kiss Me | |
| Deadly“, „D.O.A.“, „The Lady from Shanghai“ legen sich auf die realen | |
| Eindrücke, die Film-Noir-Zeit. Das ist eine Amerika-Erfahrung, die beim | |
| heutigen Leser und der Leserin Vorwissen abruft. Wie die Straßen und die | |
| Häuser aussehen, wie die Menschen reagieren, weiß man immer schon aus den | |
| Medien, bevor man überhaupt dagewesen ist. | |
| Zwei Gegenorte zur Großstadt gibt es in dem Buch, sie tauchen zwischendurch | |
| immer wieder in Erinnerungen auf: der geruhsame kanadische Fischerort, aus | |
| dem Walker stammt, und die Front in der Normandie, von der er traumatisiert | |
| aus dem Krieg in die USA zurückgekommen ist. Und natürlich gibt es in die | |
| Heimat kein Zurück, und ebenso natürlich lässt Walker der Krieg nicht los. | |
| ## Die Autobahn wie ein Lavafaden | |
| Von San Francisco nach Los Angeles zurück geht es schließlich mit dem | |
| Flugzeug. Dass Robin Robertson also drei verschiedene Fortbewegungsarten | |
| beschreibt, Zug, Auto, Flieger, sagt viel darüber aus, wie sorgfältig | |
| dieser Roman konstruiert ist. „The Long Take“ heißt er im Original (der | |
| deutsche Titel leitet sich vom Untertitel „A Way to Lose More Slowly“ her). | |
| Tatsächlich wie in einer langen Filmeinstellung folgen wir den | |
| Wahrnehmungen der Hauptfigur, doch hat das eben nichts Gleichförmiges. | |
| Unterschiedliche Perspektiven, städtebauliche und gesellschaftliche | |
| Entwicklungen sind eingebaut: „Von oben betrachtet / war die Stadt ein Netz | |
| aus heißen, roten Drähten / wie ein Grill; / eine Geometrie | |
| rechtwinkeliger, paralleler Linien / auf einen Fluchtpunkt zu. / Die | |
| Scheinwerfer auf der Autobahn: / ein Lavafaden durch die Hollywood Hills.“ | |
| Die Figur des einsam durch die Großstadt streifenden Veteranen hat | |
| eigentlich etwas längst Abgenudeltes (ich habe da zum Beispiel schnell Iggy | |
| Pops „Passenger“ im Ohr: „He sees the city’s ripped backsides and he ri… | |
| and he ride“). Doch Robin Robertson verleiht dieser Figur Dringlichkeit und | |
| Vitalität. Das liegt an der Schönheit und Genauigkeit dieser | |
| Beschreibungen, in denen Robertson die Eindrücke nie breit ausmalt, sondern | |
| eher aufblitzen lässt wie Einschläge. | |
| ## Schuss, Gegenschuss, Jump Cut | |
| Schuss, Gegenschuss, Jump Cuts, Schlaglichter von der Seite. Der Text nimmt | |
| einen mit in einen vorm inneren Auge ablaufenden Film. Zugleich beglaubigen | |
| die wie Überfälle auf die Hauptfigur einschlagenden Beobachtungen ihre | |
| Traumatisierung. | |
| Es liegt auch daran, dass Robertson die Figur so stark mit Realitäten | |
| auflädt, dass das Buch gleich in doppelter Hinsicht als historischer Roman | |
| funktioniert. Er erzählt vom Umbau von Los Angeles zur ausgreifenden | |
| Autometropole. Unter hohem Einsatz von [2][Korruption] und | |
| [3][Polizeibrutalität] werden gewachsene Innenstadtbereiche abgerissen, | |
| Stadtautobahnen ohne Maß werden gebaut, während zeitgleich ganze | |
| Straßenzüge von Obdachlosen bevölkert werden. | |
| Und zugleich erzählt der Roman, wie der Film Noir entstand. Der | |
| Expressionismus der deutschen Exilanten traf in Kalifornien auf den | |
| amerikanischen Traum und wurde, angetrieben durch Kriegstraumatisierungen, | |
| zusammengeschmolzen zu Bildern von zynischen, mit harten Onelinern | |
| gepanzerten Männern mit Pistolen in der Hand und Frauen, die sich in einer | |
| Rüstung aus Desillusioniertheit und sorgfältigen Frisuren versteckten. | |
| ## Die Rettung | |
| Die den Roman bevölkernden männlichen und weiblichen Nebenfiguren sind | |
| unbedingt längst historisch geworden, doch „Wie man langsamer verliert“ | |
| versetzt einen an den historischen Punkt, an dem – ausgespuckt aus der | |
| Maschinerie des Krieges, hineingeworfen in die galoppierende | |
| Gentrifizierung – hardboiled zu sein die einzig mögliche Rettung versprach. | |
| Robin Robertson ist in der englischsprachigen Literaturwelt ein bekannter | |
| Name, nicht nur als Autor vor allem von Lyrik, sondern fast noch mehr als | |
| Verleger und Lektor. 1993 brachte er [4][„Trainspotting“ von Irvine Welsh] | |
| heraus. Die Karriere solcher Autor*innengrößen wie A. L. Kennedy, Anne | |
| Enright, John Burnside sind mit ihm verbunden. | |
| Der 1955 geborene Schotte steht dabei für einen überaus emphatischen | |
| Literaturbegriff. „Ich will überrascht werden. Ich will die Wörter nie | |
| zuvor in dieser Form gesehen haben. Ich suche nach etwas Fremdartigen, | |
| einer Art elektrischer Spannung, sowohl in meinen eigenen Sachen als auch | |
| in denen von anderen“, zitierte ihn die FAZ vor einigen Wochen in einem | |
| schönen Porträt. | |
| ## Die Erregung, der Glamour | |
| Sozusagen im Maschinenraum seines aktuellen Buches vibrieren eigene | |
| Erfahrungen, man liest sie heraus (und projiziert eigene hinein), so viele | |
| historische Kulissen Robertson auch vor sie geschoben hat. In dem Porträt | |
| berichtet Robertson von den ambivalenten Erfahrungen seines eigenen Umzugs | |
| von Schottland nach London. Da gab es „die Erregung, den Glamour. Aber auch | |
| das Gefühl der Isolation und den Schrecken darüber, in einer derart großen | |
| Stadt allein zu sein“. Nur hatte er keine Lust, über das ihm inzwischen | |
| „allzu vertraute“ London zu schreiben, und verlegte die Handlung ins | |
| Kalifornien der Nachkriegszeit. | |
| Zum Glück. Was herausgekommen ist, ist toll. Man kennt das alles schon und | |
| liest es doch wie zum ersten Mal. Man sieht den historischen Abstand und | |
| spürt doch die Auswirkungen bis heute. Man empört sich über die | |
| gesellschaftlichen Zustände und lässt sich doch auch in die dunkle Romantik | |
| der einsamen Nächte und wie aus den Augenrändern beobachteten Mitmenschen, | |
| der Straßenecken und Tresenszenen fallen. | |
| Im letzten Viertel verändert sich der sprachliche Atem. Robertson lässt den | |
| einzelnen angerissenen Szenen weniger Raum und die Wahrnehmungen als Klimax | |
| auf eine Parallelisierung von schlimmen Kriegserlebnissen (die Landung in | |
| der Normandie sowie ein von einer Einheit der Waffen-SS ausgeübtes Massaker | |
| an Kriegsgefangenen stehen im Zentrum) und dem Abriss der alten Innenstadt | |
| von Los Angeles zulaufen. | |
| Das hätte es gar nicht gebraucht. An diesen Stellen schimmert so etwas wie | |
| gewollte Dramaturgie durch. Doch das ändert nichts mehr an der Intensität, | |
| mit denen einen dieses Sprachkunstwerk aus Härte und Schönheit erwischen | |
| kann. | |
| 27 Jun 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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