# taz.de -- Indigene in Kanada: Die Kinder aus der Backsteinschule | |
> Kanadas Premier Trudeau ist erschüttert über die jüngsten Leichenfunde in | |
> früheren Indigenen-Internaten. Die Ex-Schüler wissen davon schon immer. | |
Bild: Auf dem Gelände dieses früheren Indigenen-Internats wurden die Überres… | |
CRANBROOK taz | Seit in der vergangenen Woche die [1][Überreste von 215 | |
Kindern] auf dem Gelände eines ehemaligen Internats für Kinder von | |
Ureinwohnern entdeckt wurden, ist das Thema wieder da. Premierminister | |
Justin Trudeau zeigt sich erschüttert und kündigt „konkrete Schritte“ zur | |
Unterstützung der indigenen Bevölkerung an. Das Abtragen von weiteren | |
Schulfriedhöfen in Kanada, wie es von vielen gefordert wurde, sei „ein | |
wichtiger Schritt, um die Wahrheit zu erkunden“, sagte Trudeau am Montag | |
und sicherte den indigenen Gemeinschaften Unterstützung zu, „während wir | |
das Ausmaß dieses Traumas aufdecken“. | |
„Das tragische Erbe der Internate ist noch heute präsent“, sagte Trudeau. | |
Für Gordie Sebastien war das noch nie anders. Er wird seinen ersten | |
Schultag nie vergessen. Sebastien ist fünf Jahre alt, als ihn seine | |
Großmutter vor einem hohen Eisentor absetzt. Ein letzter Gruß, ein letztes | |
Händedrücken, eine kurze Umarmung, dann verschwindet Sebastien in einem | |
mächtigen Backsteinbau mit einem Glockenturm und einem Kreuz auf dem Dach. | |
Drinnen muss er sich splitternackt ausziehen. Dann schert ein Helfer sein | |
dunkelblondes Haar und überschüttet ihn mit Desinfektionsmittel. Sebastien | |
ruft nach seiner Oma. Die aber darf nicht zu ihm. | |
## Die indigene Kultur und Sprache sollte genommen werden | |
Über ein halbes Jahrhundert ist das her, aber Sebastien schildert es so | |
lebhaft, als sei es gestern gewesen: „Es war so entwürdigend. Vom ersten | |
Tag an haben sie uns systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt.“ | |
Sebastien gehört zum Volk der Ktunaxa, einem indigenen Volk aus Kanada. Von | |
1957 bis 1968 mußte er ein spezielles Internat für Ureinwohner besuchen, | |
wie viele indigene Kinder zu dieser Zeit. Die „St. Eugene Mission | |
Residential School“ im St. Mary's Reservat in Britisch-Kolumbien war ein | |
solches: Betrieben von der Kirche, eingerichtet und finanziert vom Staat. | |
In „Residential Schools“ wurde den Ureinwohnern nicht nur das Lesen und | |
Rechnen gelehrt. Den Kindern sollte dort auch früh ihre indigene Kultur und | |
Sprache genommen werden, um sie in die weiße Gesellschaft zu assimilieren. | |
Über ein Jahrhundert lang war das in Kanada gängige Praxis. Das letzte | |
Indigenen-Internat schloß 1996. Etwa 150.000 Schüler mussten die Klassen | |
besuchen, etwa 60.000 sind noch am Leben. | |
Gordie Sebastien ist einer von ihnen. Er ist heute über sechzig und steht | |
wie einst vor dem Eisentor zum Schulgelände. Er trägt eine Baseballmütze, | |
eine Fleecejacke und eine Jeans. Seine ehemalige Schule wurde 1970 | |
geschlossen, das Gebäude aber steht noch. | |
## Auf ein Lachen folgten Prügel des Lehrers | |
Viele Jahrzehnte lang kam es in der Backsteinschule zu schlimmen Szenen: | |
körperlicher und seelischer Gewalt, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, | |
Todesfällen gar. Als Sebastien darüber erzählt, stockt ihm immer wieder | |
seine Stimme. Trotzdem schildert er das Geschehene offen. Manches davon hat | |
er selbst erlebt, manches beobachtet. Manchmal bleibt es unklar. | |
Sebastien war neun Jahre alt, als er im Unterricht einmal lachen musste. | |
Ein Versehen nur, doch es hatte Folgen. Ein Lehrer verprügelte ihn mit | |
einem Lederriemen. Später wurde er von einem Helfer die Treppe | |
heruntergestoßen. | |
„Man hat den Indianer gewaltsam aus mir herausgeprügelt“, meint Sebastien. | |
Die eigene Muttersprache war ihm untersagt. Kontakt zu den Eltern oder | |
Großeltern war unerwünscht. Sie durften ihre Kinder nur einmal im Monat | |
besuchen. | |
Am schlimmsten war die körperliche und seelische Gewalt. Ein Mitschüler | |
wurde einmal so sehr gezüchtigt, dass er zwei Wochen lang mit gebrochenen | |
Knochen im Bett liegen bleiben mußte. Erst als die Prellungen und | |
Blutergüße verheilt waren, durfte er ins Krankenhaus. Ein anderer wurde | |
zwei Tage lang nackt in einen Kleiderschrank gesperrt. | |
## Über 6.000 Kinder starben in den Internaten | |
Sebastien erinnert sich auch an Vorfälle sexueller Gewalt. Ausführlich will | |
er nicht darüber sprechen. Nur so viel will er berichten: „Wir alle kannten | |
Opfer, Mädchen und Jungen. Manchmal sind wir stundenlang mit ihnen auf der | |
Treppe gesessen, um sie zu trösten. Mehr konnten wir nicht tun.“ | |
Auch Tote gab es. Laut Schätzungen starben in den Indigenen-Internaten | |
insgesamt mehr als 6.000 Kinder, die meisten von ihnen an Krankheiten wie | |
Tuberkulose. Manche starben auch an den Folgen der Gewalt, Fehlernährung | |
oder Einsamkeit und wurden zum Teil anonym in Gräbern auf dem Schulgelände | |
verscharrt. | |
Nicht wenige Opfer, die überlebten, nahmen sie sich später aus Scham und | |
Angst das Leben. „Jeden Tag wurde uns eingehämmert, wie schlecht wir sind, | |
und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt“, sagt Sebastien. | |
Eine staatliche Wahrheits- und Versöhnungskommission hat die Vorfälle | |
dokumentiert und Treffen organisiert, bei denen Opfer das Erlebte schildern | |
können. In ihrem Abschlussbericht 2015 nannte die Kommission die Vorfälle | |
„kulturellen Völkermord“. Die Regierung hat sich offiziell entschuldigt und | |
Entschädigungen gezahlt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert. Trotzdem | |
gibt es in den meisten indigenen Gemeinden bis heute mehr Selbstmorde, | |
kriminelle Vorfälle und Drogenprobleme als im Rest Kanadas. | |
## Die Schule von einst ist heute ein Hotel | |
Auch im St.-Mary's-Reservat haben sie lange diskutiert, wie es weitergehen | |
soll, vor allem mit dem alten Schulgebäude. Irgendwann hatte es der Staat | |
in die Obhut der Ktunaxa übergeben und lange stellten sie sich die Frage: | |
Wie sollten sie umgehen mit dem Ort der Schande? | |
Die Frage hat auch Sophie Pierre umgetrieben. Pierre war neun Jahre lang | |
Schülerin im Internat und wurde später Häuptling ihres Stamms. Heute ist | |
sie über siebzig. Pierre schließt das Gebäude auf und sagt: „Viele von uns | |
wollten das Gebäude abreißen. Wir wollten den Schmerz tilgen, ein für alle | |
Mal. Am Ende aber haben wir uns entschieden, es doch stehen zu lassen.“ | |
Als Pierre die Türe öffnet, eilt drinnen gerade eine Kellnerin über den | |
Gang. An einer Rezeption steht eine Frau und sortiert Karteikarten. An den | |
Backsteinwänden hängen sauber gerahmte Schwarzweiß-Fotos von einst: | |
Indigene Kinder bei der Osterprozession, beim Schulsport, in Schuluniform. | |
Aus der Schule von einst ist ein Hotel geworden. Die Schlafsäle von früher | |
sind heute Gästezimmer. Die Kapelle mit dem Kirchenfenster ist ein | |
Bankettsaal. Wo einst indigene Kinder verprügelt und vergewaltigt wurden, | |
erholten sich heute Touristen. Pierre erzählt, dass ihr Volk zwei Jahre | |
lang darüber diskutiert hat, erst dann war der Konsens da. „Man kann die | |
Erinnerung nicht einfach abreißen“, ist sie überzeugt. | |
Nebenbei haben in dem Hotel 50 Angehörige der Ktunaxa einen Job gefunden. | |
Auch Gordie Sebastien, der hier einst seine dunkelblonden Haare lassen | |
mußte. Er arbeitet heute als Nachtwächter und sagt, das Hotel helfe ihm auf | |
seinem Weg der Heilung. „Es fällt mir leichter, die schlimme Vergangenheit | |
zu verkraften, wenn ich weiß, dass das Gebäude erhalten und die Geschichte | |
der Internate somit nicht vergessen wird.“ | |
Es ist neun Uhr abends und Sebastien geht auf seinen Kontrollgang. „Ich bin | |
stolz, dass wir hier etwas Schreckliches in etwas Schönes verwandelt | |
haben“, sagt er. In der Lobby hängt ein Messingschild, darauf das Motto des | |
Stamms: „In diesem Gebäude wurde uns unsere Kultur geraubt. Nur in diesem | |
Gebäude können wir sie zurückerlangen.“ | |
1 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jörg Michel | |
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