# taz.de -- Lehrerin in der kanadischen Arktis: Mathe lernen, Wale jagen | |
> Maggie MacDonnell will junge Inuit aus dem Teufelskreis von Armut und | |
> Gewalt befreien – die Suizidrate ist elf Mal höher als im kanadischen | |
> Durchschnitt. | |
Bild: Zwei Inuit-Jungs in Kanada | |
Vancouver taz | Die kleine Gemeinde Salluit ist ein entlegener Ort im | |
arktischen Norden von Kanada. Eine befestigte Straße dorthin gibt es nicht, | |
nur eine Flugpiste aus Schotter mitten in der Tundra. Wenn der Nebel über | |
der Bucht hängt oder ein Schneesturm tobt, gibt es oftmals tagelang keinen | |
Weg rein und keinen Weg raus aus Salluit. | |
Das Leben der rund 1.400 EinwohnerInnen ist hart. Die Temperaturen fallen | |
im Winter regelmäßig auf minus 25 Grad. Viele Familien leben | |
zusammengedrängt in kleinen Holzhäusern oder Containern. Weil es nicht | |
genügend Betten gibt, schlafen manche Kinder auf dem Küchentisch. Die | |
Selbstmordraten unter Jugendlichen sind bis zu elf Mal höher als im | |
kanadischen Durchschnitt. | |
„Meine SchülerInnen sind oft traumatisiert. Wenn sie morgens ins | |
Klassenzimmer kommen, sind also erst mal Entspannungsübungen angesagt“, | |
sagt Maggie MacDonnell, die als Lehrerin in der Arktis arbeitet, unlängst | |
auch in Salluit. Viele ihrer Schützlinge finden nachts kaum Schlaf – sei es | |
aus Mangel an einem Bett oder weil sie mit den Folgen von Missbrauch und | |
Drogenproblemen konfrontiert werden. | |
Das will MacDonnell ändern. Die 36-Jährige kämpft für die Zukunft der | |
jungen Menschen in der Arktis – und wurde dafür mit dem „Global Teacher | |
Prize“ als beste Lehrerin der Welt prämiert. Der Preis ist mit einer | |
Million Dollar dotiert. Seit drei Jahren wird er von der in Dubai | |
ansässigen gemeinnützigen Stiftung des indischen Geschäftsmanns und | |
Philanthropen Sunney Varkey vergeben. Er gilt als eine Art Nobelpreis für | |
den LehrerInnenberuf. Letztes Jahr wurde die palästinensische Lehrerin | |
Hanan al-Hroub für ihr Engagement gegen Gewalt ausgezeichnet. | |
## Sie ist ein Vorbild im Dorf | |
Die diesjährige Gewinnerin MacDonnell stammt aus der ostkanadischen Provinz | |
Nova Scotia und hat lange in Botswana, Tansania und im Kongo als Lehrerin | |
gearbeitet. Die Jury hat sie unter 20.000 BewerberInnen aus 179 Ländern | |
ausgewählt. „Maggie MacDonnell hat das Leben ihrer SchülerInnen verbessert | |
und die ganze Gemeinde positiv beeinflusst“, begründete die Jury. | |
MacDonnell habe es trotz der schwierigen sozialen Bedingungen in der Arktis | |
geschafft, ihren SchülerInnen neue Motivation und Selbstbewusstsein zu | |
vermitteln. | |
Vor sechs Jahren kam MacDonnell in die Arktis. Wie viele LehrerInnen aus | |
dem Süden musste sie als Außenstehende darum kämpfen, von der Gemeinschaft | |
akzeptiert zu werden. „Das hat lange gedauert. Doch durch meine Arbeit in | |
Afrika habe ich gelernt, sensibel mit kulturellen Traditionen vor Ort | |
umzugehen. | |
Für MacDonnell fängt das schon morgens bei der Anwesenheitsliste an. Taucht | |
in der Bucht ein Wal auf, dürfen ihre SchülerInnen selbstverständlich auf | |
die Jagd gehen. Wollen sie mit einem Dorfältesten ein Problem besprechen, | |
geht auch das. Ganz ohne Eintrag ins Klassenbuch. „Wir sind glücklich, dass | |
Maggie zu uns gekommen ist. Sie ist ein Vorbild für das ganze Dorf“, sagt | |
die Dorfälteste Annie Alaku. | |
MacDonnells Erfolgsmodell: Ihr Unterricht in der Arktis ist sehr viel | |
stärker auf praktische Problemlösungen ausgerichtet, als dies im Süden | |
Kanadas der Fall wäre. Manchmal geht sie mit ihren SchülerInnen Jagen und | |
Fischen oder lädt Dorfälteste in die Schule ein. Damit sollen die | |
Jugendlichen lernen, wieder stärker an die kulturellen Traditionen ihrer | |
Eltern anzuknüpfen. Sie ist überzeugt: „Die soziale Misere in der Arktis | |
hat auch viel mit der Suche nach einer eigenen kulturellen Identität zu | |
tun.“ | |
## Fitness-Drink durch Muskelkraft | |
Tatsächlich leiden viele Inuit-Familien noch immer an der kulturellen | |
Entwurzelung, die vor allem weiße MissionarInnen seit der Kolonialzeit zu | |
verantworten haben. Zwischen 1883 und 1996 mussten rund 150.000 indigene | |
Kinder Internate besuchen, in denen ihre Sprachen und Traditionen verboten | |
waren. Eine von der Regierung beauftragte Wahrheits- und | |
Versöhnungskommission hatte kürzlich die dortigen Zustände dokumentiert: | |
Sexuelle Übergriffe und Gewalt waren oft an der Tagesordnung. So entstand | |
ein Teufelskreis aus Schuld, Gewalt und Gegengewalt, der bis heute | |
nachwirkt. | |
Auch teure Lebensmittelpreise, Fehlernährung und mangelnde Bewegung sind im | |
hohen Norden ein großes Problem. Also startete MacDonnell ein | |
Schulessen-Programm und ein Fitnessstudio, das größte in der Region. Unter | |
anderem kaufte sie ein Fitnessfahrrad mit Generator. Diesen verband sie mit | |
einem elektrischen Quirl. So können sich ihre SchülerInnen mit Hilfe ihrer | |
eigenen Muskeln einen Fitnessdrink mixen – und gleichzeitig ihre Kondition | |
trainieren. Ein von ihr gegründeter Joggingklub war so erfolgreich, dass | |
es ihre SchülerInnen bis zu einem Halbmarathon-Wettbewerb nach Hawaii | |
schafften. | |
„In der Arktis muss man kreativ sein und so mancher pädagogische Leitsatz | |
passt nicht immer. Die Rolle einer Lehrerin ist hier oft sehr viel | |
umfassender, als das in Toronto oder Montréal der Fall wäre“, meint | |
MacDonnell. Sie wirkt sportlich, resolut und unerschrocken. Zusammen mit | |
ihrem tansanischen Mann hat sie seit ihrer Ankunft sieben Pflegekinder | |
temporär bei sich zu Hause aufgenommen, manche für ein paar Tage, manche | |
auch länger. | |
Auch damit knüpft MacDonnell in weitesten Sinne an kulturelle Traditionen | |
an. Unter den Inuit war es bis zur Ankunft der Weißen durchaus üblich, dass | |
Eltern, die ihre Kinder nicht ernähren konnten, diese zur Erziehung anderen | |
Familien anvertrauten. In Kanada ist das so heute zwar nicht mehr erlaubt, | |
in der Arktis wird es aber weitgehend toleriert. Familienverbände sind oft | |
fließend. | |
## Rückbesinnung auf alte Traditionen | |
Für viele ihrer SchülerInnen ist MacDonnell über die Jahre zu mehr als nur | |
einer Lehrerin geworden. „Zuerst war Maggie meine Lehrerin, mein Coach und | |
meine Fitnesstrainerin. Jetzt ist sie für mich Familie“, erzählt Larry | |
Tomasai, ein Schüler aus ihrem Joggingklub. „Ich bin so unendlich dankbar | |
dafür, was sie für mich getan hat, für meine Familie und für mein Dorf.“ | |
Manche von MacDonnells SchülerInnen haben es weit gebracht. Drei durften | |
sie zur Preisverleihung in Dubai begleiten. Einer ist mittlerweile Musiker | |
und hat gerade seine erste Platte aufgenommen. Eine andere lernt im College | |
Zahnarzthelferin, als erste Inuk aus Salluit, die das je geschafft hat. In | |
solchen Momenten ist Maggie MacDonnell stolz – und weiß, für wen sie den | |
Preis gewonnen hat. | |
Mittlerweile unterrichtet sie in Kuujjuak, einem anderen Ort im selben | |
Schuldistrikt. Sie ist befördert worden und soll die Programme, die in | |
Salluit so erfolgreich waren, im Auftrag der Schulverwaltung in der ganzen | |
Region umsetzen. | |
Mit dem Preisgeld von einer Millionen Dollar will MacDonnell jetzt eine | |
Stiftung gründen. Ziel der Organisation soll es sein, die traditionelle | |
Verbundenheit der Inuit zur Natur zu pflegen und Kajaks für die | |
Dorfgemeinschaft anzuschaffen. Die Boote gehörten neben den Hundeschlitten | |
einst zu den wichtigsten Fortbewegungsmitteln in der Arktis, werden von | |
vielen jungen Inuit heute aber kaum noch benutzt. Daran will MacDonnell | |
arbeiten. Sie ist überzeugt, eine Rückbesinnung auf alte Traditionen kann | |
den jungen Menschen im Norden Kanadas helfen, einen Weg in die Zukunft zu | |
finden. | |
3 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Jörg Michel | |
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