Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Inuit-Aktivistin über Klimawandel: „Für ein Recht auf Kälte“
> In der Arktis fängt der Schnee später an zu fallen. Sheila Watt-Cloutier
> über eine untergegangene Kultur und das sich verändernde Eis in ihrer
> Heimat Kanada.
Bild: Arktisches Wasser von oben.
taz: Frau Watt-Cloutier , die Arktis erwärmt sich sehr schnell. Haben Sie
Angst, Ihre Heimat zu verlieren?
Sheila Watt-Cloutier: Ja. Aber wir lassen nicht zu, dass diese Angst der
Mittelpunkt unseres Lebens wird. Es gibt schon genug unmittelbare,
alltägliche Probleme, mit denen wir seit Langem konfrontiert werden.
Während meines Lebens hat es sehr stürmische Veränderungen gegeben, die den
Zusammenbruch der Inuit-Gesellschaft beeinflusst haben.
Hatte das schon etwas mit dem Klimawandel zu tun?
Noch nicht. Der Klimawandel trifft eine ohnehin schon sehr verletzte
Gemeinschaft. Wenn Sie mich das kurz erklären lassen. Ich glaube, es ist
wichtig, die Hintergründe zu kennen.
Bitte!
Ich bin im Eis geboren worden und habe dort die ersten zehn Jahre meines
Lebens verbracht. Wir haben uns nur mit dem Hundeschlitten fortbewegt. Ich
konnte kein Englisch, bis ich in die Schule kam. Ich bin sehr traditionell
aufgewachsen.
Wie war Ihre Familie?
Meine Großmutter und ihre Kinder sind von ihrem weißen Vater verlassen
worden. Stellen Sie sich eine sehr kleine Handelsstation im Hudson Bay vor.
Nur wenn die Inuit ihre Felle verkauften, kam jemand da hin. Sie wurden von
globalen Handelsgeschäften, vom globalen Fellmarkt gezwungen, Fallensteller
zu werden, um diesen Markt zu bedienen – bis er zusammenbrach.
Sprechen Sie noch Ihre Sprache?
Ich habe sie verlernt, als ich jung war, als ich fortgeschickt wurde. Aber
ich habe sie wieder zurückgewonnen. Meine Muttersprache ist immer noch
Inuktitut. In der Gegend, aus der ich stamme, ist die Sprache noch sehr
lebendig. Aber wir durften sie lange nicht sprechen. Die Idee dahinter war,
Inuit zu erzeugen, welche die Welt da draußen akzeptieren. Wir sollten
unsere Kultur und unsere Sprache hinter uns lassen. Die Verletzungen sitzen
tief.
Gibt es Inuit, die immer noch auf die traditionelle Art und Weise leben?
Unsere Männer können immer noch Iglus bauen. Wir sind ein Volk von Jägern,
Fischern und Sammlern. Auch wenn sie heute normalerweise Lohnarbeiter sind,
nutzen vor allem die Männer jede Gelegenheit, um zu jagen. Mein Bruder ist
ein sehr fähiger Politiker in der kanadischen Regierung, aber sobald er zu
Hause ist, geht er jagen. Das ist immer noch unser Leben.
Ein Teil der Umweltbewegung sagt, Sie sollen aufhören, Tiere zu essen. Wie
lässt sich dieser Konflikt auflösen?
Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, diejenigen zu überzeugen, die sich
nicht davon überzeugen lassen wollen, dass es eine andere Lebensart gibt.
Menschen sehen Tiere als schutzbedürftig an. Wir sehen das Verzehren von
Tieren als eine spirituelle Erfahrung. Versuchen Sie mal nur Gemüse zu
essen in der Arktis, bei Temperaturen von bis zu minus 50 Grad.
Warum nicht?
Wir essen Meeressäugetiere, um uns warm zu halten. Sie halten unsere Körper
gesund. Wenn Tierschützer extrem sind, haben sie oft die Tendenz, sehr
spezifisch zu sein. Dann schützen sie eben nur knuddelige Robben. Wenn ein
Fischerboot mit Tonnen voller Sardinen einläuft, verziehen sie keine Miene.
Denken Sie manchmal, es wäre besser, noch immer auf dem Eis zu leben?
Wir wollen nicht für den Rest unseres Lebens in einem Museum ausgestellt
werden. Wir sind sehr anpassungsfähig. Manch einer behauptet vielleicht,
dass wir Probleme haben, weil wir uns nicht in der modernen Welt
zurechtfinden. Aber mir geht es nicht darum, das eine Leben gegen das
andere einzutauschen. Es geht darum, eine Lebensart aufrechtzuerhalten, die
sehr nachhaltig ist, sehr weise in einer Welt, in der alle Verbindungen
zueinander verloren gegangen sind.
Zurück zum Klimawandel. Was macht die Erderwärmung mit Ihren Gemeinden?
Wir haben die Veränderungen die letzten 15 Jahre beobachten können. Zum
einen sind die Gifte in unserer Nahrungskette ein großes Thema.
Nebenprodukte von Industrien und Pestizide reichern sich in der Arktis an.
Wegen der Kälte können sie nicht in die Atmosphäre aufsteigen. Die
Muttermilch stillender Inuit-Frauen war in den 80ern so sehr mit Giften
belastet wie nirgendwo sonst auf der Welt. Mittlerweile gibt es das
Stockholmer Übereinkommen, das diese Gifte minimiert, aber es gibt immer
neue.
Und der Klimawandel?
Beides, Toxine und Klimawandel, gefährden das Überleben unserer Kultur.
Können Sie die Veränderungen sehen?
Der Schnee fängt viel später an zu fallen und das Eis bildet sich später,
im Frühling schmilzt es früher. Und das Eis bildet sich anders. Die Jäger
können es nicht mehr lesen. Unser traditionelles Wissen, das wir über
Jahrtausende gesammelt haben, stimmt plötzlich nicht mehr. Es gibt auch
neue Spezies. Verschiedene Wespen haben wir noch nie vorher gesehen. Es
gibt auf einmal Schleiereulen, bestimmte Fische, die in südlichere Teile
des kanadischen Meeres gehören. Lachse sind in den Norden vorgedrungen. In
Nunuvuk, wo ich die letzten 13, 14 Jahre gelebt habe, gibt es auf einmal
Rotkehlchen. Die Wälder breiten sich weiter nach Norden aus, weil der
Permafrost in der Erde zurückgeht.
Sie hoffen, das Thema Menschenrechte in das Klimaabkommen zu bekommen.
Warum?
Klimawandel ist ein Menschenrechtsthema. Wir in der Arktis haben ein Recht
auf unsere Kultur. Es geht um unser Recht, unsere Kinder zu erziehen, unser
Recht auf Gesundheit, unser Recht auf Sicherheit. All diese Rechte sind
schon verletzt worden. Deshalb sage ich: Wir verteidigen unser Recht auf
Kälte.
Zyniker könnten jetzt sagen: Was geht mich die Arktis an?
Was in der Arktis passiert, bleibt nicht in der Arktis. Das Eis, die
Gletscher, die grönländische Eisplatte – das ist das Kühlsystem für den
Rest unseres Planten. Wenn das zusammenbricht, betrifft es das ganze
System. Vor 15 Jahren haben wir gesagt, es ist nur eine Frage der Zeit. Die
Zeit ist gekommen. Es passiert jetzt.
Haben Sie Zugang zu Entscheidungsträgern?
Wir haben eine Delegation von Inuit in Paris, die auch Teil der kanadischen
Delegation ist. Die Rechte der indigenen Völker gehören in den
verbindlichen Teil der Abkommens. Das hat auch Einfluss auf die
Menschenrechte aller auf der Welt. Die Leute scheinen diesen Zusammenhang
nicht zu begreifen. Sie denken: Mein Gott, wenn wir ihnen ihre
Menschenrechte geben, dann werden sie uns verklagen – anstatt das große
Ganze zu sehen.
Warum sollten die Indigenen speziell erwähnt werden? Menschenrechte gelten
doch für alle.
Ich spreche von den Indigenen und den verwundbaren Menschen dieser Welt.
Ich meine uns alle. Die Unterhändler müssen es schaffen, über ihre
bürokratische Rolle hinauszuschauen. Wenn die Arktis schmilzt, dann trifft
es auch die Niederlande, Lousiana, Florida, alle.
Bewegt sich denn auf dem Klimagipfel in dieser Hinsicht etwas?
Welchen anderen Ort gibt es denn, um unsere Probleme zu zeigen? Einen Ort,
der es schafft, die globale Gemeinschaft zusammenzubringen, um über
Klimawandel zu diskutieren. Wir versuchen es weiter.
Wir haben Paris, wir haben dieses Gespräch. Trotzdem fährt jeder mit seinem
Auto herum und konsumiert weiter.
Ja, ich fliege auch. Ich besitze ein Hybridauto. Dennoch – ich fahre Auto.
Wir als Individuen können Dinge bis zu einem bestimmten Punkt verändern,
aber es gibt gewisse Dinge, auf die wir uns verlassen müssen. Solange die
Industrie- und die Regierungsrichtlinien sich nicht in großem Umfang
verändern, werden wir keine wirkliche Senkung der Treibhausgasemissionen
sehen.
Glauben Sie an den grünen Kapitalismus, daran, dass große Firmen
Veränderung bewirken?
Der Ansatz der Inuit ist ein anderer. Wir sind nicht besonders dogmatisch.
Ich bin vielleicht nicht so angezogen, aber ich bin wie der Jäger, der
aufsteht, den Horizont beobachtet, die Bedingungen abwägt und dann weiß,
was zu tun ist. Ganz pragmatisch.
Ist es eine Tradition bei den Inuit, dass es starke Frauen gibt, die die
Gemeinschaft führen?
Bei uns hat sich die Rolle der Männer dramatisch verändert. Der
Zusammenbruch des Markts für Seehundfelle, die Schlachtung ihrer Hunde
durch die kanadische Regierung, das hat unseren Männern größte Verletzungen
zugefügt. An die neuen Lebensformen haben wir Frauen uns besser anpassen
können. Du wirst in gewisser Weise gezwungen, auf eine bestimmte Art zu
leben und Dinge anzugehen, so als ob du das Kleid von jemandem anderen
überziehst.
Nehmen Sie manchmal noch Ihre Hunde und fahren in die Wildnis?
Die Ironie meines Lebens ist, dass ich die letzten 15 Jahre zu beschäftigt
war. Aber wenn ich in Rente gehe, dann möchte ich zurück, meine Türe öffnen
und in der Natur sein.
10 Dec 2015
## AUTOREN
Ingo Arzt
## TAGS
Inuit
Arktis
Schwerpunkt Klimawandel
Indigene Kultur
Grönland
Frauen in Führungspositionen
Wetter
Schwerpunkt Klimawandel
Grüne
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimawandel
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Eisfuchs“ von Tanya Tagaq: Sie schlägt sich durch
Sängerin und Autorin Tagaq erzählt rotzig vom Aufwachsen in der kanadischen
Arktis. Von Missbrauch, Natur und surrealen Traumwelten.
Grönland entdecken: Endstation Eiskante
Im Osten verkauft ein Deutscher Briefmarken in alle Welt. Ein Inuit
verarbeitet das kulturelle Erbe in geschnitztes Walross-Elfenbein.
Klimakonferenz in Bonn: Stimmung gut, April warm
Hitzerekord, zu wenig Geld und eine Konferenzleiterin aus Saudi-Arabien.
Das ist die Realität der Klimadiplomatie, die sich in Bonn trifft.
Extreme Wetterphänomene: Nordpol drohen 50 Grad über normal
Das Wetter spielt verrückt: Dank Mega-Sturm könnte es am Nordpol zwischen
30 und 50 Grad wärmer werden als normal. Das wäre mehr als in
Süd-Kalifornien.
Aus „Le Monde diplomatique“: Die Erde im Kapitalozän
Ungleichheit und Umweltzerstörung haben dieselben Triebkräfte. Ihre
Veränderung wird von den Opfern des Hydrokarbon-Kapitalismus ausgehen.
Energiepolitik in Berlin: Die Hauptstadt, ein Klimasünder
In Berlin werde Klimapolitik zu oft noch als Last gesehen, kritisieren die
Grünen. Dabei könnte damit die Wirtschaft gefördert werden.
Indien gegen den Klimawandel: Delhi will Gerechtigkeit
Die indische Regierung fordert von den Industrieländern mehr Klimaschutz.
Dafür verspricht sie mehr Energieeffizienz.
Tuvalus Außenminister über Klimawandel: „Wer Tuvalu rettet, rettet die Welt…
Taukelina Finikaso, Außenminister des Inselstaats Tuvalu, sieht sein Land
vor dem Untergang. Er fordert ein Erderwärmungslimit von 1,5 Grad.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.