| # taz.de -- Neues Album von Tanya Tagaq: Die Wut, die in ihr wohnt | |
| > Die indigene Kanadierin Tanya Tagaq singt auf „Tongues“ über | |
| > Gewalterfahrungen. Ihr Album ist ein Gemisch aus Metal, Elektronik und | |
| > Kehlkopfgesang. | |
| Bild: Moral essen, Gedanken essen: Tanya Tgaq in Aktion | |
| Zunächst ertönen hohe, fanfarenartige Flötentöne; scheppernde Beckenschläge | |
| und grummelnde elektronische Basstöne folgen, ehe Tanya Tagaq mit dem für | |
| sie typischen Kehlkopfgesang ins Stück „Tongues“ einsteigt: hechelnd, | |
| röchelnd, fauchend. | |
| Dann spricht die kanadische Künstlerin mit heller Stimme die Worte: „They | |
| took our tongues / They tried to take our tongues / We lost our language/ | |
| And we didn’t Inuuvunga“. „Inuuvunga“ ist ein Slangausdruck in ihrer | |
| Muttersprache, der Sprache der Inuit. Übersetzt bedeutet er so viel wie: | |
| „Ich bin Inuk, ich lebe“. | |
| Wenn man den Hintergrund Tanya Tagaqs kennt, wird schnell klar, wovon der | |
| Titelsong und das kürzlich erschienene Album „Tongues“ handeln. Taqaq ist | |
| eine der prominentesten Künstlerinnen der kanadischen Inuit-Community, sie | |
| ist in Nunavut am Polarkreis aufgewachsen und hat das brutale | |
| Assimilierungsprogramm der Residential Schools, das vom 19. Jahrhundert bis | |
| in die 1990er Jahre hinein andauerte, noch am eigenen Leib erfahren. | |
| Sprache und Kultur der Inuit sollten ausgelöscht werden, Tausende wurden | |
| misshandelt, viele starben an den Schulen – die Aufarbeitung begann erst in | |
| den vergangenen Jahren. | |
| Die Wut, die in ihr wohnt, hört man Tagaq vor allem in ihrer | |
| Stimmartikulation an. Doch aus dieser spricht auch der Stolz einer | |
| Künstlerin, die jenes Schulregime hinter sich gelassen hat und sich | |
| offensiv damit auseinandersetzt: „You can’t take that from us / (…) You | |
| can’t have my tongue“, singt sie gegen Ende des Songs wieder und wieder. Es | |
| klingt fast triumphal. | |
| ## Eine speziell weibliche Tradition | |
| Bekannt geworden ist Tagaq mit einer Kulturtechnik, die unter Inuit | |
| verbreitet ist: dem Kehlkopfgesang. Die heute 46-Jährige begann als | |
| Jugendliche mit dieser Technik, sie studierte aber zunächst bildende Kunst | |
| am Nova Scotia College of Art and Design in Halifax und entwickelte ihren | |
| eigenen Sound, indem sie Elemente aus Metal, Hardcore und elektronischer | |
| Musik mit dem Throat Singing verband. Für ihr Album „Animism“ (2014) | |
| erhielt sie den Polaris Music Prize. 2018 veröffentlichte sie zudem ihr | |
| literarisches Debüt „Split Tooth“ (deutscher Titel: „Eisfuchs“). | |
| In den Songs auf „Tongues“ verwendet sie zum Teil Texte aus dem Erzählungs- | |
| und Lyrikband (etwa: „Teeth Agape“, „Earth Monster“). Die kanadischen u… | |
| grönländischen Inuit haben dabei eine spezielle (und speziell weibliche) | |
| Form des Throat Singing entwickelt, die sie „Katajjaq“ nennen. | |
| In der Tradition des Katajjaq sitzen sich üblicherweise zwei Sängerinnen | |
| gegenüber und kommunizieren über bauchige und kehlige Geräusche – diese | |
| Duette funktionieren wie musikalische Zwiegespräche, weniger wie Battle | |
| Rap. Dank Künstlerinnen wie Tagaq und einigen anderen wie | |
| [1][Katajjacoustic], die international in Erscheinung getreten sind, ist | |
| diese Tradition inzwischen wenigstens einer etwas größeren Öffentlichkeit | |
| bekannt. | |
| „Tongues“ ist ein Werk geworden, auf dem die Breite der | |
| Ausdrucksmöglichkeiten Tagaqs mehr als je zuvor zur Geltung kommt. | |
| Stilistisch stehen mehrere Arten elektronischer Sounds nebeneinander: | |
| „Colonizer“ ist metallisch und düster angehaucht, „Teeth Agape“ dagege… | |
| melodiös und klingt musikalisch fast wie eingängiger elektronischer Pop. | |
| „Do Not Fear Love“ klingt dann wieder experimenteller und blubbernder. | |
| Dass Tagaq die beiden experimentierfreudigen US-Musiker Saul Williams und | |
| Gonjasufi als Produzenten gewinnen konnte, hat ihrer Musik gutgetan – die | |
| stetig brodelnden und rumorenden Soundflächen hören sich toll an. | |
| Den Ton setzt das einleitende „In Me“, in dem man einen guten Eindruck | |
| davon bekommt, wie Tagaq ihre Stimme einsetzt: Mal flüstert sie den Text, | |
| dann klingt sie wie eine Death-Metal- oder Grindcore-Sängerin, dann | |
| rezitiert sie Lyrics im Spoken-Word-Duktus. Bei „In Me“ signalisiert die | |
| Künstlerin, dass es auf „Tongues“ unbequem zugeht. Die ersten | |
| herausgespuckten Worte sind: „Eat your morals“, „Eat your thoughts“ und | |
| „Eat your eyes“. Kurz darauf wiederholt sie einfach nur das Wort „Marrow�… | |
| es hört sich fast an wie ein Grunzen, die Musik setzt nun ganz aus. | |
| „Marrow“ bedeutet Mark – und markerschüttert ist auch Tagaqs Gesang. | |
| Das übergeordnete Thema, vielleicht ihr Lebensthema, ist dabei die | |
| Kolonisierung der Inuit und die Repression gegen diese durch Kanada im 20. | |
| Jahrhundert, das wird in Songs wie „Colonizer“ und im Titelstück sehr | |
| deutlich. Es geht um Gewalt, die von außen ausgeübt wurde, aber auch um | |
| Gewalt, die sich innerhalb der Inuit-Community abspielte und noch abspielt. | |
| So sind sexueller Missbrauch und Alkoholismus bis heute drängende Probleme | |
| in Nunavut. „I Forgive Me“ ist ein Song, der von solchen Traumata handelt | |
| („Take care of your children / They can’t protect themselves / We were | |
| taken too young / I was entered too young“). | |
| „Tongues“ erzählt wesentlich vom Überleben und vom Überwinden, vom | |
| Weiterleben und Weitermachen. Die Stimmlage und der Sound, den Tanya Tagaq | |
| dafür gefunden hat, sind ergreifend, berührend – und extrem ermutigend. | |
| 18 Feb 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=fPI2dXcn8Vw | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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