Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Politische Glossen: Samtpfötig ins Schwarze
> Der Berliner Feuilletonist Victor Auburtin schrieb in den 1920er Jahren
> Kolumnen, die den Zeitgeist erfassten – und ihn überdauerten.
Bild: Gebürtiger Berliner mit französischen Wurzeln: Victor Auburtin
Die Seitenlinie kennen wir aus Sport und Spektakel als den Ort, von dem aus
angewiesen, gebrüllt, hineingeschrien wird; von Trainern, von Betreuern,
von Fans. Im [1][Feuilleton] kann dieser Begriff aber auch die Grenze
markieren zwischen dem politisch-gesellschaftlichen Tagesgeschehen und dem
Außenstehenden, der versucht, dieses aus einer anderen Sichtweise zu
betrachten.
Der Kolumnist Victor Auburtin (1870 – 1928) war meisterhaft in dieser
Disziplin. Ein neuer Band trägt somit zu Recht den sperrig-schönen Titel:
„Der Feuilletonist greift in die Politik/ oder: Vergeblicher Versuch mit
der Schreibmaschine die schöne neue Zeit aufzuhalten/ Betrachtungen von der
Seitenlinie“.
Victor Auburtin, gebürtiger Berliner, stammte aus einer illustren
französischen Einwandererfamilie (sein Großvater war der Koch von Friedrich
Wilhelm III., seine Mutter und sein Vater Hofschauspieler), er schrieb im
frühen 20. Jahrhundert zunächst für den Simplicissimus und später für das
Berliner Tageblatt. Während er in den ersten zwei Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts in vielen verschiedenen europäischen Ländern arbeitete,
verlegte er seinen Lebensmittelpunkt Anfang der 1920er Jahre wieder nach
Berlin.
## Humanist, freier Geist und Konservativer
Die in diesem schmalen, 88-seitigen Bändchen versammelten Kolumnen stammen
alle aus dieser Dekade. Bei den 33 Stücken handelt es sich meist um kurze,
pointierte Glossen. Um das Werk Auburtins kümmert sich der [2][Verlag Das
Arsenal], aktuell sind acht weitere Titel des Autoren lieferbar.
Gute Kolumnen erfassen den Zeitgeist; sehr gute Kolumnen überdauern ihn.
Auburtin, der vom Herausgeber Hartmut Mangold als „Humanist“, „freier
Geist“ und „Konservativer“ beschrieben wird, gelingt beides. Er verzichtet
dabei auf den lauten Ton, er flüstert eher leise vom Rande; ruhig in der
Sache, dialektisch im Stil.
Ein Glanzstück gelingt ihm, wenn er über die Bolschewiki schreibt, die in
der Frage der Todesstrafe („die Kunst des Kopfabschlagens, Aufhängens und
Totschießens“) eine 180-Grad-Wende vollzogen hatten und nun Säuberungen
vollzogen: „Nur eines kann den Bolschewiki vorgeworfen werden, nämlich daß
sie sich selbst widersprechen; denn sie haben die Abschaffung der
Todesstrafe verkündet und in ihr Programm aufgenommen. Aber sie erkannten
bald, daß man so nicht vorwärtskommt; es müßten ja zunächst einmal alle die
reaktionären Elemente aufgehängt werden, die sie sich der Abschaffung der
Todesstrafe widersetzten.“
## Fabel über die Faulheit
Aber Auburtin schreibt auch über harmlosere, alltagsphilosophische Themen,
so bricht er eine Lanze für die Faulheit in einer kleinen Fabel über
Hummeln, Wespen und Bienen („Ora et labora“) und stellt anhand einer Studie
fest, dass unsereiner sich an der Hummel orientieren sollte („die
intelligenteste von den dreien ist die Hummel, die niemals etwas
arbeitet“).
In „Träumerei im Orientexpreß“ schreibt er eine kurze hobbysoziologische
Abhandlung über Hutmode in Berlin, wobei man nebenbei erfährt, dass der
Omnibus 8, der von Wilmersdorf zum Alexanderplatz fuhr, seinerzeit im Volk
„Orientexpreß“ genannt wurde. Oder er verfasst eine Abhandlung über
Gesichtshaare in der Politik, denn „der Mann“, so Auburtin, suche „seine
Gesinnung durch die Form des Bartes auszudrücken.“
Die 1920er Jahre waren die Ära von Joseph Roth, von Walter Benjamin, von
Franz Hessel, von Kurt Tucholsky, um nur einige zu nennen – es gab ganze
Riege großer Kolumnisten. Dass der Name Victor Auburtin, dieses atypischen
Konservativen, dabei weitestgehend in Vergessenheit geraten ist, erscheint
einem nach der Lektüre etwas ungerecht. Denn Auburtin beherrscht die
Miniatur wie wenige andere.
## Sinn und Unsinn von Denkmälern
Schließlich lässt „Der Feuilletonist greift in die Politik“ einen auch ü…
aktuelle Debatten nachdenken. Wenn etwa die heutige Ära mitunter als
[3][Zeitalter des Kolumnismus] begriffen wird, lässt sich darüber
sinnieren, wie sich zum einen Machtverhältnisse verschoben haben, wie viel
langsamer, elaborierter und kontemplativer zu Auburtins Zeiten aber der
Stil auch noch war. Seine Texte trafen dabei trotz samtpfötiger Anmutung
erstaunlich oft ins Schwarze, er brauchte dazu keine journalistische
Schnellfeuerwaffen.
Auch über Sinn und Unsinn von Denkmälern macht sich Auburtin in den Jahren
nach dem Ersten Weltkrieg Gedanken (er selbst – französischstämmig – wurde
im Krieg übrigens als „feindlicher Ausländer“ in Frankreich festgesetzt,
darüber schrieb er das Buch „Was ich in Frankreich erlebte“).
Der Rückblick auf die Kriege seiner Zeit lassen ihn zu dem Schluss kommen,
dass eine Welt ohne Denkmäler die idealste aller möglichen Welten wäre:
„Wir errichten Denkmäler, wenn wir gesiegt haben, wir errichten Denkmäler,
wenn wir verloren haben; und der verzagende Zweifler fragt sich, welches
denn die Lage des Lebens ist, die sauber bleibt und der wir nun einmal gar
keine Denkmäler errichten.“
[4][Victor Auburtin: „Der Feuilletonist greift in die Politik] /Oder:
Vergeblicher Versuch mit der Schreibmaschine die schöne neue Zeit
aufzuhalten / Betrachtungen von der Seitenlinie“, hg. von Hartmut Mangold,
mit Zeichnungen von George Grosz, Arsenal Verlag Berlin 2020, 88 S., 14,80
Euro
7 Jul 2020
## LINKS
[1] /Was-ist-eine-Kolumne/!5692780/
[2] https://arsenalverlag.com/
[3] https://www.br.de/kultur/taz-kommentar-hengameh-yaghoobifarah-all-cops-are-…
[4] https://arsenalverlag.com/auburtin-der-feuilletonist-greift-politik/
## AUTOREN
Jens Uthoff
## TAGS
Kolumne Berliner Bücher
taz Plan
Literatur
Kunst
Sommer vorm Balkon
taz Plan
Kolumne Berliner Bücher
## ARTIKEL ZUM THEMA
Als George Grosz in die UdSSR reiste: Der Splitter im Auge
Der Künstler George Grosz war in der KPD und reiste 1922 in die
Sowjetunion. Eine Berliner Ausstellung geht der Sache nach.
taz-Sommerserie „Sommer vorm Balkon“: Schöneberg war krasser als Sodom
Brendan Nash führt seit 2011 durch Isherwoods Schöneberg. Der
Schriftsteller kam 1930 des queeren Lebens wegen, beschrieb aber auch den
Rechtsruck.
Flanieren in Berlin: Gehen, wahrnehmen und denken
Der Audio-Walk „The Politics of Public Space II“ durch den Wedding bietet
Nutzer*innen ein vielstimmig orchestriertes Berlin-Erlebnis.
Neuer Band von Annett Gröschner: Geschichtshaufen Berlin
Annett Gröschner legt mit „Berliner Bürger*stuben. Palimpseste und
Geschichten“ eine Sammlung von Porträts, Reportagen und politischen Essays
vor.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.