# taz.de -- Büchnerpreisträgerin Elke Erb: Auf dem Fahrrad zum Umkehrbogen | |
> Am Samstag erhält Elke Erb den Büchnerpreis. Eine Hommage an eine | |
> Dichterin, die alles, was geschieht, studiert. | |
Bild: Stellvertretend Individualität verteidigen: Elke Erb | |
Letzten Sonntag habe ich in der Nacht die Überschrift dieses Textes über | |
Elke Erb geträumt: „Auf dem Fahrrad zum Umkehrbogen“. Ich weiß nicht mehr, | |
worum es in dem Traum ging, nur die Wortgruppe habe ich behalten. Es sind | |
zwei Substantive, mit denen ich im Traum die Vorstellung verband, etwas | |
über die Dichterin Elke Erb und ihr Werk erzählen zu können, deren Texte | |
ich seit 35 Jahren lese. | |
Aber wie kam dieses Fahrrad in meinen Traum? In ihrem gerade erschienenen | |
Suhrkamp-Auswahlband „Das ist hier der Fall“ kommt das Wort nicht vor. Auch | |
Rad nicht. Aber in „Kastanienallee. Texte und Kommentare“ von 1987 gibt es | |
ein Fahrrad im Gedicht „Mai“: „Als es stärker zu regnen anfing,/ stieg er | |
vom Rad, stellte sich unter/ auf der Kastanienallee/Ecke Schwedter/ und | |
starrte ins Wetter.“ | |
Im Kommentar darunter vermerkt die Autorin: „Ich weiß nicht, warum/ die | |
poetische Dimension/ in das Gewebe einschlug.“ Das Gewebe ist der Alltag, | |
der auf abgenutzten Wegen geht, nie aber darf die Sprache es ihm nachtun. | |
„Vermeiden von normalen Fügungen“ hat Elke Erb das genannt. | |
Das Wort „Fahrrad“ erzählt den Alltag einer Dichterin. Elke Erb ist noch | |
bis ins höhere Alter in der Stadt Fahrrad gefahren, meist in langen | |
Mänteln, dass man Angst haben musste, sie bliebe mit ihrem Gewand mitten im | |
Verkehr in den Speichen hängen und stürzte in den Rinnstein. | |
Am Lenker hatte sie eine Vorrichtung für Radwandernde zum Landkartenlesen | |
befestigt. Elke Erb fuhr keine Landkarten, sondern Worte mit sich herum. | |
Während sie durch die Swinemünder Straße von Mitte nach Wedding in ihre | |
Wohnung radelte, las sie Englischvokabeln und prägte sie sich ein, denn sie | |
ist auch eine Nachdichterin. | |
## Eine missverstehende Umwelt | |
Im Gespräch mit Brigitte Struzyk im Band „Durchgangszimmer Prenzlauer Berg“ | |
hat sie 1999 über ihre Arbeit als Übersetzerin gesprochen: „Also, | |
stellvertretend die andere Individualität verteidigen, das habe ich [...] | |
vor allem mit diesen Nachdichtungen. Da habe ich immer den Autor verteidigt | |
gegen den Übersetzer. Das heißt, gegen die missverstehende Umwelt.“ | |
Mit der missverstehenden Umwelt kannte sie sich selbst von Anfang an aus, | |
nicht erst seitdem ihr Kollege Volker Braun sie 1985 in einem Essay „unsere | |
Flip-out-Elke“ genannt hatte. | |
Die 1938 in der Eifel geborene und in Halle an der Saale aufgewachsene Elke | |
Erb hatte in den 1960er Jahren zu schreiben angefangen, weil ihr das Leben | |
nicht genügte, so hat sie es in einem Text über den Dichter Franz Fühmann | |
geschrieben, „Ich, die nach dem ersten Studienjahr (deutsche | |
Literatur/Geschichte: Antike, englische Revolution, deutsche Könige, | |
Dreifelderwirtschaft) ein Jahr aufs Land gegangen, dann als Lehrerin für | |
Deutsch und Russisch ausgebildet worden, nicht Lehrerin, sondern Lektorin | |
geworden war...“ | |
## Dichterin außerhalb der Form | |
1966 kündigte sie im Verlag. Sie wurde zum schreibenden Subjekt aus einem | |
Unbehagen gegen die sinnentleerten Denk- und Sprechweisen einer Ideologie, | |
die Menschen zu Objekten machte. Sie sei „außerhalb der Form“, wie sie im | |
Gespräch mit Christa Wolf Mitte der 1970er Jahre zu Protokoll gab: „Das ist | |
eine Chance und ein Risiko. Die Menschheit geht mit mir ein Risiko ein, ich | |
diene als Risiko.“ | |
Das Vorwort von Gerhard Wolf im Band „Vexierbild“ (1983) fängt mit den | |
Sätzen an: „Texte von Elke haben immer etwas Unbedingtes, das uns | |
herausfordert. Entweder können wir uns auf ihre Seh- und Sprechweise | |
einstellen, um in einem durchaus nicht widerspruchslosen Vorgang an ihrem | |
'prozessualen Schreiben’ teilzunehmen; oder wir lassen es auf diese | |
Teilnahme gar nicht erst ankommen und lehnen ab, weil wir anders zu sehen, | |
zu sprechen gewohnt sind.“ | |
Als Lesende muss man sich darauf einlassen, den Faden der Ariadne | |
mitzunehmen in das Labyrinth, um reicher wieder herauszukommen. | |
## Gattungsgrenzen spielen keine Rolle | |
Wenn ihr etwas durch den Kopf geht, schreibt Elke Erb es in ein Heft. | |
Manchmal dauert es Jahre, bis sie es wieder heraufholt wie Uran oder Silber | |
aus einem Bergwerk. Das unter jedem Text stehende Datum des Entstehens und | |
manchmal auch des Überarbeitens legen das Prozessuale ihres Schreibens, ihr | |
zeitübergreifendes Denken frei. Gattungsgrenzen spielen keine Rolle. | |
Gedichte werden kommentiert, Traummaterial aus Notizbüchern gezogen und | |
verdichtet, bis Gedichtverdacht besteht. | |
Das sind Gründe, warum auch ihre frühen Texte besser gealtert sind als die | |
der anderen Lyriker ihrer Generation. Der literarischen Platzhirsche, deren | |
Texte heute nur noch historisch gelesen werden können. Das Gegenüber, an | |
dem sie sich abrieben, ging ihnen verloren, die Mauern, an denen sie sich | |
wundstießen, sind längst eingerissen. | |
Im Grunde bekommt Elke Erb [1][den Büchnerpreis] mindestens ein | |
Vierteljahrhundert zu spät. Aber der deutsche Literaturbetrieb hat | |
jahrzehntelang gerade mal ein Gruppenbild mit Dame ausgehalten. Zwei | |
Dichterinnen auf einem Haufen war eine zu viel. In der Sächsischen | |
Dichterschule war der Platz der Dame an Sarah Kirsch vergeben. | |
## Eine Lehrende für Generationen | |
Schade auch, dass Suhrkamp erst jetzt ein Buch von ihr veröffentlicht, aber | |
es gibt ja den Schweizer Urs Engeler, der seit Jahrzehnten Texte von Elke | |
Erb verlegt. Elke Erb wollte nie Lehrerin werden, aber sie ist trotzdem | |
eine Lehrende für alle Generationen von Lyriker:innen nach ihr, ohne je | |
eine Schule begründet zu haben. | |
Im Februar zu ihrem Geburtstag habe ich Elke Erb tanzen sehen. Ganz allein, | |
alle anderen schauten ihr zu. Sie bewegte sich zu den Schlägen einer | |
Trommel, die Gottfried Röszler schlug. Mit geschlossenen Augen lauschte sie | |
dem Rhythmus und übertrug ihn in sparsame Bewegungen. | |
So, dachte ich mir, entstehen auch ihre Texte, es braucht kein Orchester, | |
es reicht eine virtuos gespielte Trommel, um die Bewegungen aus dem | |
Gedächtnis zu holen, als tanze da eine ganz junge Frau mit der rhythmischen | |
Erfahrung einer Achtzigjährigen. | |
## Stadt und Land | |
Elke Erb über Elke Erb: „Ich gucke mir an, was tut die denn da? Das ist | |
nicht das Naivchen vom Lande, was sich da bewegt, sondern es studiert | |
alles, was geschieht, mit sämtlichem Know-how, das es hat oder zu | |
entwickeln fähig ist aus diesem Lebewesen.“ | |
Je älter sie wird, desto stärker überschreibt ihre Kindheit auf dem Land | |
alles andere. „Es ist eine starke Eintragung von der Natur in mich | |
passiert, was gar nicht anders möglich ist, wenn du bis zu deinem elften | |
Jahr, wo schon fast der Kopf beginnt, auf dem Land aufgewachsen bist. Alles | |
wird dekliniert durch das Land, da hat die Stadt überhaupt keine Chance.“ | |
Trotzdem gibt Berlin ihren Texten eine Prägung, seit sie vor 54 Jahren in | |
die Stadt gezogen ist, die eine Hälfte der Zeit in Prenzlauer Berg, die | |
andere im Wedding lebend. „Alles, was gebraucht wird, um mit Worten | |
umzugehen, gibt es im Überfluss“, hat Waltraud Schwab in ihrem | |
[2][taz-Hausbesuch] über Elke Erbs Wohnung gesagt. „Eine Wortgewaltige lebt | |
in dinggewaltigen Räumen. (...) Überall Papierberge, Fotos, Notizen, | |
Bücherstapel, Bücherwände, Bücherregale, Bücherschränke...“ Das Bett als | |
Schreibort. | |
## Insbesondere die Kastanienallee | |
Ihre Freundin und Kollegin Brigitte Struzyk hat in dem Interview von 1999 | |
über Elke Erb und Berlin, insbesondere die Kastanienallee, bemerkt: „Es | |
gibt Orte, wo du langgehst und sagst, Tag Elke Erb. So wie die Dichter in | |
den Jahrhunderten wohnen, haben sie auch ihre Orte.“ | |
Elke Erb antwortet darauf: „Es ist ja wahr, es würde kein Mensch außer mir | |
darauf kommen, zu sagen, in der Kastanienallee roch es nachmittags um halb | |
vier nach toten, selbstvergessenen Mäusen. Es wäre auch niemand darauf | |
gekommen, diesen Satz als Gedicht hinzustellen. Damit behauptet man ja | |
einen lebenden Zusammenhang, der eine Spannung enthält.“ | |
In diese Kategorie fällt auch der Umkehrbogen meines Traums. Es ist mein | |
Lieblingswort im großen Wörterbuch Elke Erbs, eine Neuschöpfung, die der | |
Realität viel näherkommt als das im Duden verzeichnete. | |
## Noch drei Stationen | |
Es befindet sich im Text “***„ aus „Sonanz. 5-Minuten-Notate“ von 2008. | |
„Brandmauer Haufenwolken Eklektizismus/ Seine Wangen röteten sich// Abraham | |
Salomon Abrakadabra/ aber die Straßenbahn fuhr// noch drei Stationen und | |
stand/ an dem Umkehrbogen ohne Belang wo// der Hahnenfuß wächst Wisperndes/ | |
mir in den Ohrsinn// Grauer Himmel schlohweißes Haar“ | |
Seit ich das Gedicht kenne, nenne ich jede Wendeschleife nur noch | |
Umkehrbogen. Straßenbahnfahrer:innen finden das vernünftig. Welche | |
Endstelle der Straßenbahn ist denn schon wirklich eine Schleife? | |
31 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Annett Gröschner | |
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