# taz.de -- Ausbau von Berlins Nahverkehr: Die Angst vor der Autolobby | |
> Derzeit kursieren viele Vorschläge zum Ausbau der U-Bahn. Dabei müsste | |
> Berlin auf die Tram setzen, sagen die Grünen Matthias Dittmer und Maya | |
> Richter. | |
Bild: So schnell wie es scheint fährt sie nicht, die Tram in Berlin, aber sie … | |
Leise sind sie nicht, ihre gelb-weißen Waggons. Ein Dröhnen, ein Tirilieren | |
in Hochfrequenz, quietschende Bremsen. Die hölzernen Sitzbänke auf manchen | |
ihrer Linien sind hart und unbequem. Kurven aber nimmt sie spielerisch, und | |
Höhenunterschiede überwindet sie mit Leichtigkeit. Den Autoverkehr drängt | |
sie an den Rand, beansprucht enge Gassen ganz für sich. Sie wird geschätzt | |
und geliebt: Die Straßenbahn ist ein Wahrzeichen von Lissabon und eine | |
weltbekannte Touristenattraktion. | |
Auch die anfänglich von Pferden gezogene Berliner Tram gehört zu den | |
ältesten der Welt. Noch in den 1950ern hatte sie das weltweit zweitgrößte | |
Netz, der Berliner Dreiklang von Straßen-, U- und S-Bahn galt als | |
vorbildlich. Eine Erlebnistour durch Berlin war ohne Tram nicht | |
vorstellbar. Zwischen Oper und Kaschemme, Varieté und Tanzlokal waren die | |
Straßenbahnlinien die pulsierenden Adern der Stadt. Heute sucht man sie | |
[1][im Westteil vergebens.] | |
Nichts ist dort geblieben vom alten Glanz. Die aufstrebende | |
Automobilindustrie brauchte Platz für ihr massenhaft gefertigtes Produkt. | |
Ein beispielloser Verdrängungsprozess war vorgezeichnet. Im Jahr 1967 | |
verschwanden die letzten Gleise endgültig, Busse ersetzten die Tram. Bis | |
heute gleicht Berlins Straßenbahnnetz einem halb geschorenen Kopf. | |
Die Absicht, diesen Zustand zu beenden, wurde von der Politik zwar oft | |
beteuert – aber im Jahr 31 nach Mauerfall blicken wir auf eine klägliche | |
Bilanz: Ganze 8 Kilometer Strecke wurden im alten Westberlin seit 1989 neu | |
geschaffen – bei einer Gesamtlänge des Netzes von 198 Kilometern. | |
Am Geld lag es nicht: Aus dem Projekt Deutsche Einheit flossen | |
Milliardenbeträge, um die Wunden der Teilung zu heilen. Nichts davon | |
landete bei der Tram. Für die Verlängerung der U5 um 2,2 Kilometer wurde | |
eine halbe Milliarde Euro ausgegeben. Der Wille fehlte, Prioritäten zu | |
setzen. Oder war es die Angst vor einem Konflikt mit der Autolobby? | |
Die Frage der Wirtschaftlichkeit ist längst zweifelsfrei beantwortet, hier | |
steht es zehn zu eins für die Tram. Denn als Faustregel gilt: Ein Kilometer | |
Tram kostet 10 bis 20 Millionen, für einen Kilometer U-Bahn wird mehr als | |
das Zehnfache fällig. Hinzu kommt, dass Tramhaltestellen ebenerdig und | |
schneller zu erreichen sind als U- und S-Bahnhöfe. Davon profitieren vor | |
allem ältere und behinderte Menschen, Fahrgäste mit Rollator oder | |
Kinderwagen. Auf kurzer Distanz ist die Straßenbahn unschlagbar schnell. | |
Neben dem wirtschaftlichen Vorteil gibt es einen zeitlichen: Für die | |
Planung und Umsetzung einer U-Bahn-Strecke gehen im Schnitt 16 Jahre ins | |
Land. Die Tram ist in der Hälfte der Zeit zu haben. Kommunen wie Karlsruhe | |
schaffen das sogar in vier Jahren. Nach oben ist also ausreichend Luft. | |
Große Hoffnungen lagen auf [2][dem Eintritt der Grünen] in die Berliner | |
Landesregierung. Sogar ein Bündnis für Straßenbahn gründete sich. Die | |
Prioritäten sollten neu und anders gesetzt werden. Der Ausbau des | |
Tramnetzes gab im Koalitionsvertrag die Richtung vor, von | |
U-Bahn-Verlängerungen war keine Rede mehr. Endlich! | |
Konkret hieß das: Die vier bereits in Planung befindlichen Tramstrecken | |
sollten noch in dieser Legislaturperiode in Betrieb gehen, bei vier | |
weiteren sollten Planungsverfahren Fahrt aufnehmen. Dieses Versprechen | |
wurde bis heute nicht eingelöst. Absurderweise wurden aber | |
Machbarkeitsstudien für U-Bahn-Verlängerungen in Auftrag gegeben. | |
Ganz offensichtlich hat sich die Lobby des Autoverkehrs in einer von Grünen | |
dirigierten Senatsverwaltung erfolgreich durchgesetzt. In jedem | |
Tram-Kilometer sieht sie eine mögliche Gefahr für die Verbreitung ihrer | |
Produkte. Deshalb ist der Schrei nach einem U-Bahn-Ausbau so laut. Der | |
öffentliche Verkehr soll unter die Erde, darüber: freie Fahrt für freie | |
Bürger. Das ist das Paradigma autoverliebter StraßenplanerInnen. Für die | |
entsprechenden Machbarkeitsstudien werden vorhandene Kapazitäten benutzt, | |
die dem Tram-Ausbau dann fehlen. | |
Dabei gibt es neben den Kosten und dem Zeitrahmen noch einen dritten, | |
wichtigen Aspekt, über den endlich auch gesprochen werden muss: die | |
Klimaverträglichkeit. In Zeiten der sich verschärfenden Erderwärmung muss | |
sie ein wichtiges Entscheidungskriterium jeder verkehrspolitischen Maßnahme | |
sein – wenn nicht das wichtigste. In Berlins grüner | |
Senatsverkehrsverwaltung ist das auch nach dreieinhalb Jahren noch nicht | |
vorgesehen. | |
Darum hat nun die Facharbeitsgruppe Öffentlicher Verkehr der grünen | |
Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Mobilität begonnen, entsprechende | |
Berechnungen durchzuführen. Wie viel Kohlendioxid bläst die Bautätigkeit | |
bei einer U-Bahn-Verlängerung in die Atmosphäre? | |
Schon die ersten Ergebnisse sind erschreckend: Der für die Tunnelaußenwände | |
von einem Kilometer U-Bahn verbrauchte Beton erzeugt rund 30.000 Tonnen | |
Kohlendioxid. Allerdings keine ganz überraschende Erkenntnis angesichts der | |
Tatsache, dass die Zementherstellung für 8 Prozent der weltweiten | |
CO2-Emissionen verantwortlich ist. Der klimatische Fußabdruck der übrigen | |
Tätigkeiten beim U-Bahn-Bau – etwa des Erdaushubs – ist da noch gar nicht | |
eingepreist. | |
Wenn wir der Klimakrise begegnen wollen, dürfen wir in der Debatte über | |
U-Bahn-Verlängerungen dieses Kriterium nicht ausblenden. Im Gegenteil: Es | |
sollte zum übergeordneten Kriterium der Entscheidung für oder gegen solche | |
Projekte werden. | |
Die neue Normalität kann nicht die alte sein. | |
1 Jul 2020 | |
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## AUTOREN | |
Matthias Dittmer | |
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