# taz.de -- Deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Einmal rasch den Kontinent sanier… | |
> Die Bundesregierung hegt ambitionierte Pläne für die kommenden sechs | |
> Monate. Kanzlerin Merkel geht es auch um ihr europapolitisches Erbe. | |
Wie peinlich ist das denn? Deutschland übernimmt am 1. Juli für sechs | |
Monate den EU-Vorsitz – und wählt dafür einen Spruch, der glatt von Donald | |
Trump stammen könnte! „Make America great again“, hatte Trump vor vier | |
Jahren gefordert. „Europa wieder stark machen“, verspricht Außenminister | |
Heiko Maas heute. Das ist nicht stark, sondern ziemlich daneben. Denn es | |
erweckt den Eindruck, als sei Europa stark gewesen – was man in den letzten | |
Jahren nun wirklich nicht behaupten konnte. | |
Und es erinnert an Trump und seine chauvinistische „America first“-Politik. | |
Klar, die Bundesregierung meint das nicht so. Sie hat ihrem Motto ein | |
dickes „Gemeinsam“ vorangestellt. Und sie illustriert es mit dem | |
Möbiusband, das ein „Symbol für Einigkeit und Verbundenheit“ sein soll. | |
Doch das Möbiusband steht auch für Endlosschleifen, aus denen es kein | |
Entrinnen gibt. Und die Symbolik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass | |
der Leitspruch für die deutsche Ratspräsidentschaft in die Irre führt. | |
Denn auch mit Einigkeit und Gemeinsamkeit ist es nicht weit her in der EU. | |
Nicht einmal in Deutschland. Ausgerechnet das größte EU-Land hat maßgeblich | |
zu Spaltung und Schwächung beigetragen. Von der [1][Eurokrise] über den | |
[2][Brexit] bis hin zu [3][Corona] zieht sich eine lange Linie deutscher | |
Alleingänge und Fehlentscheidungen, die die EU immer tiefer in die Krise | |
geritten haben. | |
Als die Eurokrise begann, hat sich Kanzlerin Angela Merkel mit Händen und | |
Füßen gegen Hilfen für Griechenland und andere „Schuldensünder“ gewehrt. | |
Erst als der Euro auf dem Spiel stand, willigte sie in Finanzhilfen ein – | |
unter vernichtenden Auflagen. Griechenland hat sich davon bis heute nicht | |
erholt. Als der Brexit kam, sträubte sich Merkel gegen einen | |
Politikwechsel. Die Europäische Union müsse runderneuert werden, forderte | |
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Die Kanzlerin lehnte ab. | |
## Viele Alleingänge der Kanzlerin | |
Erst als die Briten tatsächlich ausgetreten sind, hat in Berlin ein | |
Umdenken eingesetzt. Als die Coronakrise begann, hat die Bundesregierung | |
die deutschen Grenzen dichtgemacht und den Export von medizinischen | |
Hilfsgütern beschränkt. Erst als sich das taumelnde Italien hilfesuchend an | |
China wandte und ein Aufschrei der Empörung durch Europa ging, besann sich | |
Berlin eines Besseren. | |
All dies hat Spuren hinterlassen – nicht nur in Italien oder in Frankreich. | |
Nach einer Umfrage des European Council on Foreign Relations haben viele | |
Europäer in der Coronakrise den Eindruck gewonnen, dass die EU „irrelevant“ | |
geworden sei. Nicht in Brüssel, sondern in Berlin wurden die großen | |
Entscheidungen getroffen. Das „deutsche Europa“, das der Soziologe Ulrich | |
Beck schon 2012 beschrieb, hat auch die Coronakrise geprägt – bis hin zur | |
Frage, wer wann wohin in Urlaub fahren darf. | |
Die Deutschen haben gewonnen. Sie konnten [4][als Erste nach Mallorca] – | |
noch vor den Spaniern. Und sie konnten die größten Hilfsprogramme auflegen. | |
Mit atemberaubenden Milliardensummen sticht Berlin alle anderen aus, sogar | |
die EU-Kommission ist besorgt. Und nun will ausgerechnet Deutschland die EU | |
wieder starkmachen? Ausgerechnet das Land, das immer wieder auf dem Holzweg | |
war und allzu oft auf der Bremse stand, will Europa aus seiner bisher | |
größten Krise führen? Das ist eine gewagte Wette. | |
Es ist auch eine vielversprechende Wette. Denn sie verheißt ja nicht | |
weniger, als dass die Kanzlerin aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt | |
hat und nun eine neue, solidarische Europapolitik wagen will. Dafür gibt es | |
tatsächlich erste Anzeichen. So hat Merkel in der Finanzpolitik eine | |
180-Grad-Wende vollzogen. Plötzlich soll es doch EU-Schulden und | |
Finanztransfers geben, um die Coronakrise zu lösen. Trotzdem wird sich die | |
deutsche Wette auf Europa kaum einlösen lassen. | |
## Die Deutschen haben gewonnen | |
Denn dafür sind die Aufgaben, die vor dem EU-Vorsitz liegen, viel zu groß. | |
Und die Instrumente, die auf dem Tisch liegen, sind zu schwach. Allein die | |
Aufgaben für die nächsten sechs Monate sind gewaltig. Es geht darum, die | |
Coronakrise in den Griff zu kriegen, die Wirtschaft zu stabilisieren, | |
sich mit China und den USA zu arrangieren und den Brexit erfolgreich | |
abzuschließen. Das ist ein Programm für Jahre, nicht für Monate. | |
Zentral steht an, den Gesundheitsnationalismus der letzten Monate zu | |
überwinden, den europäischen Binnenmarkt zu retten, Europa von den USA und | |
China unabhängig zu machen und Großbritannien von Dummheiten abzuhalten. | |
Und dann hätten wir noch den Klimawandel, den [5][„Green Deal“] und die | |
Flüchtlingspolitik. Berlin soll helfen, die Wirtschaft klimaneutral zu | |
machen, eine gerechten und sozial verträglichen Übergang zu organisieren | |
und eine faire Lastenteilung bei den Migranten zu organisieren. | |
Geht’s noch? Das ist ein Mammutprogramm, das nicht einmal das größte | |
EU-Land stemmen kann. Europa und die Welt stehen vor einer Zäsur, die alles | |
infrage stellt – und die EU zerreißen könnte. Im Frühjahr, auf dem | |
Höhepunkt der Coronakrise wäre es beinahe schon passiert. Ist sich die | |
Bundesregierung dieser Zäsur bewusst? Ist sie auf die historischen Umbrüche | |
vorbereitet, die sich mit der Coronakrise massiv beschleunigt haben? | |
Dämmert den Regierenden in Berlin, dass sie die EU nur dann retten können, | |
wenn sie sie radikal infrage stellen? In Brüssel hoffen das viele. | |
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen habe mit dem Umbau begonnen, | |
nun ziehe Merkel nach. Die Kanzlerin habe erkannt, dass sie nach Jahren des | |
Bremsens und Neinsagens eine andere Politik wagen müsse, heißt es in | |
Kommission und Rat. | |
Doch für die Außenpolitik gilt das sicher nicht. Da setzen Merkel und Maas | |
weiter auf Kontinuität. Nicht einmal auf den geplanten Abzug von US-Truppen | |
hat sie eine Antwort gefunden. Und auch in der Wirtschafts- und | |
Finanzpolitik liegt noch einiges im Argen. Was derzeit in Brüssel auf dem | |
Tisch liegt, darf man zwar getrost historisch nennen. | |
## Nur Deutschland kann die EU retten | |
Ein 750 Milliarden Euro schwerer Wiederaufbauplan, aus Schulden finanziert | |
und für Transferleistungen ausgelegt, ist mehr als alles, was die | |
Europäische Union bisher zu denken wagte. Doch selbst wenn es Berlin | |
gelingen sollte, diesen Plan durchzubringen – Zweifel sind erlaubt –, wäre | |
es nicht genug. Im günstigsten Fall könnte er einen Wachstumsschub um 2 bis | |
4 Prozent bringen – doch in Frankreich bricht die Wirtschaft gerade um 11 | |
bis 13 Prozent ein, je nach Schätzung. | |
Auch für den Kampf gegen den Klimawandel, den sich Berlin eher halbherzig | |
auf seine Fahnen schreibt, reicht dieser Plan nicht aus. Es fehlt immer | |
noch ein ehrgeiziges Klimaziel für 2030, es fehlen Mittel für die „Green | |
Transition“ – den klima- und sozialverträglichen Umbau der Wirtschaft – … | |
künftigen EU-Budget. Dass Berlin dieses Budget für 2021 bis 2027 eng | |
begrenzen will und sogar noch einen Beitragsrabatt fordert, macht die Sache | |
nicht besser. | |
Es deutet eher darauf hin, dass die Bundesregierung den Wiederaufbau als | |
„Notopfer“ betrachtet – als Ausnahme, nach der man schnell wieder zum | |
„Business as usual“ zurückkehren möchte. Die deutsche Wette auf Europa ist | |
deshalb mit Vorsicht zu genießen. Sie verspricht große Dinge, die kaum zu | |
leisten sind. Und sie hantiert mit Instrumenten, die den Herausforderungen | |
nicht gewachsen sind. So wird Europa nicht „wieder stark“ – bestenfalls | |
wird die aktuelle Schwächephase überwunden. | |
Aber will Deutschland wirklich ein starkes Europa? Möchte Merkel | |
tatsächlich als „große Europäerin“ in die Geschichtsbücher eingehen, so… | |
Helmut Kohl? Darüber wird viel spekuliert, einige schreiben schon jetzt | |
Lobeshymnen über Merkels europapolitisches Vermächtnis. Dafür jedoch ist es | |
definitiv zu früh. Entscheidend ist, was hinten rauskommt, pflegte Kohl zu | |
sagen. Entscheidend für Merkel wird das sein, was am Ende der kommenden | |
sechs Monate übrig bleibt. | |
## Hochgesteckte Ziele | |
Wenn die EU im Dezember noch steht und Großbritannien sich mit einem | |
Vertrag vom Binnenmarkt verabschiedet, wäre schon viel gewonnen. Wenn die | |
Bundesregierung die kommenden sechs Monate nutzen würde, um ihre Interessen | |
in der EU neu zu definieren und eine neue, solidarischere Europapolitik zu | |
konzipieren, wäre dies noch besser. Denn dann könnte man hoffen, dass | |
Deutschland sich dauerhaft für eine stärkere EU einsetzt – und nicht nur | |
für sechs Monate. | |
Sollte es zudem noch gelingen, den „Green Deal“ auf den Weg zu bringen und | |
eine fairere Asyl- und Flüchtlingspolitik zu konzipieren, so wäre dies ein | |
großer Erfolg. Dann – und nur dann – könnte Merkel zu recht behaupten, da… | |
sie ihr europapolitisches Erbe geordnet habe. Denn auch die Migrationskrise | |
2015 und der Flüchtlingsdeal mit der Türkei lasten auf ihrer Bilanz. Und | |
was, wenn das alles nicht gelingt – oder nur ein geringer Teil davon? | |
Was passiert, wenn die deutsche Wette für Europa platzt? Das weiß keiner. | |
Wenn überhaupt jemand die EU retten kann, dann nur Deutschland, pflegt man | |
in Brüssel auf skeptische Fragen zu antworten. Es klingt wie das Pfeifen im | |
dunklen Wald. Sicher ist nur eines: Europa wird am Ende dieses Jahres nicht | |
mehr so sein, wie es früher einmal war. Schon allein der Abschied | |
Großbritanniens wird dafür sorgen, dass die EU schwächer wird als bisher – | |
und nicht stärker. Sorry, Herr Maas, aber Ihr Spruch ist einfach daneben! | |
30 Jun 2020 | |
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## AUTOREN | |
Eric Bonse | |
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