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# taz.de -- Prekär Beschäftigte in Coronazeiten: „Ungeschützt ausgeliefert…
> Wer prekär arbeitet – etwa in den Branchen Reinigung und Pflege –, wird
> am stärksten von den Folgen der Coronakrise getroffen, sagt Ute Kathmann.
Bild: Coronaschutz Marke Eigenbau: Eine Kassiererin hilft sich selbst
taz: Frau Kathmann, viele Menschen merken während der Pandemie, dass
systemrelevante Jobs häufig die am schlechtesten bezahlten Jobs sind – ob
an der Kasse im Supermarkt, im Altenheim, in der Pflege oder Reinigung. Sie
beschäftigen sich bei Joboption Berlin mit atypischer und prekärer Arbeit,
die es häufig in diesen Branchen gibt. Was bedeutet für dort beschäftigte
Menschen die Coronakrise?
Ute Kathmann: Erst mal ist es gut, dass es für Arbeitsbedingungen, die auch
vor der Krise schon schlecht waren, derzeit eine breite Aufmerksamkeit
gibt. Unsere Hoffnung ist, dass es dauerhafte Entgelterhöhungen und
Verbesserungen gibt. Und dass es nicht bei langfristig nutzlosen Prämien
bleibt, wie bei den Beschäftigten im Einzelhandel, bei denen
Einkaufsgutscheine als Bonus für die vermehrte Arbeit versprochen werden.
Ist Corona ein Vergrößerungsglas für gesellschaftliche Verhältnisse?
Diese Krise verdeutlicht die sozialen Unterschiede: Gut Verdienende
arbeiten geschützt im Homeoffice. Diejenigen, die unter schlechten
Bedingungen tätig sind, sind an vorderster Front und überwiegend
ungeschützt der Pandemie ausgeliefert.
Welche Auswirkungen haben die Pandemie-Schutzmaßnahmen für diese
Arbeitswelten?
Das Gastgewerbe steht fast komplett still: Dort sind die Beschäftigten zwar
gesundheitlich nicht betroffen, aber haben weniger Geld durch Kurzarbeit
oder sogar gar kein Einkommen – Letzteres betrifft vor allem die von
Kurzarbeit ausgeschlossenen Minijobber*innen, in dieser Branche etwa 36
Prozent in Berlin. Dazu kommen 35 Prozent, die in Teilzeit arbeiten, womit
das Kurzarbeitergeld vorne und hinten nicht reicht. Selbst Vollzeitkräfte
bekommen zu wenig Geld und sind zum Teil auf Aufstockung angewiesen.
Im Supermarkt gibt es noch genug zu tun.
Aber dafür fehlt es an Arbeitsschutz. Im Einzelhandel gibt es zwar jetzt
Plexiglasscheiben für Kassierer*innen. Aber ein Mundschutz fehlt den
meisten noch immer, zumindest in Berlin. Auch in der Gebäudereinigung gibt
es zu wenig Schutz. Und viele Pflegekräfte sind überlastet mit
Arbeitszeiten von bis zu zwölf Stunden.
Wo ist die Not am größten?
Überall dort, wo es Niedriglöhne gibt und ein Kurzarbeitergeld von 60
beziehungsweise 67 Prozent des Nettoeinkommens zum Leben nicht reicht. Und
dort, wo es einen großen Anteil an Minijobber*innen gibt: Auch in der
Reinigung hat ein Drittel der Beschäftigten einen oder mehrere Minijobs.
Aber es gibt innerhalb der Branchen Differenzen: Einzelhändler, die
komplett schließen müssen, sind anders betroffen als Supermärkte, die
gerade größere Umsätze einfahren als sonst. Die Restaurants bieten
teilweise noch Essen zum Mitnehmen an – allerdings wird nicht annähernd so
viel umgesetzt wie vor der Krise. Die To-go-Angebote gibt häufig der
Inhaber raus; [1][Beschäftigte sind in Kurzarbeit], freigestellt oder
gekündigt.
Zusammengefasst: Überall ist es schlimm, und diejenigen, die zuvor prekär
gearbeitet haben, fallen als Erste runter?
Ja.
Ergibt sich aus der erhöhten Aufmerksamkeit und der Not etwas Positives für
die Zeit nach der Krise? Wird etwa der Minijob abgeschafft?
Das wäre zumindest eine Hoffnung. Aber Prognosen sind sehr schwierig.
Möglicherweise pochen geringfügig Beschäftigte künftig eher auf
sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen. Aber es kann natürlich
ebenso möglich sein, dass sie bald froh sind, überhaupt Geld zu verdienen,
und jeden Job annehmen. So könnte es nach der Krise sogar mehr Minijobs
geben.
Arbeitszeiten sind schon jetzt ausgeweitet und Personaluntergrenzen
teilweise aufgehoben.
Ja, das Bundesministerium für Arbeit hat Anfang April beschlossen, dass das
Arbeitszeitgesetz ausgeweitet wird. Arbeitnehmer*innen dürfen in bestimmten
Branchen jetzt bis zu zwölf Stunden arbeiten, Supermärkte auch sonntags
öffnen. Aber obwohl der Handelsverband schon seit Jahren Sonntagsöffnungen
fordert, finden diese derzeit nicht statt. Die Arbeitgeber sagen: Die
Beschäftigten sind ohnehin schon am Limit. Einige Supermärkte haben
deswegen sogar ihre Öffnungszeiten verkürzt. Der erweiterte Spielraum
zuungunsten von Arbeitnehmer*innen wird erfreulicherweise also nicht
überall ausgenutzt.
Gesellschaftliche Anerkennung für diese Jobs ist jetzt da, viele Leute
klatschen auf ihren Balkonen für Pflegekräfte. Die hingegen sagen: Wir
brauchen keinen Applaus, sondern 4.000 Euro brutto. Welche Forderungen gibt
es in welcher Branche und wie realistisch sind diese?
Zum Beispiel die Forderung nach einer Sozialversicherungspflicht für
Minijobber*innen von der IG BAU. Denn ohne Sozialversicherungspflicht, also
Arbeitslosenversicherung, sind sie vom Kurzarbeitergeld ausgeschlossen. Die
Gewerkschaften haben eine Aufstockung des Kurzarbeitergelds durch die
Arbeitgeber oder durch die Bundesregierung gefordert, die nun gerade eine
Erhöhung beschlossen hat. Einmalige Prämienzahlungen reichen nicht: Davon
hat eine Pflegekraft langfristig nichts. Beschäftigte sollten sich auf
jeden Fall besser organisieren, einen Betriebsrat gründen und in
Tarifverhandlungen mitmischen.
Nachdem sie eine 12-Stunden-Schicht gemacht haben?
Ja, das ist natürlich die Krux, die arbeiten schon jetzt am Limit und
sollen sich jetzt gleichzeitig auch noch um höhere Löhne kümmern.
Aber wer kann Forderungen während eines Lockdown und einer drohenden
Rezession durchsetzen und wie? Drohen nach den Milliardenpaketen nicht erst
mal Sparrunden? Nach der letzten Kapitalismus-Krise, dem Finanzcrash von
2008, haben sich die Beschäftigungsverhältnisse auch nicht wirklich
gebessert. Im Gegenteil: Die Gesellschaft trug die Last der von Banken in
Finanzderivaten verschleuderten Milliarden. Was kann man daraus für die
jetzige Krise lernen?
Wichtig ist, die Lastenverteilung im Blick zu behalten. Ein Beispiel: Es
gibt offenbar Mittel für Soforthilfen und Zuschüsse oder Kredithaftung.
Aber in Kliniken und Pflegeheimen arbeiten die Pflegekräfte ohne
ausreichenden Gesundheitsschutz.
In den USA gab es bereits wilde Streiks gegen fortgesetzte Ausbeutung trotz
Corona-Gefahr: in der Lebensmittelproduktion, bei Amazon und im
Transportwesen. Wären wilde Streiks ein Mittel für Deutschland und Berlin?
Ich würde nicht zum Streik aufrufen. Vor allem Pflegekräfte würden sich
darauf auch gar nicht einlassen.
Aber der Supermarkt könnte doch schon mal einen Tag dichtmachen.
Ich gehe nicht davon aus, dass das passieren wird. Wir haben hier noch eine
vergleichsweise gute Situation durch die relativ geringe Anzahl an
Todesfällen und durch einen Sozialstaat, der vieles abfedert.
Viele Medien schreiben von Chancen in der Krise, in der Realität sehen wir
bisher allerdings nur Bedrohungen vor allem für Menschen in prekären
Situationen. Was überwiegt: Möglichkeiten oder Gefahr?
Es sind zweifelsohne sehr schwierige Zeiten. Mein Eindruck war, dass das
Gastgewerbe in den ersten Tagen nach den Schließungen wie gelähmt war. Aber
sofort danach wurden Ideen umgesetzt: Viele Restaurants und Cafés haben in
kurzer Zeit Lieferdienste aufgebaut, sich mit anderen kleinen Betrieben
zusammengeschlossen, es gibt viele Crowdfunding-Aktionen oder die Aktion
#berlinliefert vom Dehoga Berlin, bei dem sich Restaurants und Bars
registrieren können, wenn sie wegen Corona Lieferdienste und Abholungen
anbieten. Auch wenn die Umsätze vielleicht nur ein Tropfen auf den heißen
Stein sind, zeigt es doch die Mentalität der Branche: Nicht aufgeben und
kreativ werden.
Ja, aber allzu lange darf die Situation so nicht bleiben.
Natürlich wird es viele Schließungen geben, das ist die Rückmeldung von
allen Seiten. Je länger Sperren und Verbote bestehen, desto mehr Betriebe
werden für immer dichtmachen müssen. Berlin ist sehr abhängig vom Tourismus
– auch ausländischem. Diese Einnahmen und Übernachtungen sind weg.
Was ist das Wichtigste mit Blick auf die nächsten Monate?
Die Perspektive der Beschäftigten in besonders betroffenen Branchen. Viele
sind auf jeden Cent angewiesen und können kaum vom Kurzarbeitergeld leben.
Das war zu befürchten, weil die Lage dieser Beschäftigten bereits vorher
prekär war. Vom nicht ausreichenden Arbeitsschutz ganz zu schweigen. Und:
Prekäre Arbeit, also Minijobs oder Solo-Selbstständigkeit, Befristung und
erzwungene Teilzeit, erweist sich in der jetzigen Krise als riskant, sie
sichert oft nicht den Lebensunterhalt.
27 Apr 2020
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## AUTOREN
Gareth Joswig
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