# taz.de -- Essenslieferdienste in der Corona-Krise: Alles frei Haus, bitte | |
> Essenslieferdienste sind gerade beliebt wie nie. Die Branche ist bekannt | |
> für prekäre Arbeitsbedingungen. Ein Kollektiv will nun vieles anders | |
> machen. | |
Bild: Stefano Lombardo | |
Die Nachricht kommt per E-Mail. Sie bedeutet für Stefano Lombardo ein Ende | |
und zugleich einen Neuanfang. An einem Montag im August 2019 findet er die | |
E-Mail in seinem Postfach. „Lieber Stefano Lombardo“, beginnt sie, dann | |
folgen Sätze, die ihn auf Deutsch und Englisch darüber informieren, dass | |
der [1][Essenslieferdienst Deliveroo], für den er die vergangenen Jahre | |
Pizzen, Sushi und Thai Bowls durch Berlin gefahren hat, seinen Betrieb | |
einstellt. Und zwar schon am folgenden Freitag. | |
Für Lombardo ist klar: Jetzt bekommt er seine Chance. Die Chance, das | |
umzusetzen, was er schon länger im Kopf hat: einen eigenen Lieferdienst. | |
„Am Mittwoch haben wir mit dem Organisieren angefangen“, sagt er. „Und am | |
Freitag sind wir gestartet.“ | |
Lombardo und seine Freunde wollen nicht einfach einen Kurierdienst | |
aufbauen, sondern ein Kollektiv, das eine kleine Alternative zu den Großen | |
der Branche sein will. Mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr innere | |
Werte. Vielleicht sogar Nachhaltigkeit, Gemeinschaftsgefühl, Transparenz. | |
Lombardo, 42 Jahre alt, ist schon von Weitem als Fahrradkurier zu erkennen, | |
selbst dann, wenn er gerade ein paar Schritte ohne Fahrrad macht. | |
Kuriertasche über der Schulter, wetterfeste Kleidung gegen den | |
Großstadtwinter und Ringelsocken, die zwischen Szenegag und ernst gemeint | |
changieren. | |
Seit zehn Jahren ist er als Kurier unterwegs – zunächst mit dem Auto, seit | |
fünf Jahren als Fahrradkurier für Essensbestellungen. „Ich mag das | |
Freiheitsgefühl“, sagt er. „Draußen sein, nicht im Büro, keinen Chef | |
haben.“ Und die Bezahlung bei Deliveroo sei auch gut gewesen, der | |
Leidensdruck gering. „Aber sobald sie weg waren, wollten wir es probieren.“ | |
Essenslieferungen sind ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark von | |
der Plattformökonomie verändert wurde. Die heißt so, weil hier Anbieter und | |
Kunden auf einer digitalen Plattform, einem virtuellen Marktplatz | |
zusammengebracht werden. Dabei sind Netzwerkeffekte entscheidend. Je mehr | |
Restaurants ihr Essen auf einer Plattform anbieten, desto interessanter ist | |
sie für Kunden – und je mehr Kunden dort suchen, desto mehr Anbieter wollen | |
dort präsent sein. Deshalb gibt es eine Tendenz zur Monopolbildung. | |
Die Plattformökonomie prägt heute in vielen Bereichen den Alltag der | |
Menschen. Sie wachen mit Musik von Spotify auf, checken die ersten | |
Nachrichten auf Facebook, navigieren mit Google Maps durch die Stadt. | |
Selbst wer nur für den Nachbarn ein Paket von Amazon annimmt, ist Teil | |
dieser Ökonomie – vorbei kommt an den großen Plattformen heute kaum jemand | |
mehr. | |
Und in Zeiten von Corona und Ausgangsbeschränkungen sind viele dieser | |
Plattformen wichtiger denn je. Weil Restaurants die Vorortbewirtung | |
mittlerweile untersagt ist, gilt das auch für Essenslieferdienste. Wobei | |
noch nicht klar ist, ob sie von der Krise wirklich profitieren werden. | |
„In den vergangenen Tagen haben wir einen wesentlichen Anstieg der Anfragen | |
durch Restaurants feststellen können“, sagt eine Sprecherin von | |
Branchenführer Takeaway. Die Lieferung werde zur Alternative für | |
Restaurants, die ihre Gäste nicht mehr in ihren Räumen bewirten dürften. | |
Gleichzeitig hätten aber viele auf der Plattform aktive Restaurants | |
entschieden, ihre Küchen ganz zu schließen, die Angebote entfallen. Für | |
Zahlen sei es daher noch zu früh. | |
Viele Unternehmen der Plattformökonomie wie Facebook und Amazon haben den | |
Ruf, ihre Mitarbeiter prekär zu beschäftigen – ohne Mitspracherechte. Und | |
zudem auch Unmengen Daten über ihre Kunden zu sammeln. | |
Hinter dem Vorhaben von Lombardo und seinen Freunden steht deshalb die | |
Frage: Lässt sich Plattformökonomie mit ihren häufig prekären | |
Arbeitsbedingungen, ihrer Datensammelei und Intransparenz auch gut | |
ausgestalten? Also korrekt, selbstbestimmt, gemeinschaftlich, vielleicht | |
sogar fair, transparent, nachhaltig? | |
Doch zunächst ein Besuch beim Branchengrößten Takeaway. Es ist ein | |
Wintertag vor Corona, Mittagszeit. Im sechsten Stock eines Bürogebäudes am | |
Berliner Landwehrkanal öffnet sich die Fahrstuhltür fast im Minutentakt. | |
Heraus kommen Menschen in dicken Jacken und Mützen, viele mit | |
Fahrradhelmen, alle mit überdimensionierten würfelförmigen Rucksäcken, aus | |
denen sie Papiertüten holen. Papiertüten mit fertig gekochten Mahlzeiten | |
aus unterschiedlichen Restaurants. | |
In der Berliner Niederlassung der niederländischen Lieferplattform Takeaway | |
bleiben viele Mitarbeiter:innen auch beim Mittagessen ihrem Arbeitgeber | |
treu und gehen nicht in eines der Lokale der Nachbarschaft, sie lassen sich | |
das Essen lieber bringen. In einem verglasten Raum sitzt Jörg Gerbig. Er | |
ist einer der Gründer von Lieferando. | |
Seit sechs Jahren gehört Lieferando zu Takeaway, Gerbig ist vom | |
Start-up-Gründer zu einem der Geschäftsführer eines mittlerweile über | |
Europa hinaus expandierenden Unternehmens geworden. Ein Unternehmen, das in | |
manchen Ländern gerade zu einem Anbieter mit marktbeherrschender Stellung | |
wird. | |
Wenn Gerbig von den Gründungszeiten erzählt, klingt es, als würde er aus | |
einem anderen Leben berichten. Wie er mit seinen beiden Mitgründern alles | |
selbst gemacht habe – damals. Wie sie für die Akquise von Restaurant zu | |
Restaurant gezogen seien, um zu fragen, ob diese mitmachten. Wie sie sich | |
den Kundenservice tageweise aufgeteilt hätten. „Man hat da bis nachts um 12 | |
Uhr gesessen und sich über jede Bestellung gefreut, die reinkam.“ Und wie | |
sie bei technischen Fehlern der Pizza hinterhertelefoniert hätten. | |
Heute ist das anders. Gerbig muss nicht nachschauen, er hat alle Zahlen | |
parat. 70 bis 80 Prozent der Deutschen bestellen mindestens einmal im Jahr | |
Essen. Und: 13 Prozent der Deutschen haben in den vergangenen 12 Monaten | |
über Takeaway bestellt. Das heißt: Da geht noch was für sein Unternehmen. | |
Gerbig ist aber in der günstigen Situation, dass in Deutschland gerade kein | |
ernsthafter Konkurrent mehr am Markt ist. Einige hat Takeaway selbst | |
geschluckt, wie Foodora, Lieferheld und Pizza.de, die zuletzt zu Delivery | |
Hero gehörten. Andere haben einfach aufgegeben. Zuletzt Deliveroo. Das | |
Unternehmen, für das Radkurier Lombardo arbeitete, zog sich im vergangenen | |
Sommer aus dem deutschen Markt zurück. | |
Gerbig formuliert es so: „Wir konkurrieren vornehmlich mit dem Telefon.“ | |
Mit dem etwas in die Jahre gekommenen Ansatz, eine Bestellung telefonisch | |
bei einem Restaurant direkt aufzugeben. Das Marketingbudget dieses | |
Ansatzes: überschaubar. | |
In seinem Jahresbericht 2019, der gerade veröffentlicht wurde, listet | |
Takeaway die folgenden Zahlen auf: 19,5 Millionen aktive Nutzer:innen, 159 | |
Millionen abgewickelte Bestellungen im vergangenen Jahr. Davon 69,5 | |
Millionen in Deutschland, wie das Unternehmen auf Nachfrage mitteilt. In | |
diesem Jahr dürfte die Zahl dann noch deutlich höher liegen. | |
Zum einen, weil die Übernahme des Konkurrenten Delivery Hero Deutschland | |
erst im vergangenen April abgeschlossen wurde. Und zum anderen, weil sich | |
als erste Prognose sagen lässt: Lieferdienste, und zwar sowohl solche, die | |
Einkäufe aus dem Supermarkt bringen, als auch solche, die Mahlzeiten aus | |
Restaurants liefern, könnten von den Bewegungseinschränkungen wegen Corona | |
profitieren. | |
In welche Richtung sich die Branche letztlich entwickelt, ist aber noch | |
offen. Ob eine Plattform wie Takeaway profitiert, weil jetzt alle online | |
bestellen, oder verliert, weil die Menschen lieber hamstern und selber | |
kochen, um Geld zu sparen, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen. | |
An den beiden Berliner Standorten von Takeaway arbeiten 700 Menschen, bis | |
auf weniger als zehn sind sie nun ins Homeoffice umgezogen. Und die | |
Fahrer:innen holen sich normalerweise zu Beginn ihrer Schicht ein Fahrrad | |
in einem Hub ab und geben es nach Schichtende wieder zurück. Jetzt sind | |
alle angehalten, wenn möglich eigene Räder zu benutzen, um das | |
Ansteckungsrisiko zu verringern. | |
Takeaway ist ein klassischer Vertreter der Plattformökonomie. Das | |
Unternehmen verdient sein Geld mit einer Plattform, die Dienste vermittelt | |
und strebt damit eine marktbeherrschende Stellung an. Jörg Gerbig spricht | |
in dem verglasten Raum deshalb über Netzwerkeffekte. „The winner takes it | |
all“ ist dabei das Prinzip. Oder wie der Niederländer Jitse Groen, Gründer | |
von Takeaway, es einmal formulierte: „Als Nummer zwei kann man kein Geld | |
verdienen.“ | |
Das Prinzip Wo-alle-hingehen-gehen-alle-hin funktioniert auf vielen Ebenen, | |
nicht nur bei Restaurants und hungrigen Menschen. Auch bei Apartments und | |
Urlauber:innen (Airbnb), bei Händler:innen und Käufer:innen (Amazon), bei | |
Menschen, die Sex (Tinder) oder Unterhaltung suchen (Tiktok), bei Menschen | |
mit und ohne Auto (Uber) oder bei solchen mit und ohne | |
Do-it-yourself-Fähigkeiten (Etsy). Allerdings sind die verschiedenen | |
Plattformen jetzt auch auf ganz unterschiedliche Weise von Corona und den | |
Folgen betroffen (siehe Kasten). | |
Wegen des Netzwerkeffekts setzen Startups, die nach der Marktführerschaft | |
streben, in den ersten Jahren auf aggressives Wachstum. Und dafür braucht | |
es viel Risikokapital – sich bekannt machen, Kunden gewinnen, zum Magneten | |
werden, der alle anzieht. Gewinn ist in dieser Phase nachrangig. Denn der | |
lässt sich leicht generieren, wenn man erst Quasimonopolist ist. | |
Für die Gesellschaft hat dieses Modell aber mehrere Haken. Monopole können | |
Preise diktieren und die Arbeitsbedingungen prägen, ebenso die Konditionen | |
in Sachen Datenschutz, Geschäftsbeziehungen, Standards. Weil kaum ein | |
Händler mehr an Amazon vorbeikommt, kann der US-Konzern sie tanzen lassen | |
wie Marionetten. Weil Facebook als Onlinenetzwerk immer noch unangefochten | |
ist, lesen Nutzer:innen eine Änderung der Datenschutzbestimmungen nicht | |
einmal durch – was sollen sie machen, sie haben doch eh keine Wahl. | |
Und wenn eines Tages eine Plattform – egal ob Takeway oder vielleicht ein | |
Amazon-Dienst – den Lieferdienstmarkt beherrscht, dann setzt dieses | |
Unternehmen Maßstäbe für diesen Sektor. Denkbar wäre zum Beispiel, dass es | |
Einfluss auf die Preis- oder Angebotsgestaltung der Restaurants nimmt, | |
genauso auf deren Öffnungszeiten. Dass es Daten von Nutzer:innen an andere | |
Unternehmen verkauft. „Guten Tag, Sie bestellen doch immer das glutenfreie | |
Essen. Wir hätten da ein paar passende Nahrungsergänzungsmittel für Sie.“ | |
Das ist das große Bild, die Systemkritik. Doch für Stefano Lombardo und | |
seine Freunde war bei der Gründung ihrer Lieferdienstplattform Kolyma 2 | |
etwas anderes wichtig: Selbstbestimmung. Deshalb war er ein Deliveroo-Fan, | |
obwohl die Gewerkschaften das Unternehmen kritisierten. Denn die | |
Fahrer:innen waren dort nicht wie bei Takeaway/Lieferando angestellt, sie | |
arbeiteten als Freelancer. | |
Aber genau das war auch einer der Kulturkonflikte in der Wahrnehmung | |
einiger Beteiligter: Die Takeaway/Lieferando-Fahrer:innen als die bequemen | |
Angestellten, die sich nicht beeilen mussten, schließlich hatten sie ihren | |
Stundenlohn sicher. Und die schnellen Flitzer:innen von Deliveroo, die | |
durch den kreativen Umgang mit dem Stadtverkehr Stundenlöhne einfuhren, von | |
denen Lieferando-Fahrer:innen nur träumen konnten. Die keine | |
Arbeitskleidung mit Corporate-Design tragen mussten. Etabliert versus cool. | |
Langsam versus schnell. Fremdbestimmt versus selbstbestimmt. | |
Mit der Gründung von Kolyma 2 sollte es aber nicht um Konkurrenz zu | |
Takeaway gehen, das hätte auch Stefano Lombardo als unrealistisch | |
abgelehnt, sondern um etwas Kleineres. Und zugleich etwas viel Größeres. | |
Lombardo beschreibt es so: „Als Kollektiv wollten wir alles | |
gleichberechtigt machen, und alle sollten mitentscheiden.“ | |
Kann das funktionieren in der Plattformökonomie? Ela Kagel würde sagen: Ja. | |
Sie sitzt in einem Raum in Berlin-Kreuzberg, der Supermarkt heißt, aber mit | |
einem klassischen Lebensmittelhändler so viel zu tun hat wie ein Kollektiv | |
mit einem Risikoinvestor. Der Supermarkt ist eine Art Netzwerkpunkt weit | |
über Kreuzberg hinaus und Gründerin Ela Kagel, Netzwerkerin, Beraterin und | |
Digitalstrategin, sitzt an einem großen Holztisch, vor sich eine Tasse Tee, | |
hinter sich einen Flipchart mit Wörtern, die auch hinter Jörg Gerbig stehen | |
könnten. „Design Thinking“. | |
Kagel sagt: „Wir brauchen eine komplett andere Sicht auf Wirtschaft, damit | |
so etwas wie Kolyma 2 funktionieren kann.“ | |
Wenn sie über alternatives Wirtschaften spricht, kann ein Lexikon hilfreich | |
sein. Sie sagt Sätze wie diesen: „Das Multi-Stakeholder-Modell von Elinor | |
Ostrom beschreibt sehr gut, wie Coops es schaffen können, erfolgreich zu | |
sein.“ Also nacheinander: Coops sind Unternehmen, die kooperativ | |
wirtschaften. Kooperativ, das heißt, alle Mitglieder können auch | |
mitentscheiden. Egal ob sie nun Mitarbeitende, Kund:innen oder | |
Unterstützer:innen sind. | |
Elinor Ostrom war eine US-amerikanische Politikwissenschaftlerin, die als | |
erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam. Sie | |
beschäftigte sich unter anderem mit dem gemeinschaftlichen Nutzen von | |
Ressourcen – etwas, das unter dem Begriff Allmende bekannt ist. Und sie | |
formulierte, wie Unternehmen ohne Risikoinvestoren, ohne Business Angels | |
und ohne dass ihre Gründer:innen ein bequemes Finanzpolster mitbringen, | |
funktionieren können. Nämlich mit der Unterstützung von allen relevanten | |
gesellschaftlichen Akteur:innen. Von der Bürgermeisterin über den Vermieter | |
bis hin zum einzelnen Bürger. | |
Stefano Lombardo startete also an einem Freitag im August – mit zwei | |
Restaurants im Portfolio, zwei, die er selbst mochte. Und die er mit einem | |
Freund, ebenfalls ehemaliger Deliveroo-Fahrer, selbst akquiriert hatte, | |
genau wie Lieferando-Gründer Gerbig in seiner Anfangszeit. Und mit einem | |
eher übersichtlichen Plan darüber, was die nächsten Tage bringen würden. Am | |
ersten Wochenende hatten sie fünf Bestellungen, zwei waren von Freunden. | |
„Es war alles sehr improvisiert“, sagt Lombardo. Ziel sei gewesen: jedes | |
Wochenende eine Bestellung mehr. Es kam dann anders. | |
Lombardo und Kagel sind nicht die Einzigen, die die Idee haben, dass es | |
Plattformen doch auch irgendwie in besser geben muss. Einige Versuche, das | |
umzusetzen, gibt es bereits: Fairmondo etwa, das eine Alternative bieten | |
will zu Amazon, schon seit Jahren aber in einer sehr übersichtlichen Nische | |
bleibt. Jünger und vielleicht vielversprechender: Fairbnb, das mittlerweile | |
in fünf Städten beim Wohnungsvermieten hilft – aber anders als Airbnb mit | |
lokalen Behörden zusammenarbeitet und die Hälfte der Provision an lokale | |
Projekte spendet. Oder der Streamingsdienst Resonate, der mit dem Motto | |
„Play fair“ eine Alternative zu Spotify sein will. | |
„Viele Menschen merken mittlerweile, dass die herkömmliche | |
Plattformökonomie undemokratisch ist und die Schere zwischen Arm und Reich | |
weiter auseinandertreibt“, sagt Ela Kagel. | |
Slack, Facebook, Spotify. Match, Uber, Takeaway. Wer sich die Plattformen | |
anschaut, stellt fest, dass sie eines gemeinsam haben: Sie müssen kaum in | |
materielle Güter investieren wie noch die produzierende Industrie. Sie | |
können also sehr viel Geld für das ausgeben, was sie in die | |
marktbeherrschende Stellung bringt: Marketing. Klassischerweise läuft es | |
daher so: Das Unternehmen steckt so lange Investorengelder in die | |
Neukundengewinnung, bis es quasi ein Monopolist ist. Konkurrenten, die zu | |
vielversprechend werden, versucht man, zu übernehmen. Jörg Gerbig sagt | |
daher auch: „Für uns ist die größte Herausforderung Wachstum.“ | |
Stefano Lombardo hat kein Budget für Werbung, als er im August mit Kolyma 2 | |
loslegt. Er hat einen Twitter-Account, einen Instagram-Account, einen bei | |
Facebook. Und Freunde. Und offenbar gibt es eine Überschneidung zwischen | |
denen, die sich Essenslieferungen leisten können, und denen, die ein aus | |
dem Boden gestampftes Kollektiv, das zwar teurer ist und schlechter | |
organisiert als der Marktführer, sympathisch finden. Leute, die bewusst | |
dort bestellen. Und Trinkgeld geben. Und es weiter empfehlen, an Freunde | |
und Arbeitskolleg:innen. | |
Die Zahl der Bestellungen steigt. Restaurants klopfen an, neue Fahrer:innen | |
kommen dazu, die Zahl der Bestellungen steigt weiter. Irgendwann sind es | |
etwa 60 Menschen, die in irgendeiner Form bei Kolyma 2 mitmachen. Die Essen | |
ausliefern oder am Dispatching arbeiten, also daran, die Kurier:innen | |
möglichst effizient von Restaurant A zu Kunde B und danach zu Lokal C zu | |
schicken. | |
Und mittendrin Lombardo, der versucht, den Überblick zu behalten, Konflikte | |
zu schlichten, eine Struktur reinzubringen. Dabei wollte er eigentlich nur | |
Fahrrad fahren. Es passieren damals merkwürdige Sachen, erzählt Lombardo im | |
Rückblick. Dynamiken im Team, die nicht gerade dazu beitragen, dass es eine | |
gute, gleichberechtigt arbeitende Gemeinschaft ist. | |
Manche hätten sich geweigert, beim Organisatorischen mitzuhelfen, und nur | |
Lieferungen gemacht. Das Problem: Nur wer liefert, habe auch Geld verdient, | |
eine Umlage habe gefehlt. Dazu seien Rivalitäten zwischen verschiedenen | |
Gruppen entstanden, schlechte Stimmung, Überarbeitung. „Wir haben sieben | |
Tage die Woche gearbeitet, zwölf Stunden am Tag“, sagt Lombardo. | |
Im Oktober versucht Ela Kagel noch zu retten, was fast nicht mehr zu retten | |
ist. Sie organisiert ein Treffen, bei dem sie nach dem Ostrom'schen Konzept | |
das machen will, was helfen kann: die Stakeholder zusammenbringen. Sie | |
sollen das schaffen, was Lombardo und seine Kolleg:innen bislang vergeblich | |
versucht haben: aus einem interessanten Projekt mit Potenzial ein auch auf | |
längere Sicht laufendes Unternehmen zu machen. Einen Businessplan | |
aufstellen, Fördermöglichkeiten suchen, politische Unterstützung ausloten. | |
„Wenn wir eine klassische Unternehmensberatung wären“, sagt Kagel, „dann | |
hätten wir gesagt, die haben keine Chance.“ Improvisierte Organisation, | |
prekäre Arbeitssituation für einen Teil der Mitarbeitenden, interne | |
Konflikte. Und dann ist die Gewinnmarge bei Essenslieferungen ohnehin | |
klein. Kann da noch etwas zu retten sein? Es wäre leicht gewesen, zu sagen: | |
Lasst es einfach bleiben. Kooperatives Unternehmen gut und schön, aber | |
prekäre Arbeitsbedingungen und interne Konflikte kann man bei anderen | |
Kurierdiensten auch haben. Warum also braucht es noch einen weiteren | |
Lieferdienst? | |
„Natürlich, dass Kolyma 2 die Leute fair behandelt und es schafft, dem | |
ganzen Plastikberg in dem Geschäft etwas entgegenzusetzen, müssen sie erst | |
noch beweisen“, sagt Kagel. Aber kollektiv wirtschaftende Unternehmen | |
hätten all den GmbHs und AGs, den UGs und Limiteds, die in Vorständen und | |
Führungsebenen organisiert sind, eines voraus: „Sie geben ihren Gewinn an | |
die Gemeinschaft zurück.“ Dadurch werde die Asymmetrie abgebaut, die sonst | |
lautet: Die oben haben mehr Geld als Arbeit, die unten mehr Arbeit als | |
Geld. | |
Doch Kolyma 2 schafft es nicht. Am 4. November 2019 stellen sie ihr | |
Geschäft ein. Zunächst einmal, das ist der Plan. „Winterschlaf“ steht auf | |
der rudimentären Retro-Website, die sie für ihre Kund:innen gebaut haben. | |
Doch statt zu schlafen, macht Lombardo weiter. „Ziel des ersten Anlaufs war | |
es, zu zeigen, dass es möglich ist, einen Lieferservice in Selbstverwaltung | |
aufzubauen“, sagt er. „Jetzt geht es darum, das auch wirtschaftlich und | |
nachhaltig zu machen.“ | |
Lombardo trifft sich zum Beispiel mit Magdalena Ziomek. Sie ist selbst | |
Gründerin und hat eine Genossenschaft aufgebaut, die eines der zentralen | |
Probleme von Selbstständigen, von Kleinunternehmer:innen und allen, die mit | |
ihren Arbeitsformen irgendwie aus dem klassischen Raster herausfallen, | |
lösen soll: Sie können sich über die Genossenschaft anstellen lassen, | |
führen einen Teil ihrer Einnahmen ab und bekommen im Gegenzug bezahlbare | |
Versicherungen. Die Genossenschaft unterstützt beim Administrativen, etwa | |
bei der Rechnungsstellung. Ela Kagel sagt über Ziomek und die | |
Smart-Genossenschaft: „Sie hacken das System, und zwar auf eine gute und | |
legale Art und Weise.“ | |
Vielleicht ist Lombardo auch einfach an einem Punkt, an dem Jörg Gerbig | |
nach der Gründung von Lieferando war. Als er und seine beiden Mitgründer | |
sich die Kundenbetreuungsschichten aufteilten, der Pizza | |
hinterhertelefonierten. An dem Punkt, an dem man auch für sich selbst | |
entscheiden muss: Ist es das? Und wenn ja: Soll das nur etwas für mich | |
selbst sein oder will ich ein Unternehmen aufbauen, das es auch dann noch | |
gibt, wenn ich selbst nicht mehr Burger in Wärmeboxen ausliefern möchte? | |
Lombardo und Gerbig nähern sich auf jeden Fall gerade wieder an – | |
unabsichtlich. Denn mit dem Coronavirus zeichnen sich auch Veränderungen in | |
der Logistikbranche ab. Große wie die, dass die Lieferfenster von | |
Lebensmittellieferdiensten und Drogerien über Wochen im Voraus ausgebucht | |
sind und Amazon als eines der größten Plattformunternehmen 100.000 neue | |
Jobs ausschreibt, um die gestiegene Nachfrage bewältigen zu können. Und | |
kleine Veränderungen. Für Takeaway und Kolyma 2 heißt eine davon: | |
kontaktlose Lieferung. Die Kurier:innen stellen die Lieferungen vor die | |
Tür, Bezahlung, Trinkgeld, alles bargeldlos. | |
Eine steigende Nachfrage von Restaurants wegen Corona bemerkt auch Lombardo | |
zurzeit. Im Februar hatte er gerade mit zwei Mitstreiter:innen einen | |
zweiten Anlauf gestartet, zunächst am Wochenende. Doch nun, wo gilt, | |
Verkauf nur außer Haus, fragten Restaurants, ob sie auch unter der Woche | |
liefern könnten. Eine Handvoll seien es täglich, erzählt Lombardo Ende | |
März. Er achtet beim Fahren und Ausliefern jetzt darauf, genug Abstand zu | |
anderen zu halten. Jeden Abend wäscht er seine Kleidung, auch Kappe und | |
Handschuhe. | |
Er will es diesmal mit seinem Lieferdienst anders machen als beim letzten | |
Mal. Bewusst klein denken, einen Schritt nach dem nächsten, sich nicht | |
überrollen lassen. Und sein nächster Schritt könnte sein: Einkäufe liefern. | |
Nicht von Rewe oder Edeka, das machen die selber und mit einer ganz anderen | |
Logistikinfrastruktur. Sondern von kleinen Bioläden oder Biosupermärkten. | |
„Angesichts der aktuellen Situation ist das sinnvoller, als einzelne | |
Mahlzeiten zu liefern“, sagt Lombardo mit Blick auf die | |
Ausgangsbeschränkungen. | |
Ela Kagel dachte schon vor Corona in eine ähnliche Richtung: „Die könnten | |
ein ganz neues Mobilitätsnetzwerk aufbauen“, sagt sie. Ihr schwebt ein | |
Dienst vor, der weite Teile der privaten Logistik abnimmt – autofrei | |
natürlich. Jemanden per Fahrradrikscha zum Arzt fahren etwa oder das | |
Altglas wegbringen. Kagel ist überzeugt: „Darin liegt ein Riesenpotenzial, | |
das irgendwann ausgeschöpft werden wird.“ | |
Vielleicht ist dann ja mal nicht eine investorenfinanzierte Plattform die | |
erste. Sondern ein kleines Kollektiv, in dem es vor allem um | |
Selbstbestimmung geht. | |
28 Mar 2020 | |
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Svenja Bergt | |
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