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# taz.de -- Essenslieferdienste in der Corona-Krise: Alles frei Haus, bitte
> Essenslieferdienste sind gerade beliebt wie nie. Die Branche ist bekannt
> für prekäre Arbeitsbedingungen. Ein Kollektiv will nun vieles anders
> machen.
Bild: Stefano Lombardo
Die Nachricht kommt per E-Mail. Sie bedeutet für Stefano Lombardo ein Ende
und zugleich einen Neuanfang. An einem Montag im August 2019 findet er die
E-Mail in seinem Postfach. „Lieber Stefano Lombardo“, beginnt sie, dann
folgen Sätze, die ihn auf Deutsch und Englisch darüber informieren, dass
der [1][Essenslieferdienst Deliveroo], für den er die vergangenen Jahre
Pizzen, Sushi und Thai Bowls durch Berlin gefahren hat, seinen Betrieb
einstellt. Und zwar schon am folgenden Freitag.
Für Lombardo ist klar: Jetzt bekommt er seine Chance. Die Chance, das
umzusetzen, was er schon länger im Kopf hat: einen eigenen Lieferdienst.
„Am Mittwoch haben wir mit dem Organisieren angefangen“, sagt er. „Und am
Freitag sind wir gestartet.“
Lombardo und seine Freunde wollen nicht einfach einen Kurierdienst
aufbauen, sondern ein Kollektiv, das eine kleine Alternative zu den Großen
der Branche sein will. Mehr Selbstbestimmung, mehr Freiheit, mehr innere
Werte. Vielleicht sogar Nachhaltigkeit, Gemeinschaftsgefühl, Transparenz.
Lombardo, 42 Jahre alt, ist schon von Weitem als Fahrradkurier zu erkennen,
selbst dann, wenn er gerade ein paar Schritte ohne Fahrrad macht.
Kuriertasche über der Schulter, wetterfeste Kleidung gegen den
Großstadtwinter und Ringelsocken, die zwischen Szenegag und ernst gemeint
changieren.
Seit zehn Jahren ist er als Kurier unterwegs – zunächst mit dem Auto, seit
fünf Jahren als Fahrradkurier für Essensbestellungen. „Ich mag das
Freiheitsgefühl“, sagt er. „Draußen sein, nicht im Büro, keinen Chef
haben.“ Und die Bezahlung bei Deliveroo sei auch gut gewesen, der
Leidensdruck gering. „Aber sobald sie weg waren, wollten wir es probieren.“
Essenslieferungen sind ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark von
der Plattformökonomie verändert wurde. Die heißt so, weil hier Anbieter und
Kunden auf einer digitalen Plattform, einem virtuellen Marktplatz
zusammengebracht werden. Dabei sind Netzwerkeffekte entscheidend. Je mehr
Restaurants ihr Essen auf einer Plattform anbieten, desto interessanter ist
sie für Kunden – und je mehr Kunden dort suchen, desto mehr Anbieter wollen
dort präsent sein. Deshalb gibt es eine Tendenz zur Monopolbildung.
Die Plattformökonomie prägt heute in vielen Bereichen den Alltag der
Menschen. Sie wachen mit Musik von Spotify auf, checken die ersten
Nachrichten auf Facebook, navigieren mit Google Maps durch die Stadt.
Selbst wer nur für den Nachbarn ein Paket von Amazon annimmt, ist Teil
dieser Ökonomie – vorbei kommt an den großen Plattformen heute kaum jemand
mehr.
Und in Zeiten von Corona und Ausgangsbeschränkungen sind viele dieser
Plattformen wichtiger denn je. Weil Restaurants die Vorortbewirtung
mittlerweile untersagt ist, gilt das auch für Essenslieferdienste. Wobei
noch nicht klar ist, ob sie von der Krise wirklich profitieren werden.
„In den vergangenen Tagen haben wir einen wesentlichen Anstieg der Anfragen
durch Restaurants feststellen können“, sagt eine Sprecherin von
Branchenführer Takeaway. Die Lieferung werde zur Alternative für
Restaurants, die ihre Gäste nicht mehr in ihren Räumen bewirten dürften.
Gleichzeitig hätten aber viele auf der Plattform aktive Restaurants
entschieden, ihre Küchen ganz zu schließen, die Angebote entfallen. Für
Zahlen sei es daher noch zu früh.
Viele Unternehmen der Plattformökonomie wie Facebook und Amazon haben den
Ruf, ihre Mitarbeiter prekär zu beschäftigen – ohne Mitspracherechte. Und
zudem auch Unmengen Daten über ihre Kunden zu sammeln.
Hinter dem Vorhaben von Lombardo und seinen Freunden steht deshalb die
Frage: Lässt sich Plattformökonomie mit ihren häufig prekären
Arbeitsbedingungen, ihrer Datensammelei und Intransparenz auch gut
ausgestalten? Also korrekt, selbstbestimmt, gemeinschaftlich, vielleicht
sogar fair, transparent, nachhaltig?
Doch zunächst ein Besuch beim Branchengrößten Takeaway. Es ist ein
Wintertag vor Corona, Mittagszeit. Im sechsten Stock eines Bürogebäudes am
Berliner Landwehrkanal öffnet sich die Fahrstuhltür fast im Minutentakt.
Heraus kommen Menschen in dicken Jacken und Mützen, viele mit
Fahrradhelmen, alle mit überdimensionierten würfelförmigen Rucksäcken, aus
denen sie Papiertüten holen. Papiertüten mit fertig gekochten Mahlzeiten
aus unterschiedlichen Restaurants.
In der Berliner Niederlassung der niederländischen Lieferplattform Takeaway
bleiben viele Mitarbeiter:innen auch beim Mittagessen ihrem Arbeitgeber
treu und gehen nicht in eines der Lokale der Nachbarschaft, sie lassen sich
das Essen lieber bringen. In einem verglasten Raum sitzt Jörg Gerbig. Er
ist einer der Gründer von Lieferando.
Seit sechs Jahren gehört Lieferando zu Takeaway, Gerbig ist vom
Start-up-Gründer zu einem der Geschäftsführer eines mittlerweile über
Europa hinaus expandierenden Unternehmens geworden. Ein Unternehmen, das in
manchen Ländern gerade zu einem Anbieter mit marktbeherrschender Stellung
wird.
Wenn Gerbig von den Gründungszeiten erzählt, klingt es, als würde er aus
einem anderen Leben berichten. Wie er mit seinen beiden Mitgründern alles
selbst gemacht habe – damals. Wie sie für die Akquise von Restaurant zu
Restaurant gezogen seien, um zu fragen, ob diese mitmachten. Wie sie sich
den Kundenservice tageweise aufgeteilt hätten. „Man hat da bis nachts um 12
Uhr gesessen und sich über jede Bestellung gefreut, die reinkam.“ Und wie
sie bei technischen Fehlern der Pizza hinterhertelefoniert hätten.
Heute ist das anders. Gerbig muss nicht nachschauen, er hat alle Zahlen
parat. 70 bis 80 Prozent der Deutschen bestellen mindestens einmal im Jahr
Essen. Und: 13 Prozent der Deutschen haben in den vergangenen 12 Monaten
über Takeaway bestellt. Das heißt: Da geht noch was für sein Unternehmen.
Gerbig ist aber in der günstigen Situation, dass in Deutschland gerade kein
ernsthafter Konkurrent mehr am Markt ist. Einige hat Takeaway selbst
geschluckt, wie Foodora, Lieferheld und Pizza.de, die zuletzt zu Delivery
Hero gehörten. Andere haben einfach aufgegeben. Zuletzt Deliveroo. Das
Unternehmen, für das Radkurier Lombardo arbeitete, zog sich im vergangenen
Sommer aus dem deutschen Markt zurück.
Gerbig formuliert es so: „Wir konkurrieren vornehmlich mit dem Telefon.“
Mit dem etwas in die Jahre gekommenen Ansatz, eine Bestellung telefonisch
bei einem Restaurant direkt aufzugeben. Das Marketingbudget dieses
Ansatzes: überschaubar.
In seinem Jahresbericht 2019, der gerade veröffentlicht wurde, listet
Takeaway die folgenden Zahlen auf: 19,5 Millionen aktive Nutzer:innen, 159
Millionen abgewickelte Bestellungen im vergangenen Jahr. Davon 69,5
Millionen in Deutschland, wie das Unternehmen auf Nachfrage mitteilt. In
diesem Jahr dürfte die Zahl dann noch deutlich höher liegen.
Zum einen, weil die Übernahme des Konkurrenten Delivery Hero Deutschland
erst im vergangenen April abgeschlossen wurde. Und zum anderen, weil sich
als erste Prognose sagen lässt: Lieferdienste, und zwar sowohl solche, die
Einkäufe aus dem Supermarkt bringen, als auch solche, die Mahlzeiten aus
Restaurants liefern, könnten von den Bewegungseinschränkungen wegen Corona
profitieren.
In welche Richtung sich die Branche letztlich entwickelt, ist aber noch
offen. Ob eine Plattform wie Takeaway profitiert, weil jetzt alle online
bestellen, oder verliert, weil die Menschen lieber hamstern und selber
kochen, um Geld zu sparen, wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen.
An den beiden Berliner Standorten von Takeaway arbeiten 700 Menschen, bis
auf weniger als zehn sind sie nun ins Homeoffice umgezogen. Und die
Fahrer:innen holen sich normalerweise zu Beginn ihrer Schicht ein Fahrrad
in einem Hub ab und geben es nach Schichtende wieder zurück. Jetzt sind
alle angehalten, wenn möglich eigene Räder zu benutzen, um das
Ansteckungsrisiko zu verringern.
Takeaway ist ein klassischer Vertreter der Plattformökonomie. Das
Unternehmen verdient sein Geld mit einer Plattform, die Dienste vermittelt
und strebt damit eine marktbeherrschende Stellung an. Jörg Gerbig spricht
in dem verglasten Raum deshalb über Netzwerkeffekte. „The winner takes it
all“ ist dabei das Prinzip. Oder wie der Niederländer Jitse Groen, Gründer
von Takeaway, es einmal formulierte: „Als Nummer zwei kann man kein Geld
verdienen.“
Das Prinzip Wo-alle-hingehen-gehen-alle-hin funktioniert auf vielen Ebenen,
nicht nur bei Restaurants und hungrigen Menschen. Auch bei Apartments und
Urlauber:innen (Airbnb), bei Händler:innen und Käufer:innen (Amazon), bei
Menschen, die Sex (Tinder) oder Unterhaltung suchen (Tiktok), bei Menschen
mit und ohne Auto (Uber) oder bei solchen mit und ohne
Do-it-yourself-Fähigkeiten (Etsy). Allerdings sind die verschiedenen
Plattformen jetzt auch auf ganz unterschiedliche Weise von Corona und den
Folgen betroffen (siehe Kasten).
Wegen des Netzwerkeffekts setzen Startups, die nach der Marktführerschaft
streben, in den ersten Jahren auf aggressives Wachstum. Und dafür braucht
es viel Risikokapital – sich bekannt machen, Kunden gewinnen, zum Magneten
werden, der alle anzieht. Gewinn ist in dieser Phase nachrangig. Denn der
lässt sich leicht generieren, wenn man erst Quasimonopolist ist.
Für die Gesellschaft hat dieses Modell aber mehrere Haken. Monopole können
Preise diktieren und die Arbeitsbedingungen prägen, ebenso die Konditionen
in Sachen Datenschutz, Geschäftsbeziehungen, Standards. Weil kaum ein
Händler mehr an Amazon vorbeikommt, kann der US-Konzern sie tanzen lassen
wie Marionetten. Weil Facebook als Onlinenetzwerk immer noch unangefochten
ist, lesen Nutzer:innen eine Änderung der Datenschutzbestimmungen nicht
einmal durch – was sollen sie machen, sie haben doch eh keine Wahl.
Und wenn eines Tages eine Plattform – egal ob Takeway oder vielleicht ein
Amazon-Dienst – den Lieferdienstmarkt beherrscht, dann setzt dieses
Unternehmen Maßstäbe für diesen Sektor. Denkbar wäre zum Beispiel, dass es
Einfluss auf die Preis- oder Angebotsgestaltung der Restaurants nimmt,
genauso auf deren Öffnungszeiten. Dass es Daten von Nutzer:innen an andere
Unternehmen verkauft. „Guten Tag, Sie bestellen doch immer das glutenfreie
Essen. Wir hätten da ein paar passende Nahrungsergänzungsmittel für Sie.“
Das ist das große Bild, die Systemkritik. Doch für Stefano Lombardo und
seine Freunde war bei der Gründung ihrer Lieferdienstplattform Kolyma 2
etwas anderes wichtig: Selbstbestimmung. Deshalb war er ein Deliveroo-Fan,
obwohl die Gewerkschaften das Unternehmen kritisierten. Denn die
Fahrer:innen waren dort nicht wie bei Takeaway/Lieferando angestellt, sie
arbeiteten als Freelancer.
Aber genau das war auch einer der Kulturkonflikte in der Wahrnehmung
einiger Beteiligter: Die Takeaway/Lieferando-Fahrer:innen als die bequemen
Angestellten, die sich nicht beeilen mussten, schließlich hatten sie ihren
Stundenlohn sicher. Und die schnellen Flitzer:innen von Deliveroo, die
durch den kreativen Umgang mit dem Stadtverkehr Stundenlöhne einfuhren, von
denen Lieferando-Fahrer:innen nur träumen konnten. Die keine
Arbeitskleidung mit Corporate-Design tragen mussten. Etabliert versus cool.
Langsam versus schnell. Fremdbestimmt versus selbstbestimmt.
Mit der Gründung von Kolyma 2 sollte es aber nicht um Konkurrenz zu
Takeaway gehen, das hätte auch Stefano Lombardo als unrealistisch
abgelehnt, sondern um etwas Kleineres. Und zugleich etwas viel Größeres.
Lombardo beschreibt es so: „Als Kollektiv wollten wir alles
gleichberechtigt machen, und alle sollten mitentscheiden.“
Kann das funktionieren in der Plattformökonomie? Ela Kagel würde sagen: Ja.
Sie sitzt in einem Raum in Berlin-Kreuzberg, der Supermarkt heißt, aber mit
einem klassischen Lebensmittelhändler so viel zu tun hat wie ein Kollektiv
mit einem Risikoinvestor. Der Supermarkt ist eine Art Netzwerkpunkt weit
über Kreuzberg hinaus und Gründerin Ela Kagel, Netzwerkerin, Beraterin und
Digitalstrategin, sitzt an einem großen Holztisch, vor sich eine Tasse Tee,
hinter sich einen Flipchart mit Wörtern, die auch hinter Jörg Gerbig stehen
könnten. „Design Thinking“.
Kagel sagt: „Wir brauchen eine komplett andere Sicht auf Wirtschaft, damit
so etwas wie Kolyma 2 funktionieren kann.“
Wenn sie über alternatives Wirtschaften spricht, kann ein Lexikon hilfreich
sein. Sie sagt Sätze wie diesen: „Das Multi-Stakeholder-Modell von Elinor
Ostrom beschreibt sehr gut, wie Coops es schaffen können, erfolgreich zu
sein.“ Also nacheinander: Coops sind Unternehmen, die kooperativ
wirtschaften. Kooperativ, das heißt, alle Mitglieder können auch
mitentscheiden. Egal ob sie nun Mitarbeitende, Kund:innen oder
Unterstützer:innen sind.
Elinor Ostrom war eine US-amerikanische Politikwissenschaftlerin, die als
erste Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften bekam. Sie
beschäftigte sich unter anderem mit dem gemeinschaftlichen Nutzen von
Ressourcen – etwas, das unter dem Begriff Allmende bekannt ist. Und sie
formulierte, wie Unternehmen ohne Risikoinvestoren, ohne Business Angels
und ohne dass ihre Gründer:innen ein bequemes Finanzpolster mitbringen,
funktionieren können. Nämlich mit der Unterstützung von allen relevanten
gesellschaftlichen Akteur:innen. Von der Bürgermeisterin über den Vermieter
bis hin zum einzelnen Bürger.
Stefano Lombardo startete also an einem Freitag im August – mit zwei
Restaurants im Portfolio, zwei, die er selbst mochte. Und die er mit einem
Freund, ebenfalls ehemaliger Deliveroo-Fahrer, selbst akquiriert hatte,
genau wie Lieferando-Gründer Gerbig in seiner Anfangszeit. Und mit einem
eher übersichtlichen Plan darüber, was die nächsten Tage bringen würden. Am
ersten Wochenende hatten sie fünf Bestellungen, zwei waren von Freunden.
„Es war alles sehr improvisiert“, sagt Lombardo. Ziel sei gewesen: jedes
Wochenende eine Bestellung mehr. Es kam dann anders.
Lombardo und Kagel sind nicht die Einzigen, die die Idee haben, dass es
Plattformen doch auch irgendwie in besser geben muss. Einige Versuche, das
umzusetzen, gibt es bereits: Fairmondo etwa, das eine Alternative bieten
will zu Amazon, schon seit Jahren aber in einer sehr übersichtlichen Nische
bleibt. Jünger und vielleicht vielversprechender: Fairbnb, das mittlerweile
in fünf Städten beim Wohnungsvermieten hilft – aber anders als Airbnb mit
lokalen Behörden zusammenarbeitet und die Hälfte der Provision an lokale
Projekte spendet. Oder der Streamingsdienst Resonate, der mit dem Motto
„Play fair“ eine Alternative zu Spotify sein will.
„Viele Menschen merken mittlerweile, dass die herkömmliche
Plattformökonomie undemokratisch ist und die Schere zwischen Arm und Reich
weiter auseinandertreibt“, sagt Ela Kagel.
Slack, Facebook, Spotify. Match, Uber, Takeaway. Wer sich die Plattformen
anschaut, stellt fest, dass sie eines gemeinsam haben: Sie müssen kaum in
materielle Güter investieren wie noch die produzierende Industrie. Sie
können also sehr viel Geld für das ausgeben, was sie in die
marktbeherrschende Stellung bringt: Marketing. Klassischerweise läuft es
daher so: Das Unternehmen steckt so lange Investorengelder in die
Neukundengewinnung, bis es quasi ein Monopolist ist. Konkurrenten, die zu
vielversprechend werden, versucht man, zu übernehmen. Jörg Gerbig sagt
daher auch: „Für uns ist die größte Herausforderung Wachstum.“
Stefano Lombardo hat kein Budget für Werbung, als er im August mit Kolyma 2
loslegt. Er hat einen Twitter-Account, einen Instagram-Account, einen bei
Facebook. Und Freunde. Und offenbar gibt es eine Überschneidung zwischen
denen, die sich Essenslieferungen leisten können, und denen, die ein aus
dem Boden gestampftes Kollektiv, das zwar teurer ist und schlechter
organisiert als der Marktführer, sympathisch finden. Leute, die bewusst
dort bestellen. Und Trinkgeld geben. Und es weiter empfehlen, an Freunde
und Arbeitskolleg:innen.
Die Zahl der Bestellungen steigt. Restaurants klopfen an, neue Fahrer:innen
kommen dazu, die Zahl der Bestellungen steigt weiter. Irgendwann sind es
etwa 60 Menschen, die in irgendeiner Form bei Kolyma 2 mitmachen. Die Essen
ausliefern oder am Dispatching arbeiten, also daran, die Kurier:innen
möglichst effizient von Restaurant A zu Kunde B und danach zu Lokal C zu
schicken.
Und mittendrin Lombardo, der versucht, den Überblick zu behalten, Konflikte
zu schlichten, eine Struktur reinzubringen. Dabei wollte er eigentlich nur
Fahrrad fahren. Es passieren damals merkwürdige Sachen, erzählt Lombardo im
Rückblick. Dynamiken im Team, die nicht gerade dazu beitragen, dass es eine
gute, gleichberechtigt arbeitende Gemeinschaft ist.
Manche hätten sich geweigert, beim Organisatorischen mitzuhelfen, und nur
Lieferungen gemacht. Das Problem: Nur wer liefert, habe auch Geld verdient,
eine Umlage habe gefehlt. Dazu seien Rivalitäten zwischen verschiedenen
Gruppen entstanden, schlechte Stimmung, Überarbeitung. „Wir haben sieben
Tage die Woche gearbeitet, zwölf Stunden am Tag“, sagt Lombardo.
Im Oktober versucht Ela Kagel noch zu retten, was fast nicht mehr zu retten
ist. Sie organisiert ein Treffen, bei dem sie nach dem Ostrom'schen Konzept
das machen will, was helfen kann: die Stakeholder zusammenbringen. Sie
sollen das schaffen, was Lombardo und seine Kolleg:innen bislang vergeblich
versucht haben: aus einem interessanten Projekt mit Potenzial ein auch auf
längere Sicht laufendes Unternehmen zu machen. Einen Businessplan
aufstellen, Fördermöglichkeiten suchen, politische Unterstützung ausloten.
„Wenn wir eine klassische Unternehmensberatung wären“, sagt Kagel, „dann
hätten wir gesagt, die haben keine Chance.“ Improvisierte Organisation,
prekäre Arbeitssituation für einen Teil der Mitarbeitenden, interne
Konflikte. Und dann ist die Gewinnmarge bei Essenslieferungen ohnehin
klein. Kann da noch etwas zu retten sein? Es wäre leicht gewesen, zu sagen:
Lasst es einfach bleiben. Kooperatives Unternehmen gut und schön, aber
prekäre Arbeitsbedingungen und interne Konflikte kann man bei anderen
Kurierdiensten auch haben. Warum also braucht es noch einen weiteren
Lieferdienst?
„Natürlich, dass Kolyma 2 die Leute fair behandelt und es schafft, dem
ganzen Plastikberg in dem Geschäft etwas entgegenzusetzen, müssen sie erst
noch beweisen“, sagt Kagel. Aber kollektiv wirtschaftende Unternehmen
hätten all den GmbHs und AGs, den UGs und Limiteds, die in Vorständen und
Führungsebenen organisiert sind, eines voraus: „Sie geben ihren Gewinn an
die Gemeinschaft zurück.“ Dadurch werde die Asymmetrie abgebaut, die sonst
lautet: Die oben haben mehr Geld als Arbeit, die unten mehr Arbeit als
Geld.
Doch Kolyma 2 schafft es nicht. Am 4. November 2019 stellen sie ihr
Geschäft ein. Zunächst einmal, das ist der Plan. „Winterschlaf“ steht auf
der rudimentären Retro-Website, die sie für ihre Kund:innen gebaut haben.
Doch statt zu schlafen, macht Lombardo weiter. „Ziel des ersten Anlaufs war
es, zu zeigen, dass es möglich ist, einen Lieferservice in Selbstverwaltung
aufzubauen“, sagt er. „Jetzt geht es darum, das auch wirtschaftlich und
nachhaltig zu machen.“
Lombardo trifft sich zum Beispiel mit Magdalena Ziomek. Sie ist selbst
Gründerin und hat eine Genossenschaft aufgebaut, die eines der zentralen
Probleme von Selbstständigen, von Kleinunternehmer:innen und allen, die mit
ihren Arbeitsformen irgendwie aus dem klassischen Raster herausfallen,
lösen soll: Sie können sich über die Genossenschaft anstellen lassen,
führen einen Teil ihrer Einnahmen ab und bekommen im Gegenzug bezahlbare
Versicherungen. Die Genossenschaft unterstützt beim Administrativen, etwa
bei der Rechnungsstellung. Ela Kagel sagt über Ziomek und die
Smart-Genossenschaft: „Sie hacken das System, und zwar auf eine gute und
legale Art und Weise.“
Vielleicht ist Lombardo auch einfach an einem Punkt, an dem Jörg Gerbig
nach der Gründung von Lieferando war. Als er und seine beiden Mitgründer
sich die Kundenbetreuungsschichten aufteilten, der Pizza
hinterhertelefonierten. An dem Punkt, an dem man auch für sich selbst
entscheiden muss: Ist es das? Und wenn ja: Soll das nur etwas für mich
selbst sein oder will ich ein Unternehmen aufbauen, das es auch dann noch
gibt, wenn ich selbst nicht mehr Burger in Wärmeboxen ausliefern möchte?
Lombardo und Gerbig nähern sich auf jeden Fall gerade wieder an –
unabsichtlich. Denn mit dem Coronavirus zeichnen sich auch Veränderungen in
der Logistikbranche ab. Große wie die, dass die Lieferfenster von
Lebensmittellieferdiensten und Drogerien über Wochen im Voraus ausgebucht
sind und Amazon als eines der größten Plattformunternehmen 100.000 neue
Jobs ausschreibt, um die gestiegene Nachfrage bewältigen zu können. Und
kleine Veränderungen. Für Takeaway und Kolyma 2 heißt eine davon:
kontaktlose Lieferung. Die Kurier:innen stellen die Lieferungen vor die
Tür, Bezahlung, Trinkgeld, alles bargeldlos.
Eine steigende Nachfrage von Restaurants wegen Corona bemerkt auch Lombardo
zurzeit. Im Februar hatte er gerade mit zwei Mitstreiter:innen einen
zweiten Anlauf gestartet, zunächst am Wochenende. Doch nun, wo gilt,
Verkauf nur außer Haus, fragten Restaurants, ob sie auch unter der Woche
liefern könnten. Eine Handvoll seien es täglich, erzählt Lombardo Ende
März. Er achtet beim Fahren und Ausliefern jetzt darauf, genug Abstand zu
anderen zu halten. Jeden Abend wäscht er seine Kleidung, auch Kappe und
Handschuhe.
Er will es diesmal mit seinem Lieferdienst anders machen als beim letzten
Mal. Bewusst klein denken, einen Schritt nach dem nächsten, sich nicht
überrollen lassen. Und sein nächster Schritt könnte sein: Einkäufe liefern.
Nicht von Rewe oder Edeka, das machen die selber und mit einer ganz anderen
Logistikinfrastruktur. Sondern von kleinen Bioläden oder Biosupermärkten.
„Angesichts der aktuellen Situation ist das sinnvoller, als einzelne
Mahlzeiten zu liefern“, sagt Lombardo mit Blick auf die
Ausgangsbeschränkungen.
Ela Kagel dachte schon vor Corona in eine ähnliche Richtung: „Die könnten
ein ganz neues Mobilitätsnetzwerk aufbauen“, sagt sie. Ihr schwebt ein
Dienst vor, der weite Teile der privaten Logistik abnimmt – autofrei
natürlich. Jemanden per Fahrradrikscha zum Arzt fahren etwa oder das
Altglas wegbringen. Kagel ist überzeugt: „Darin liegt ein Riesenpotenzial,
das irgendwann ausgeschöpft werden wird.“
Vielleicht ist dann ja mal nicht eine investorenfinanzierte Plattform die
erste. Sondern ein kleines Kollektiv, in dem es vor allem um
Selbstbestimmung geht.
28 Mar 2020
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## AUTOREN
Svenja Bergt
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