# taz.de -- ForscherInnen für Corona-Lockerungen: Flucht ins Ungefähre | |
> PolitikerInnen fordern, die Corona-Beschränkungen zurückzufahren, | |
> bestärkt durch das Leopoldina-Papier. Doch das lässt Fragen offen. | |
Bild: Vor der Ausgabe eines Berliner Restaurants warten Menschen darauf, dass s… | |
BERLIN taz | Die Botschaft, die Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident nach | |
der [1][Empfehlung der Leopoldina-Wissenschaftler] platzierte, war kaum | |
misszuverstehen. Ein wichtiger Bericht für die Entscheidungen dieser Woche | |
sei das, [2][schrieb Armin Laschet (CDU) am Ostermontag auf Twitter.] „Nach | |
massiven Verboten muss jetzt differenzierte Eindämmung, Schutz und | |
verantwortungsvolle Normalität folgen.“ | |
Zurück zur Normalität, das wollen alle. Aber wie und wann, das weiß keiner | |
so genau. Die Leopoldina in Halle, eine Versammlung reputierter | |
ProfessorInnen aus Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich | |
Politikberatung zutrauen, hatte dazu am Sonntag eine Empfehlung vorgelegt. | |
Darin fordern sie eine „möglichst zeitnahe“ Wiederherstellung des | |
öffentlichen Lebens. Bildungseinrichtungen sollten „so bald wie möglich“ | |
wieder geöffnet werden, Einzelhandel und Restaurants könnten unter | |
bestimmten Bedingungen wieder öffnen. | |
Seither ist die Debatte über eine Lockerung der strengen Kontaktsperren in | |
vollem Gange. Nach Laschets Plädoyer für mehr Normalität meldete sich | |
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) zu Wort, ebenfalls auf | |
Twitter. „Wir brauchen einen sicheren und besonnenen Weg aus der | |
Corona-Krise“, schrieb er am Dienstag. Die Maßnahmen wirkten, aber man | |
dürfe keinen Rückschlag riskieren. „Vorsichtige Erleichterungen kann es nur | |
mit zusätzlichem Schutz geben.“ | |
Hier der restriktive Hardliner, dort der empathische Liberale – Söders und | |
Laschets Einlassungen ließen sich auch als Profilierungswettstreit im Kampf | |
um die CDU-Kanzlerkandidatur deuten. Sie waren nicht die Einzigen, die sich | |
nicht einig waren. | |
Dass die „Ad-hoc-Stellungnahme“ der Leopoldina Einfluss hat, ist nicht zu | |
bestreiten: Kanzlerin Angela Merkel hatte vor Tagen selbst auf die zu | |
erwartende Empfehlung hingewiesen. Es geht um viel: Am Mittwoch will die | |
Kanzlerin mit den MinisterpräsidentInnen besprechen, wie es mit den | |
Anti-Corona-Regeln nach dem 19. April weitergehen soll. | |
## Erste Schritte in Schleswig-Holstein | |
Schleswig-Holsteins Regierungschef Daniel Günther (CDU) kündigte eine | |
schrittweise Lockerung der Auflagen in seinem Bundesland an. Die | |
BürgerInnen müssten sich in der „Phase des Hochfahrens“ weiter auf | |
Einschränkungen einstellen, sagte er. „Wir werden einen Phasenplan als | |
Landesregierung entwickeln, um eine klare Perspektive zu geben.“ Die | |
Menschen müssten abschätzen können, ab wann was wieder möglich sein werde. | |
„Das wird sich aber an klaren Kriterien orientieren.“ | |
Aber was genau sind klare Kriterien? Viele, die Lockerungen fordern, | |
drücken sich davor, solche zu benennen. Auch die Leopoldina-Wissenschaftler | |
bleiben in ihrer 19-seitigen Stellungnahme erstaunlich vage. | |
Das zeigt sich etwa bei den Voraussetzungen, die für eine Normalisierung | |
des öffentlichen Lebens genannt werden: „Die Neuinfektionen stabilisieren | |
sich auf niedrigem Niveau“, heißt es da – ohne jeden Hinweis, was darunter | |
zu verstehen ist. Oder: „Es werden notwendige klinische Reservekapazitäten | |
aufgebaut“ – ohne Angabe, wie groß diese sein müssen. Und auch die | |
„zunehmende Identifikation von Infizierten“ wird nicht näher quantifiziert. | |
Der Präsident des staatlichen Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, | |
warnte am Dienstag denn auch davor, die Leopoldina-Stellungnahme als | |
Grundlage für Lockerungen zu nutzen. Zwar gebe es bei der Zahl der | |
Neuinfektionen eine Verlangsamung, sagt Wieler – erklärte aber zugleich: | |
„Von einer Eindämmung können wir noch nicht sprechen.“ | |
Auch das von der Leopoldina geforderte „niedrige Niveau“ bei den | |
Neuinfektionen sieht Wieler offenbar noch keineswegs als gegeben – im | |
Gegenteil: „Die Zahlen haben sich auf einem relativ hohen Niveau | |
eingependelt“, sagte der RKI-Chef. Die besonders niedrigen Fallzahlen der | |
letzten Tage seien wenig aussagekräftig, weil aufgrund der Feiertage | |
weniger getestet, diagnostiziert und übermittelt wurde. „Deshalb müssen wir | |
diese Zahlen mit einer gewissen Vorsicht interpretieren“, sagte Wieler. | |
## Studien liegen nicht vor | |
Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach, der in diesen Tagen viele | |
wissenschaftliche Studien liest, bleibt in der Bewertung des | |
Leopoldina-Papiers ebenfalls vorsichtig. Die Empfehlungen seien „als | |
Startpunkt für eine Diskussion wichtig“, sagte Lauterbach – aber nicht | |
genug durch Studien belegt. Lauterbach zweifelt zum Beispiel an dem [3][Rat | |
der Wissenschaftler, Grundschulen zuerst wieder zu öffnen.] | |
Ganz anders als die Leopoldina und jene, die sich auf sie berufen, sieht | |
die Helmholtz-Gemeinschaft als größte deutsche Wissenschaftsorganisation | |
die Lage. In einem überwiegend [4][von Immunologen und Mathematikern | |
verfassten Papier,] das ebenfalls am Ostermontag veröffentlicht wurde, | |
warnt sie ausdrücklich vor einer zu schnellen Lockerung der | |
Kontaktbeschränkungen. „In diesem Fall wird die Infektionsaktivität | |
unweigerlich wieder an Fahrt aufnehmen und innerhalb weniger Monate das | |
Gesundheitssystem massiv überlasten“, schreiben die AutorInnen. | |
Stattdessen empfiehlt die Helmholtz-Gemeinschaft, die Beschränkungen | |
zunächst beizubehalten und eventuell sogar noch zu verstärken. Sie nennt | |
ein klares Kriterium: Ziel müsse sein, die Zahl derjenigen, die jeder | |
Corona-Infizierte im Schnitt ansteckt, „dauerhaft und deutlich unter den | |
Wert von eins“ zu senken. Optimistische Abschätzungen gingen davon aus, | |
dass das in „einigen Wochen“ erreicht werden könnte, heißt es: „Je stri… | |
die Maßnahmen, desto schneller wird der Zielwert erreicht.“ Derzeit liegt | |
dieser sogenannte R-Wert nach Berechnungen der Helmholtz-Wissenschaftler | |
etwa bei 1, was bedeutet, dass die Zahl der aktuell Infizierten etwa | |
konstant bleibt. Das Robert-Koch-Institut nannte am Dienstag einen etwas | |
schlechteren Wert von 1,2. | |
Als weitere Voraussetzung für eine Lockerung der Beschränkungen nennt das | |
Helmholtz-Papier „eine deutlich ausgeweitete Test-Strategie“, um neu | |
auftretende Fälle schnell zu entdecken und zu isolieren. Auch davon ist | |
Deutschland aber noch weit entfernt: Die vorliegenden Daten zeigen, dass | |
die Zahl der Tests in den letzten beiden Wochen kaum gestiegen ist. Zuletzt | |
wurde die vorhandene Kapazität laut RKI nicht voll ausgeschöpft; die Gründe | |
sind unklar. | |
Trotzdem steigt der Druck auf die Bundesregierung weiter. [5][FDP-Chef | |
Christian Lindner] fordert seit Längerem eine Öffnungsperspektive. „Wir | |
haben inzwischen Mittel und Kenntnisse, um den Gesundheitsschutz nach | |
Ostern mit weniger Freiheits-Einschränkungen zu gewährleisten“, sagte er am | |
Ostermontag. Die Grünen drängen ebenfalls auf Ansagen der Bundesregierung. | |
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte, es brauche einen „klaren | |
Fahrplan“, wie und wann die Bedingungen für Lockerungen erfüllt werden | |
sollen. Doch wie genau dieser Fahrplan aussehen soll – dazu schweigen auch | |
die Grünen. | |
14 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.leopoldina.org/presse-1/nachrichten/ad-hoc-stellungnahme-corona… | |
[2] https://twitter.com/ArminLaschet/status/1249719351059644417 | |
[3] /Corona-Exit-in-Kitas-und-Schulen/!5678060 | |
[4] https://www.helmholtz.de/index.php?id=6551 | |
[5] /Politischer-Diskurs-in-Corona-Krise/!5670761 | |
## AUTOREN | |
Malte Kreutzfeldt | |
Ulrich Schulte | |
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