# taz.de -- Öffnung von Schulen und Kitas: NRW prescht vor | |
> Wissenschaftler:innen der Leopoldina empfehlen eine möglichst schnelle | |
> Rückkehr zum normalen Unterricht. Die meisten Länder halten sich bedeckt. | |
Bild: So gemütlich geht es beim Homeschooling nicht überall zu | |
BERLIN taz | Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch zusammen mit | |
den Ministerpräsidenten:innen der Länder über mögliche [1][Lockerungen der | |
Coronamaßnahmen] beratschlagt, steht auch die folgende Frage auf dem | |
Zettel: Wann und unter welchen Umständen können Kitas und Schulen wieder | |
gefahrenfrei ihre Türen öffnen? | |
Seit Mitte März sind sämtliche Bildungseinrichtungen im ganzen Land | |
[2][wegen der Corona-Pandemie geschlossen], nur in Ausnahmefällen gibt es | |
eine Notfallbetreuung für Kinder, was viele Familien vor erhebliche | |
Herausforderungen stellt. Als Datum einer möglichen Rückkehr zum regulären | |
Schul- und Kitabetrieb wurde auch deshalb früh der 20. April, der Montag | |
nach den Osterferien, genannt. Nun steht dieser Stichtag bevor. | |
Wie diese Rückkehr jedoch konkret aussehen könnte, ist alles andere als | |
entschieden. Die Bundesländer haben in den vergangenen Tagen | |
unterschiedliche, zum Teil konträre, Szenarien ins Spiel gebracht. Sachsens | |
Kultusminister Christian Piwarz (CDU) etwa verkündete als erster, am Tag | |
eins nach den Osterferien den Unterricht wiederaufzunehmen: Sämtliche | |
Abschlussklassen in Gymnasien, Ober- und Sonderschulen dürfen ab kommender | |
Woche wieder in die Schule. | |
Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) | |
hingegen mahnte am Samstag im „Deutschlandfunk“, dass die Wiederaufnahme | |
des regulären Unterrichts nicht ohne eine angemessene Vorbereitungszeit | |
möglich sei, sprach sich aber auch für eine schrittweise Regelung aus. | |
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) kann sich vorstellen, | |
zuerst Kitas und Grundschulen wieder zu öffnen. Und Niedersachsens | |
Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) stellte in Aussicht, zumindest die | |
älteren Schüler:innen zurück in die Schulen zu lassen – schloss aber auch | |
nicht aus, die niedersächsischen Schulen bis zu den Sommerferien nicht mehr | |
zu öffnen. | |
## Handreichung von der Wissenschaft | |
Eigentlich wollten die 16 Kultusminister:innen am Dienstag über ein | |
gemeinsames Vorgehen beratschlagen. Am Dienstagvormittag hieß es dann auf | |
Nachfrage, die Telefonschalte finde nicht statt. Man wolle dem Gespräch | |
zwischen Kanzlerin und den Länderchefs nicht vorgreifen. Am frühen Dienstag | |
Abend dann legte Nordrhein-Westfalen seinen eigenen Fahrplan vor: Ab Montag | |
sollen die Schulen, danach schrittweise auch die Kitas wieder geöffnet | |
werden, verkündeten Schulministerin Yvonne Gebauer und Familienminister | |
Joachim Stamp (beide FDP). | |
Mit dem Vorpreschen NRWs wird die Abstimmung für Merkel und die | |
Ministerpräsident:innen am Mittwoch nicht unbedingt leichter. Am Montag | |
hatten sie bereits eine Handreichung von der Nationalen Akademie der | |
Wissenschaften Leopoldina bekommen. Darin empfahlen die 26 | |
Wissenschaftler:innen in einer [3][Ad-hoc-Stellungnahme] eine rasche | |
Rückkehr zum regulären Unterricht. | |
„Die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen sollte sobald wie irgend | |
möglich erfolgen, und zwar schrittweise und nach Jahrgangsstufen | |
differenziert“, heißt es in der Stellungnahme. Die Schulschließungen | |
führten zu einem „Rückgang der Betreuungs-, Lehr- und Lernleistungen“, | |
heißt es als Begründung. „Zu befürchten ist auch, dass die Krise die in | |
Deutschland ohnehin stark ausgeprägte [4][soziale Ungleichheit] in Bezug | |
auf Zugänge zu Betreuung und Unterricht sowie in Bezug auf Lernleistungen | |
und Bildungserfolge verstärkt.“ | |
Konkret schlagen die Wissenschaftler:innen vor, unter Wahrung besonderer | |
Schutzmaßnahmen zunächst die Grundschulen und die Sekundarstufe I zu | |
öffnen. So sollen Grundschulkinder unter anderem Nasen-Mund-Schutz tragen, | |
zunächst nur in den Kernfächern Mathe und Deutsch, sowie zeitversetzt und | |
in deutlich reduzierter Klassengröße (maximal 15 Kinder) unterrichtet | |
werden. Beginnen sollen die vierten beziehungsweise sechsten Klassen, deren | |
Schüler:innen im Herbst auf eine weiterführende Schule kommen. | |
## Kitas sollen geschlossen bleiben | |
Analog dazu empfiehlt die Leopoldina, zunächst nur die 5- und 6-Jährigen | |
wieder in die Kita zu schicken, die vor einem Übertritt in die Grundschule | |
stehen. Hier soll die Gruppe aus maximal 5 Kindern bestehen. Für alle | |
übrigen Kinder sollten die Horte und Kindertagesstätten [5][bis zu den | |
Sommerferien geschlossen] bleiben und lediglich eine Notbetreuung anbieten. | |
Weniger dringlich ist nach Ansicht der Leopoldina die Wiederaufnahme des | |
Regelunterrichts der älteren Schüler:innen. „Da die Möglichkeiten des | |
Fernunterrichts mit zunehmendem Alter besser genutzt werden, kann die | |
Rückkehr zum gewohnten Face-to-Face-Unterricht in höheren Stufen des | |
Bildungssystems weiter hinausgeschoben werden“, heißt es dazu in der | |
Stellungnahme. Oder anders formuliert: Wer in die Oberstufe geht, muss sich | |
auf ein verlängertes [6][Homeschooling] einstellen, Studierende gar auf ein | |
weitgehend [7][digitales Sommersemester]. | |
Die Empfehlungen der Leopoldina stoßen auf gemischte Reaktionen: | |
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete sie am Montag als | |
„exzellente Beratungsgrundlage“ für die anstehenden Entscheidungen von Bund | |
und Ländern, hält aber eine rasche Umsetzung für ausgeschlossen: „Es wird | |
längere Zeit dauern, bis an den Schulen wieder normaler Unterricht | |
stattfinden kann.“ Oberstes Ziel bleibe, die Ansteckungsgefahr zu | |
reduzieren und Risikogruppen zu schützen. | |
Weniger überzeugt von dem Fahrplan zeigt sich die GEW-Vorsitzende Marlis | |
Tepe. Die Empfehlungen der Akademie bezeichnete sie am Dienstag als | |
„bedingt hilfreich“: Viele Vorschläge gingen an der Realität in den | |
Bildungseinrichtungen vorbei. So seien an vielen Schulen weder die | |
räumlichen Gegebenheiten ausreichend, um den Mindestabstand einzuhalten. | |
Noch sei mit der personellen Ausstattung ein in irgendeiner Form gearteter | |
„Schichtbetrieb“ möglich. | |
## Kritik auch von Abiturient:innen | |
Zudem fehlte Material wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Auch | |
stellten die Ansteckungsgefahr der Schulkinder in Bus und Bahn sowie mit | |
Risikopersonen ungelöste Probleme dar. „Öffnet man Schulen und Kitas nur | |
für ‚gesunde und mobile‘ Kinder und Jugendliche, kommt es zu zusätzlichen | |
Benachteiligungen“, warnt Tepe. | |
Auch viele der Betroffenen sehen die Schulöffnungen kritisch. „Unter den | |
gegebenen Umständen halten wir Unterricht für unverantwortlich“, sagt etwa | |
Thorsten Riedel am Telefon. Der 21-jährige Berufsschüler aus Siegburg in | |
Nordrhein-Westfalen ist Teil einer Initiative, die Durchführung von | |
Abschlussprüfungen in diesem Jahr wie in Hessen ablehnen. | |
Unter dem Hashtag [8][GerechteAbschlüsse] hat sich binnen weniger Tage eine | |
bundesweite Gruppe an Schüler:innen zusammengetan und einen [9][offenen | |
Brief] an alle Kultusminister:innen und Ministerpräsident:innen verschickt | |
– so wie es auch viele andere Schülerinitiativen in den vergangenen Tagen | |
gemacht haben. Ihr Ziel: Die bundesweit uneinheitlichen und damit unfairen | |
Prüfungsbedingungen anprangern – und die Ministerien dazu zu bringen, die | |
Abiturnoten aus den bisher erbrachten Leistungen zu errechnen. Das | |
sogenannte [10][Durchschnittsabitur] ist jedoch nicht das einzige Ziel der | |
Abiturient:innen. | |
„Eine in unserer Gruppe hat Asthma“, erzählt Thorsten Riedel. „Wir hoffen | |
deshalb, dass die Schulen ganz geschlossen bleiben.“ Ausgerechnet die | |
Empfehlungen der Leopoldina gibt ihm Hoffnung. „Die sind ja dafür, erst | |
die Grundschulen zu öffnen. Wenn die weiterführenden Schulen erst mal | |
geschlossen bleiben, wird es immer enger mit der Vorbereitung auf die | |
Abiprüfungen.“ Dann müssten die Minister:innen irgendwann einsehen, dass | |
die Prüfungsbedingungen unfair seien. | |
## Hickhack um Abiturprüfungen | |
Vor allem die unterschiedliche Handhabung in den Ländern stört Riedel und | |
[11][viele andere Abiturient:innen]. Manche Länder haben die | |
Prüfungstermine nach hinten verschoben, andere nicht. Zwischenzeitlich | |
brachte die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU), | |
auch ins Spiel, die Prüfungen in ihrem Bundesland [12][ausfallen zu | |
lassen]. | |
Nun ist die Frage, ob die Länder bei der Rückkehr zum regulären Unterricht | |
an einem Strang ziehen. Dabei ist längst nicht klar, ob alle den | |
Leopoldina-Vorschlägen folgen wollen. Das Robert Koch-Institut (RKI) rät | |
zum Beispiel genau das Gegenteil: zuerst wieder die Schulen für die höheren | |
Jahrgänge zu öffnen. | |
Es gehe dabei um die Annahme, dass Jugendliche Abstandsregeln besser | |
einhalten könnten, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Das sei eine | |
Entscheidung der Politik. Es gebe Gründe dafür und dagegen. | |
Mal darf also gespannt sein, worauf sich die Länder einigen – und ob die | |
Regeln dann auch bundesweit gelten. | |
14 Apr 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kriterien-fuer-Lockdown-Ende/!5674723 | |
[2] /Schulschliessungen-wegen-Coronavirus/!5668509 | |
[3] https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2020_04_13_Coronavirus… | |
[4] /Folgen-der-Schulschliessungen/!5670367 | |
[5] /Corona-Exit-in-Kitas-und-Schulen/!5678060 | |
[6] /Lernen-zu-Hause/!5669207 | |
[7] /Studieren-in-Zeiten-von-Corona/!5672828 | |
[8] https://twitter.com/hashtag/GerechteAbschluesse?src=hashtag_click | |
[9] http://gerechteabschluesse.de/Argumente%20-%20Durchschnittsabitur.pdf | |
[10] /Abitur-in-der-Coronakrise/!5670667 | |
[11] /Corona-Krise-in-Schleswig-Holstein/!5673858 | |
[12] /Laenderstreit-um-Abiturpruefungen/!5670784 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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