# taz.de -- Corona-Stellungnahme der Leopoldina: Schweigen ist Gold | |
> Die Leopoldina veröffentlicht ein viel diskutiertes Papier. Darin finden | |
> sich viele bekannte Überlegungen – und einige, nicht zufällige, | |
> Leerstellen. | |
Bild: Der Chef der Leopoldina, Gerald Haug (M.), bei seiner Inauguration im Feb… | |
Wir alle kennen ihn: Diesen einen Typen, den es in jeder Konferenz gibt und | |
der sich am Ende meldet, wenn schon alles gesagt ist. Aber eben noch nicht | |
von ihm. Dieser Typ, der dann alles das noch einmal von vorne referiert. | |
Diesen Typen gibt es offenbar auch als Akademie – und er heißt Leopoldina. | |
Seit Wochen reden [1][Politik], [2][Wissenschaft], [3][Medien] und | |
[4][Zivilgesellschaft] über die Coronakrise. Und den allermeisten ist klar: | |
Jetzt geht es nicht ohne Eingriffe in die Grundrechte. Aber: Diese müssen | |
verhältnismäßig sein und dürfen keinen Tag länger andauern als unbedingt | |
nötig. | |
Nun hat die [5][Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina eine | |
„Ad-hoc-Stellungnahme“] veröffentlicht. Und was steht drin? Grob | |
zusammengefasst: Jetzt geht es nicht ohne Eingriffe in die Grundrechte. | |
Aber: Sie müssen verhältnismäßig sein und dürfen keinen Tag länger andaue… | |
als unbedingt nötig. Schrittweise müsse der normale Alltag zurückkehren. | |
Sofern möglich. Wenn die Infektionsraten niedrig genug sind, was auch immer | |
niedrig genug genau heißt. | |
Die Krise treffe die ganze Gesellschaft, schreiben die Autor*innen. Von | |
„Solidarität“ ist immer wieder die Rede. Deswegen sei es wichtig, | |
„vielfältige Perspektiven in die Abwägungsprozesse“ einzubeziehen. Schade | |
nur, dass die Leopoldina selbst das nicht tut. Unter den 26 Autor*innen | |
sind 24 Männer. Es gibt dort mehr Thomase und Jürgens (jeweils drei) als | |
Frauen (zwei). Keine*r der Expert*innen ist unter 50 Jahren alt. Es ist | |
gerade mal eine Person of Color dabei. Die Liste ließe sich fortsetzen. | |
## „Systemrelevante“ kommen nicht vor | |
Dass die Krise manche Gruppen härter trifft als andere, das haben die | |
Forscher*innen verstanden. Und so schreiben sie, dass etwa die Last der | |
wegfallenden Kitas und Schulen mehrheitlich von Frauen geschultert wird und | |
dass eine Zunahme häuslicher Gewalt drohe. Auch gebe es für psychische | |
Belastung besonders anfällige Risikogruppen. Dann aber begnügen sie sich | |
mit einer Aufzählung: „Alleinerziehende, Migrantinnen und Migranten ohne | |
Sprachkenntnisse, allein lebende Ältere, psychisch Erkrankte, Pflegefälle | |
und Arbeitslose“. | |
Was genau man tun könnte, um diesen Menschen zu helfen? Hm. Keine | |
Überlegungen auch dazu, dass es vielleicht keine gute Idee ist, | |
[6][Geflüchtete in Sammelunterkünften zu Hunderten unter Quarantäne zu | |
stellen] – in Ellwangen haben sich auf diese Weise jüngst fast 250 Menschen | |
angesteckt. Auch zu denen, die seit Neuestem als „systemrelevant“ | |
bezeichnet werden: kein Wort. | |
Nichts steht in der Leopoldina-Stellungnahme zu [7][Arbeitsbedingungen und | |
Entlohnung von Kassierer*innen], [8][Erntehelfer*innen] oder | |
[9][Pflegekräften]. Zum Zustand des Gesundheitswesens heißt es lediglich, | |
hier müssten künftig zusätzliche Mittel fließen. Nicht nachgedacht wird | |
hingegen über die Frage, ob es nicht höchste Zeit wäre, Gesundheitswesen | |
und Profitorientierung strikt zu trennen. | |
## Mit klassischen Hierarchien an die Wand gefahren | |
Von 1992 bis 2017 ist in Deutschland der Anteil der Krankenhäuser in | |
privatwirtschaftlicher Trägerschaft von 15,5 auf 37,1 Prozent gestiegen. | |
Träger, die etwa den Bund kritisieren, weil dieser Personaluntergrenzen in | |
der Pflege einführen will. Stattdessen soll der Staat sich laut Leopoldina | |
so bald es geht aus allen Unternehmen herausziehen, die er gerade | |
krisenbedingt unterstützt. Ach so, und Steuererleichterungen, schwarze Null | |
und Soli-Abschaffung wären auch gute Ideen. | |
Die Coronakrise hat deutlich wie selten gezeigt, wie sehr wir mit unseren | |
klassischen gesellschaftlichen Hierarchien an die Wand gefahren sind. Doch | |
die, die „systemrelevant“ sind, kommen in dem Papier nicht vor – genauso | |
wenig wie ihre Perspektiven und Bedürfnisse. | |
Viel ist gerade die Rede davon, dass unsere Gesellschaft am Ende dieser | |
Krise eine bessere sein könnte, eine solidarischere. Wenn das aber | |
Wirklichkeit werden soll, und zwar umfassend und nicht nur für wenige, dann | |
müssen wir endlich anfangen, diejenigen Stimmen zu hören, die wir sonst | |
gerne überhören – obwohl sie nicht nur Teil dieser Gesellschaft und ihres | |
Wohlstands sind, sondern oftmals ihr Fundament. | |
Doch dafür müssten wir aufhören, aus Gewohnheit immer weiter die zu fragen, | |
die wir sowieso immer fragen. Und die Dauergefragten müssten aufhören, aus | |
Gewohnheit immer Antworten zu geben – selbst, wenn sie schlicht nichts | |
Substanzielles beizutragen haben. | |
14 Apr 2020 | |
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## AUTOREN | |
Dinah Riese | |
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