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# taz.de -- Armut in der Coronakrise: Kein Laptop für Adil
> Kinder aus Hartz-IV-Familien haben in Zeiten geschlossener Schulen
> Schwierigkeiten, am Homeschooling teilzunehmen. So wie Adil.
Bild: Lernen als Luxus
Der Brief der Schule trägt das Datum vom 18. März. „Ich unterrichte Sie
darüber, dass die Leistungen ihres Sohnes Adil, Schüler der Klasse 9d, in
Mathematik, Gesellschaftslehre und Naturwissenschaft nicht ausreichend sind
und dadurch die Versetzung gefährdet ist.“ Adil* besucht eine Gesamtschule
in Mönchengladbach. Wie alle anderen Schulen bundesweit ist sie seit dem
16. März geschlossen. Die SchülerInnen erhalten Aufgaben per Internet. Doch
in Adils Familie gibt es weder einen Computer noch einen Drucker. Wie soll
er jetzt den Anschluss schaffen?
Gleich am ersten Tag der Schulschließung hat sich Adils Vater, Thomas
Wasilewski, an das Jobcenter Mönchengladbach gewandt. Thomas Wasilewski ist
genau wie seine Frau erwerbsunfähig, die fünfköpfige Familie lebt von Hartz
IV. 1.400 Euro überweist das Jobcenter jeden Monat. Im Regelsatz enthalten
sind auch 2,51 Euro pro Erwachsenem und bis zu 2,07 Euro pro Kind „für Kauf
und Reparatur von Festnetz- und Mobiltelefonen und anderen
Kommunikationsmitteln“. Für den Kauf eines Computers reicht das nicht.
Der Staat zeigt sich in der Coronakrise großzügig: [1][Unternehmen
erhalten Beihilfen]. Menschen, deren Einkommensquellen krisenbedingt
versiegen, können problemlos Grundsicherung beantragen, ohne dass sie ihre
Vermögensverhältnisse aufdecken oder nachweisen müssen, dass ihre Wohnung
billig genug ist. Doch dadurch entstehen plötzlich zwei Gruppen von
Bedürftigen: Die Neuen, die schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten. Und
jene, die schon vorher Grundsicherung bezogen. Sie erhalten keinen
Krisenaufschlag, sondern müssen Mehrbedarfe, wie es im Amtsjargon heißt,
weiterhin begründen und beantragen.
Wasilewski beantragte also, dass das Jobcenter die Kosten für die
Anschaffung eines Computers samt Monitor und Drucker übernehmen möge. Ein
entsprechendes Angebot hatte er bei Aldi gefunden, 970 Euro würde alles
zusammen nach seiner Kalkulation kosten. Mittels dieses Familiencomputers
sollten nicht nur Adil, sondern auch seine beiden Brüder, die ein
Berufskolleg und ein Gymnasium besuchen, virtuell mit ihren Schulen
verbunden bleiben.
## Sich an die Schule zu wenden, wäre ihnen peinlich
Mit dem Brief von Adils Schule wurde die Sache noch einmal dringlicher.
„Wie soll mein Sohn denn den Stoff nachholen, wenn wir nicht mal ’nen
Computer haben?“, fragt der Vater am Telefon. „Ich kann mir doch keinen
backen.“ Am 20. März hatte Wasilewski noch nichts vom Jobcenter gehört und
nahm sich eine Anwältin. Sie sollte dem Jobcenter per einstweiliger
Verfügung Druck machen, die Kosten für die Anschaffung eines Computers zu
übernehmen.
Doch die einstweilige Verfügung wurde vom Sozialgericht Düsseldorf am 26.
März abgewiesen. Zwei Tage zuvor hatte auch das Jobcenter Mönchengladbach
beschieden: „Solange nicht nachgewiesen wird, dass die Schulen
verpflichtenden, digitalen Unterricht durchführen und dass den
Antragstellern erhebliche Nachteile drohen, wenn sie an diesem nicht
teilnehmen können sowie kein Smartphone zur Erledigung der Aufgaben
vorhanden ist, ist eine Eilbedürftigkeit nicht gegeben.“ Antrag abgelehnt.
Wasilewksi ist empört: „Versuchen Sie mal PDF-Dateien an einem Huawei
Smartphone der billigsten Kategorie zu bearbeiten. Das geht nicht“. Adils
Schule stellt den Schülern nicht nur PDF-Dateien, sondern auch Zip-Dateien
zum Download zur Verfügung. Für die Schüler der neunten Klasse sind das in
Mathematik beispielsweise sieben Dateien mit Arbeitsblättern.
Wieso er sich nicht an die Schule gewandt habe? Wasilewski zögert am
Telefon. Seine Söhne wollten das nicht. „Kein Kind erzählt gern, meine
Eltern sind Hartz-IV-Empfänger.“ Außerdem wisse die Schule doch, dass die
Familie arm sei. „Die sehen, dass die Kinder immer die gleichen Klamotten
anhaben. Das geht doch nicht nur uns so, das ist in vielen Familien der
Fall.“
Fast zwei Millionen Kinder leben in Familien, die Grundsicherung erhalten,
so die aktuellste [2][Statistik der Bundesagentur für Arbeit] vom Juni
2019. Über eine Million sind im schulpflichtigen Alter – und somit auch in
Zeiten von Homeschooling potenziell ohne Zugang zu einem Computer. Ralf
Baum, Bereichsleiter für Leistungen beim Jobcenter Mönchengladbach, nimmt
sich am Telefon Zeit, diese „hochbrisante Frage“ aus Sicht des Jobcenters
zu erklären. Zum konkreten Fall darf er sich nicht äußern, deshalb
erläutert er die allgemeine Lage. „Wir sind also weiterhin angehalten,
Steuergelder nicht dafür auszugeben, Schüler grundsätzlich mit Computern
auszustatten, sondern nur wenn diese zwingend erforderlich sind, um eine
Benachteiligung zu vermeiden.“ Ganz maßgeblich für diese Einschätzung sei
die Auffassung der Schule.
Pflichtschuldig hatte die zuständige Sachbearbeiterin der Wasilewskis bei
den Schulen der Kinder angerufen. „Zwei von drei Schulen haben erklärt“, so
steht es in dem Ablehnungsbescheid an die Familie, „dass ein Handy zur
Erledigung der Aufgaben ausreichend sei.“
Baum weist darauf hin, dass die Jobcenter nach Ermessen handeln, also jeden
Einzelfall neu prüfen müssen. „Natürlich wäre es schöner, wenn per Gesetz
geregelt wäre, dass alle Schüler einmalig einen Zuschuss für den Erwerb
eines Computers bekämen. Oder wenn die Schulen diese zur Verfügung
stellten.“ Doch da diese klare rechtliche Grundlage fehle, gebe es eine
Menge Klagen und widersprüchliche Gerichtsurteile.
In der Tat entscheiden Sozialgerichte von Fall zu Fall und regional
unterschiedlich. Im Jahr 2018 befand das Sozialgericht Gotha, dass Computer
zum Schulbedarf zählen und die Jobcenter den Mehrbedarf übernehmen müssten.
Einige Monate später wurde einer alleinerziehenden Mutter mit fünf Kindern
aus Baden-Württemberg ebenjener Zuschuss verweigert.
Als eines der Kinder, eine Schülerin der 8. Klasse, daraufhin vor Gericht
zog und unter anderem auf das Urteil aus Gotha verwies, lehnte das
Sozialgericht Karlsruhe den Antrag im Januar 2019 dennoch ab. Zwar erkannte
es an, dass die Schülerin einen internetfähigen Computer braucht. Der
Bedarf sei jedoch nicht als „laufend“ einzustufen, sondern trete nur einmal
auf. Deshalb könnten die Kosten nicht übernommen werden, lediglich ein
Darlehen könne gewährt werden.
## Absurde Begründung
Weil sich also Hartz-IV-Empfänger nicht jeden Monat einen Computer kaufen,
sondern lediglich einmal in fünf Jahren, darf der nicht bezahlt werden? Die
Begründung scheint absurd. Die Rechtsgrundlage ist jedoch in jedem dieser
Fälle die gleiche: das Sozialgesetzbuch II.
Anfrage an das zuständige Ministerium für Arbeit und Soziales. Besteht
angesichts der widersprüchlichen Urteile nicht eine Regelungslücke im
Sozialgesetzbuch II? Reichen die Leistungen, welche im Regelsatz für
Kommunikationsmittel vorgesehen sind, in Zeiten von geschlossenen Schulen
und Homeschooling per Internet wirklich aus? Oder sieht das Ministerium
Nachbesserungsbedarf?
Eine Sprecherin des von SPD-Minister Hubertus Heil geführten Ministeriums
beantwortet alle Fragen in einem Satz: „Über die Frage, wie soziale Härten,
die durch die Coronakrise in verschiedenen Lebensbereichen entstehen,
abgefedert werden können, befindet sich das BMAS im engen Austausch mit
anderen Ressorts innerhalb der Bundesregierung sowie mit den für die
Schulpolitik zuständigen Ländern.“ Auf Nachfrage heißt es, mehr könne man
derzeit nicht mitteilen.
## Aufruf der Linken
Der [3][Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein Tacheles] macht auf die Lage
von einkommensschwachen Familien während der Coronakrise aufmerksam und
schlägt unter anderem vor, dass jeder Haushalt 350 Euro Zuschuss für einen
Laptop und 100 Euro für Drucker und Papier erhält. So könnten auch Kinder
aus benachteiligten Familien am virtuellen Unterricht teilnehmen.
Bildungspolitikerinnen der Linken [4][haben ebenfalls einen Aufruf
gestartet.] Sie fordern die Jobcenter auf, das häusliche Lernen durch
internetfähige Geräte sicherzustellen. Damit sich die Ungerechtigkeit im
Bildungssystem nicht weiter verschärfe, müssten Leistungen zum Kauf eines
Computers und eines Laptops gewährt werden.
Auch Thomas Wasilewski hat sich schriftlich an Hubertus Heil gewandt: Für
das erforderliche digitale Lernen fehle vielen Kindern ein Laptop oder
Computer und den Familien das Geld, diesen zu kaufen. „Ein
sozialdemokratisch geführtes Ministerium für Arbeit und Soziales muss der
Chancenungleichheit entgegenwirken und hier schnellstmöglich eine
eindeutige Lösung im zweiten Sozialgesetzbuch herbeiführen“, schreibt
Wasilewski in seinem Brief vom 6. April. Unterschrieben haben er, seine
Frau und die drei Kinder.
Auf eine Antwort warten sie noch.
* Name geändert
14 Apr 2020
## LINKS
[1] /KfW-Kredite-wegen-Corona/!5677295
[2] https://statistik.arbeitsagentur.de/nn_1021944/SiteGlobals/Forms/Rubrikensu…
[3] https://tacheles-sozialhilfe.de/fa/redakteur/Aktuelles/Tacheles_Corona_Kris…
[4] /Schule-von-zu-Hause/!5676444
## AUTOREN
Anna Lehmann
## TAGS
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