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# taz.de -- Armut im Fernsehen: Hartz und hässlich
> Das Privat-TV zeigt Armut als aneinandergereihte Hartz-IV-Klischees. Das
> bemängelt eine Analyse der Otto-Brenner-Stiftung.
Bild: Schon eher ein Bild für die Realität von Armut: Die Berliner Tafel (hie…
Nathalie ist 22 und bekommt [1][Hartz IV], ihr Ex-Freund, der wohnungslose
Marcel, bemüht sich gar nicht erst um Hilfe vom Staat, der Papierkram sei
ihm zu anstrengend. Ihnen wurde ihr Kind weggenommen. Nathalies Wohnung ist
verdreckt, Marcel hat Aggressionsprobleme und beide nehmen Drogen. In der
RTL2-Sendung „Armes Deutschland – Abstempeln oder Abrackern“, sehen
Empfänger:innen von staatlicher Unterstützung oft so aus: arbeitscheu,
verwahrlost, kettenrauchend.
Selbstverständlich ist dieses Bild nicht repräsentativ. Weder für die 3,9
Millionen Hartz-IV-Beziehenden in Deutschland noch für die Porträtierten
selbst. Dennoch, das beklagt Medienwissenschaftler Bernd Gäbler in einem
aktuellen Positionspapier, stellten solche Sendungen „die dominante Form
dar, in der aktuell im privaten Fernsehen über Armut berichtet wird“. Das
Papier mit dem Titel [2][„Armutszeugnis – wie das Fernsehen die
Unterschichten vorführt“], ist am Dienstag bei der
[3][Otto-Brenner-Stiftung], einer Einrichtung der IG Metall, erschienen.
In der Studie betrachtet Gäbler verschiedene TV-Sendungen, die sich mit
Menschen in prekären Lagen befassen. Er konzentriert sich dabei auf den
Umgang mit den Protagonist:innen. Sozialreportagen wie „Armes Deutschland“
und „Hartz aber herzlich“ kritisiert er deutlich: „Die Berichte [über die
Unterschicht] sind einseitig und klischeehaft, manipulativ und
diffamierend.“ ARD und ZDF stehen allerdings ebenfalls in seiner Kritik:
Sie machten Armut zum Nischenthema.
Reportagen aus sozialen Brennpunkten und prekären Haushalten gehören schon
lange zum Kernrepertoire privater Fernsehsender, insbesondere der
[4][RTL-Gruppe]. 2004 war es die „Super Nanny“ Katharina Saalfrank, die auf
RTL vermeintliche Problemkinder auf die Schweigetreppe setzte, wenig später
half Peter Zwegat ökonomisch schwachen Familien „Raus aus den Schulden“.
Heute fasst RTL2 Sendungen in diesem Stil unter dem Label „Trotz dem
Leben“. Der Titel stehe „für die große Herausforderung, selbstbestimmt und
mit Würde zu leben, auch wenn man nur wenig Geld hat“, preist der Sender
sein neues Etikett an. „Für die meisten der in den Dokumentationen
gezeigten Menschen ist trotz Armut kein Platz für Resignation. Man hält
zusammen und blickt so positiv wie möglich in die Zukunft.“ Klingt nach
empowernder Armutsberichterstattung.
## Gegeneinander ausgespielt
Seit knapp vier Jahren läuft innerhalb dieser „Trotz dem Leben“-Sektion die
Show „Armes Deutschland“ (RTL2/TVNow). Darin sind die Protagonist:innen
vor allem eines: arm. Viel mehr zeichnet die Familien und alleinerziehenden
Mütter in der Show nicht aus – höchstens noch, dass sie entweder stinkfaul
sind oder hart arbeitende Menschen, die trotz mehrerer Jobs unter der
Armutsgrenze leben. Eins von beiden. Das Leben der vermeintlichen
Rabenmutter Nathalie und des aggressiven Marcel kontrastiert die Sendung
mit dem von Tina und ihrem Mann Heiko, der neben der Stütze minijobbt, um
den drei Kindern etwas bieten zu können („Leuten, die Hartz IV beziehen und
nicht arbeiten wollen, denen würde ich sagen, euch sollte man das Geld
streichen, weil ihr seid’s nicht wert!“). So spielt „Armes Deutschland“
seine Protagonist:innen gegeneinander aus.
Wie manipulativ die Darstellung der Betroffenen ist, zeigt sich auch am
Schnitt. Auf Nathalies Aussage, dass ihre Wohnung jetzt so sauber sei, dass
man dort vom Boden essen könne, zeigt eine Kamerafahrt Kot im Badezimmer,
eine komplett verdreckte Küche und Tabakreste auf dem Couchtisch.
„Hartz und herzlich“, ebenfalls Teil der „Trotz dem Leben“-Reihe,
orientiert sich an der britischen Sendung [5][„Benefits Street“] des
Privatsenders Channel 4. In der von 2014 bis 2015 laufenden
Pseudodokumentation wurden die Schicksale einer besonders von Armut
betroffenen Straße in einem Arbeiterviertel von Birmingham gezeigt. Die
Sendung führte in England zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte, an
der selbst der damalige Premierminister David Cameron im Unterhaus Stellung
bezog, wie Gäbler in seiner Studie erzählt.
Das RTL2-Pendant „Hartz und herzlich“, in denen Menschen aus deutschen
Arbeitervierteln porträtiert werden, führte ebenfalls zu Kontroversen. Die
Einwohner:innen des Viertels fühlten sich falsch dargestellt, die
SPD-Politikerin Bärbel Bas sprach von einer einseitigen und klischeehaften
Darstellung. Der Leiter der RTL2-„Docutainment“-Abteilung [6][verteidigte
damals das Konzept in einem Blogpost]: „Kein intellektueller Überbau und
auch keine journalistische Betroffenheit. Wir wollten die Realität abbilden
– echt, pur und fernab jeglicher Zuspitzung.“
Medienwissenschaftler Bernd Gäbler schreibt in seiner Studie, es werde
bewusst ausgewählt. „Vorgeführt wird ein Extremismus des Elends, gecastet
werden krasse Charaktere, suggeriert wird aber: So sind sie, die
‚Unterschichten‘.“ Anstatt Menschen verschiedener sozialer Hintergründe
darzustellen, werde nur das Stereotyp des armen, faulen und verwahrlosten
Hartzers bedient. Die Lebensrealität der Figuren werde der Dramaturgie
angepasst, wodurch die Protagonist:innen zu Abziehbildern würden. Das
Interviewangebot der taz zu den Sendungen „Hartz und herzlich“ und „Armes
Deutschland“ schlugen RTL2 sowie der Privatsender-Verband Vaunet übrigens
aus.
Gäblers Kritik richtet sich aber nicht nur gegen RTL und Private. Bei den
öffentlich-rechtlichen Sendern finde das Thema Armut in Deutschland abseits
der tagesaktuellen Berichterstattung kaum statt. Höchstens in einzelnen
Reportagen oder Berichten. Längere Dokumentationen oder fiktionale Formate
finde man dagegen „allenfalls sporadisch“.
Wenn ARD und ZDF ihrem Auftrag, alle Bevölkerungsschichten angemessen zu
repräsentieren, gerecht werden wollen, bräuchte es eine Programmstrategie,
die sei aber nicht zu erkennen. Armut zur besten Sendezeit gebe es selten
und dann meist bei Frank Plasberg, Maybrit Illner und Konsorten. So
verschenken die Öffentlich-Rechtlichen gleichzeitig eine wichtige
Zielgruppe – in Deutschland [7][sind knapp 13 Millionen Menschen
armutsgefährdet], wenn man die Definition zugrunde legt, bei der alle mit
weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in diese Gruppe fallen.
Doch auch der Mittelstand schaut Sozialreportagen à la „Hartz aber
herzlich“. Unter diesen Zuschauer:innen befinden sich „Armutsvoyeure, wie
ich Menschen nennen möchte, die sich am Elend ihrer Mitbürger ergötzen“,
glaubt Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge. Sie
befänden sich in der Mitte der Gesellschaft, seien aber entweder gefährdet,
gesellschaftlich abzusteigen, oder beobachteten das Prekariat mit einer
Mischung aus Abstiegsangst und Faszination. „Sie wollen ihre Vorurteile
bestätigt sehen, dass die Armen arbeitsscheu und faul sind, im Jogginganzug
vor dem Fernseher sitzen, dabei massenhaft Chips essen und literweise Bier
trinken“, sagt Butterwegge.
## Es geht auch anders
So reproduziere sich das Bild vom armen Versager. Dieses Zerrbild müsse
dringend gerade gerückt werden, sagt Butterwegge. Das gehe aber nur, wenn
von Armut Betroffene in den Medien „nicht als exotische Wesen erscheinen,
die in einer anderen Welt leben und in ihrer Wohnung verwahrlosen, sondern
als Menschen wie du und ich“.
Das wäre denkbar einfach. Schon vor Jahren veröffentlichte die Wiener
Armutskonferenz, ein Zusammenschluss aus österreichischen
Hilfsorganisationen, ihren [8][„Leitfaden zur Armutsberichterstattung“].
Der liest sich wie das kleine Einmaleins des sensiblen Fernsehjournalisten.
Begegne Protagonist:innen auf Augenhöhe! Zeige sie aktiv statt passiv!
Vermeide Klischee-Bilder wie Kippe im Mund und Bier auf dem Fliesentisch!
Und, ganz wichtig: Protagonist:innen sollen über die Folgen ihrer
Aussagen aufgeklärt werden, wenn nötig. Gleichzeitig mahnen die
Verfasser:innen zur Sprachkritik. Begriffe wie „die Armen“, „sozial
schwach“ oder „arbeitsscheu“ seien zu vermeiden, sie reduzierten Menschen
auf ihre Armut oder suggerierten, sie seien selbst schuld. Gleichzeitig
solle der Kontext vermittelt werden, in dem Betroffene sich befänden.
Schuld an ihrer Lage seien nicht notwendigerweise sie selbst, sondern vor
allem strukturelle Probleme. In weiten Teilen lesen sich solche
Empfehlungen wie das genaue Kontrastprogramm zu einer Folge „Armes
Deutschland“.
8 Apr 2020
## LINKS
[1] /Massnahme-gegen-Corona-Krise/!5670546
[2] https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten…
[3] /Berichterstattung-ueber-Fluechtlingskrise/!5434399/
[4] /Trash-Fernsehen-auf-RTL2/!5504489
[5] /Darren-McGarvey-ueber-Armut/!5624437
[6] https://www.waz.de/staedte/duisburg/west/rtl-ii-wehrt-sich-gegen-kritik-an-…
[7] /Bericht-zu-sozialer-Lage-in-Deutschland/!5649433
[8] http://www.armutskonferenz.at/publikationen/leitfaden-fuer-respektvolle-arm…
## AUTOREN
Matej Snethlage
Patrick Wagner
## TAGS
Schwerpunkt Armut
Hartz IV
Medienethik
RTL
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Armutsbericht
RTL
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