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# taz.de -- Soziale Ungerechtigkeit in Deutschland: Hört auf zu klatschen!
> Die einen spenden in der Corona-Krise vom schicken Altbaubalkon aus
> Applaus, die Beklatschten selbst haben keine Zeit dafür – und keine
> Balkone.
Bild: Sobald die Wohnungen kleiner und die Balkone weniger werden, lässt auch …
Hamburg taz | Ich bin 43 Jahre alt, Akademiker, gut bezahlt,
Personalverantwortung, eine kleine Familie, eine teure Wohnung in einem
sich rasch gentrifizierenden großstädtischen Viertel von Hamburg – von der
Krise zwar überrascht, bestürzt, aber bisher nur mäßig betroffen.
Mein Home-Office aus der fünften Etage, die Nachbarschaft überschauend, mit
neuestem Laptop und Premium-Videokonferenz-Account ausgestattet, lässt fast
nichts zu wünschen übrig. Abends wird gekocht: frisches Gemüse vom
Bio-Bauern aus dem Alten Land, häufiger ein Glas südfranzösischer Rotwein.
Und um 21 Uhr wird geklatscht, sehr laut, oft mit Gejohle, viele junge
Familien stehen auf den hell erleuchteten Balkonen rundum. Ich sehe Bärte,
manchmal Weingläser; es menschelt.
Seit ein paar Tagen gehe ich jetzt immer um kurz vor 21 Uhr raus. Geht man
nach Norden, drängen Hamburgs rote Backsteinviertel die hohen, weißen
Altbauwohnungen rasch beiseite. Die Wohnungen werden kleiner, die Decken
niedriger. Nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt klatscht niemand
mehr. Niemand steht auf dem Balkon. Es gibt auch keine Balkone mehr.
Dort, wo niemand mehr klatscht, spür’ ich die Krise wie ein Brennglas. Sie
verschärft und vergrößert die Ungerechtigkeiten, die seit vielen Jahren das
Zusammen- und Auseinanderleben in diesem, unserem Land bestimmen. Sie beißt
die Zähne in unsere alltägliche Gleichgültigkeit. Sie reißt die Menschen
auseinander – jetzt auch sehr sichtbar in der Schlange vorm Bäcker. So
gesehen, ist sie die logische Fortsetzung der bestimmenden Marktlogik, die
zu ökonomischen Abständen, zu Oben, Mitte-Oben und zunehmend viel Unten
führt. Die Krise entblößt und klärt auf.
## Es kann nicht so weitergehen
Denn spätestens jetzt wissen wir, wer die „Systemrelevanten“ sind. Es sind
die ausländischen Erntehelfer, die Sanitäter, die Kassierer, die
Putzkräfte, die Busfahrerinnen, die Systemadministratoren, die
Verwaltungsangestellten, die Krankenschwestern und Altenpfleger. Es sind
all jene, die jetzt nicht klatschen.
Spätestens jetzt wissen wir auch, dass es falsch war, Sozialeinrichtungen,
Renten und Krankenhäuser zu privatisieren, dass es ein Menetekel war als
die Kommunen Bibliotheken und Schwimmbäder dichtmachten, dass Menschen eben
keine Ich-AGs sind, dass Gesellschaften mehr als nur Investitionsmasse
sind, dass globale Lieferketten neben globaler Abhängigkeit vor allem auch
viele regionale Verlierer und wenige global agierende Gewinner generieren.
Und schließlich wissen wir jetzt, dass es so nicht weitergehen kann, dass
es mehr als nur ein paar Schüler braucht, die sich am Freitag Sorgen um
ihre Zukunft machen und dass es mehr als ein paar linke Ökonomen braucht,
die das Ende der Wachstumsgesellschaft herbeireden.
Jetzt wäre es an der Zeit rauszugehen und miteinander ins Gespräch zu
kommen – mit jenen, die uns täglich zur Arbeit bringen, die die Straße
aufräumen, die unseren Alten das Essen bringen, die das Obst im Laden
auslegen, die den Kranken im Bett wenden, die uns Paket und Pizza
zustellen, die abends auf keinem Balkon stehen. Aber nur Reden und Beifall
wird nicht reichen.
Vielleicht sollten wir zunächst aufhören zu klatschen und stattdessen eine
ehrliche Diskussion darüber beginnen, wie [1][die „Systemrelevanten“ auch
systematisch gerecht bezahlt] und respektiert werden.
Vorschläge dazu gibt es eine ganze Reihe. So könnte beispielsweise die
flächendeckende Einführung von Tarifverträgen für alle Pflegekräfte oder
für Angestellte in Supermärkten zu besserer Bezahlung führen – umgekehrt
müssten wir dafür aber wohl auch höhere Preise akzeptieren.
Letztlich wird es nur gemeinsam gehen. Ob nun Engagement in Gewerkschaft
oder Ehrenamt, durch Spenden oder die Unterstützung spezifischer Petitionen
für bessere Bezahlung systemrelevanter Berufe – jeder Einzelne kann etwas
beitragen. Dafür darf es dann auch gerne etwas mehr sein als nur zwei
Minuten Beifall.
14 Apr 2020
## LINKS
[1] /Geld-statt-Applaus-in-der-Corona-Krise/!5676924
## AUTOREN
Ulrich Kühn
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