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# taz.de -- Thomas Pikettys „Kapital und Ideologie“: Eine Erbschaft für al…
> Der französische Starökonom Piketty schlägt in seiner neuen
> Globalgeschichte der sozialen Ungleichheit den „partizipativen
> Sozialismus“ vor.
Bild: Bestsellerautor: Thomas Piketty
Der Franzose Thomas Piketty ist der „Rockstar“ unter den Ökonomen: Sein
Buch [1][„Das Kapital im 21. Jahrhundert“] wurde 2013 zum Weltbestseller
und hat sich mehr als zwei Millionen Mal verkauft. An diesen Erfolg will
Piketty nun mit der Fortsetzung „Kapital und Ideologie“ anknüpfen, die
sogar noch dicker als der Vorgänger ist und stolze 1.312 Seiten umfasst.
Das Kalkül ist so offensichtlich wie ärgerlich: Schon durch den immensen
Umfang will Piketty sicherstellen, dass auch dieses Buch zum „Standardwerk“
aufsteigt.
Leider ist der Inhalt dürftig. Die neue Schrift ist extrem redundant und
wirkt über weite Strecken, als läse man erneut das Buch von 2013. In vielen
Kapiteln recycelt Piketty nämlich jene Statistiken, die schon in „Das
Kapital im 21. Jahrhundert“ illustrierten, wie die Ungleichheit weltweit
steigt. Vom globalisierten Kapitalismus profitieren vor allem die
Kapitalbesitzer, während die Gehälter der Beschäftigten tendenziell
stagnieren.
Diese Statistiken sind verdienstvoll, aber längst bekannt. Sie beruhen auf
einer Datensammlung, die im Internet frei verfügbar ist: der World
Inequality Database. Um Einkommen und Vermögen der Eliten zu erfassen,
wertet dieses Projekt alle Steuerdaten aus, die – je nach Land – bis ins
18. Jahrhundert zurückreichen können. Mehr als 100 Forscher in über 80
Ländern beteiligen sich an dieser globalen Recherche, Piketty gehört zu den
Koordinatoren.
Die Daten für Deutschland erschienen erstmals 2007 und wurden 2018
erweitert. Um sich über die weltweite Ungleichheit zu informieren, muss man
also nicht Piketty lesen. Interessant wäre sein Buch nur, wenn er die
bekannten Daten mit neuen Deutungen versehen hätte.
Sein jetziges Buch wird als „Fortsetzung“ deklariert, ist in Wahrheit aber
eine theoretische Kehrtwende, denn zentrale Annahmen in „Das Kapital im
21. Jahrhundert“ haben sich als Fehler erwiesen. Dieses Buch wurde vor
allem berühmt, weil sich dort eine simple Formel fand, die die steigende
Ungleichheit erklären sollte: r > g. Gemeint war damit, dass die Rendite
(r) stets größer als das Wachstum (g) sei, wobei g für das englische growth
stand.
Die Formel hatte mindestens drei Schwächen. Zum einen erklärte sie nichts;
sie beschrieb nur die Ungleichheit, aber es fehlte die Analyse, warum die
Kluft zwischen Arm und Reich angeblich zwingend sein sollte. Zudem war der
Ansatz deterministisch; politische Einflüsse waren ausgeschlossen. Vor
allem aber stimmte die Formel nicht, wie Pikettys eigenen Statistiken zu
entnehmen war; in den Jahrzehnten von 1940 bis 1980 ist die Ungleichheit im
Westen nicht etwa gestiegen, sondern gesunken, und erst in den vergangenen
vierzig Jahren hat sie wieder zugenommen.
Diese Einwände haben Piketty offenbar überzeugt, ohne dass er dies offensiv
zugeben würde. Er vollzieht eine Korrektur, über die er aber kein Wort
verliert. Von seiner berühmten Formel r > g ist nirgendwo die Rede.
Stattdessen wird permanent betont, dass es keinen Determinismus gebe.
Allein die politische Ideologie entscheide, wie krass die Ungleichheit
ausfalle.
Um die vielfältigen Varianten der Ungleichheit breit darzustellen, handelt
Piketty fast sämtliche Gesellschaften ab, die es in der Weltgeschichte je
gegeben hat. Ob Mesopotamien, das antike Rom, das chinesische Kaiserreich,
das Kastenwesen in Indien, der Iran, das afrikanische Kalifat Sokoto, das
Königreich Aceh auf der Insel Sumatra, Haiti, Brasilien, die amerikanischen
Südstaaten, das russische Zarenreich, Frankreich, Großbritannien, Schweden,
Algerien, Südafrika, die kommunistische Sowjetunion, Osteuropa nach 1990
oder die Eurozone – nichts fehlt.
Für diese historische Rundreise sind selbst 1.300 Seiten nicht genug,
sodass der Abriss oberflächlich bleibt. Pikettys Datenbrei ermüdet, zumal
fast nichts neu ist. Denn Piketty kennt sich in den allermeisten
Weltgegenden nicht aus und muss sich daher auf längst bekannte
Standardwerke stützen.
Nur gelegentlich finden sich interessante Details. So weist Piketty anhand
von Pariser Nachlassakten nach, dass die Ungleichheit nach der
Französischen Revolution massiv angestiegen ist, obwohl der Slogan
„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ das Gegenteil versprochen hatte.
Erhellend ist auch sein Hinweis, wie die Zahlungsbilanz der osteuropäischen
Staaten seit 1990 aussieht: Die EU überweist zwar Milliardenhilfen, aber
mehr Geld wird aus diesen Ländern abgezogen – von westlichen Firmen, die
dort investiert haben und ihre Gewinne in die Heimat transferieren.
Mit seinem Ritt durch die Weltgeschichte will Piketty zeigen, dass
politische Maßnahmen die Ungleichheit reduzieren können. Doch dafür hätte
eine konzise Darstellung des 20. Jahrhunderts gereicht. Denn letztlich
orientiert sich Piketty am „sozialdemokratischen Zeitalter“ in den
westlichen Industrieländern. In den Jahren von 1950 bis 1980 wurden hohe
Einkommen, Vermögen und Erbschaften so stark besteuert, dass die
Ungleichheit zurückging. Zugleich zog das Wachstum an. Es belastet die
Wirtschaft also nicht, wenn die Reichen ihren Beitrag leisten müssen. Die
Neoliberalen sind damit historisch widerlegt.
## Eine soziale Erbschaft
Piketty nennt sein Projekt „partizipativen Sozialismus“. Unter anderem
schlägt er eine soziale Erbschaft für alle vor: Jeder EU-Bürger soll an
seinem 25. Geburtstag 120.000 Euro erhalten – was durch hohe Steuern für
die Reichen mühelos zu finanzieren wäre. Darüber lohnt es nachzudenken.
Aber für diese Kernideen hätten 300 Seiten gereicht, wie das neueste Buch
von Gabriel Zucman zeigt. Der französische Ökonom ist ein Schüler von
Piketty und hat kürzlich „Der Triumph der Ungerechtigkeit“ veröffentlicht
(siehe taz vom 26. 2. 20). Zucman nutzt die gleichen Statistiken wie
Piketty und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Aber Zucman ist knapp, präzise,
brillant. Piketty hingegen ist quälend langatmig.
26 Mar 2020
## LINKS
[1] /Oekonom-Thomas-Piketty-im-Berliner-HKW/!5029046
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
## TAGS
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Ökonomie
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