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# taz.de -- Neoliberalismus der Jungen Liberalen: Sie verstehen es nicht
> Die FDP-Jugend muss begreifen, dass der Neoliberalismus den Menschen die
> Hoffnung nimmt. Er ist Ideologie und Praxis der Wettbewerbsverzerrung.
Bild: Jens Teutrine, Mitglied des Deutschen Bundestages und Juli-Vorsitzender
Zu Beginn ihres Bundeskongresses am vergangenen Wochenende feiern sich die
Jungen Liberalen. 23 Prozent der Erstwähler haben FDP gewählt. Über 4.000
Neumitglieder hat die Jugendorganisation der Liberalen im vergangenen Jahr
dazugewonnen, immerhin fast ein Drittel von nun 14.000 Mitgliedern.
[1][Noch-Vorsitzender Jens Teutrine] lässt alle die Hand heben, die zum
ersten Mal da sind. „Kuckt euch um, wie geil ist das?“ Ja, ist schon geil,
muss man neidlos anerkennen.
Teutrine sieht mit Bart und T-Shirt nicht so aus, wie man sich den
Vorsitzenden der Vorfeldorganisation der [2][Partei von Christian Lindner]
vorstellt. Das Kind einer alleinerziehenden Mutter und ehemaliger
Förderschüler hat sich hochgearbeitet. Ist also laut eigenem
Selbstverständnis lebendes Beispiel der Idee, dass jede und jeder es
schaffen kann.
Sympathisch macht Teutrine unter anderem, wie vehement er sich für
Bildungsgerechtigkeit einsetzt. Die FDP müsse die Bildungspolitik
revolutionieren und zur Chefsache machen. Herkunft dürfe nicht über
Bildungschancen entscheiden.
## Gesellschaftspolitisch progressiv
Die Jungliberalen sind für ein elternunabhängiges Bafög und die Einführung
eines Bürgergelds. Kinder und Jugendliche, die in einer Bedarfsgemeinschaft
leben, sollen alles Geld behalten dürfen, das sie verdienen. Derzeit sei
die Botschaft des Staats an Kinder von Menschen in Hartz IV noch: Wenn du
etwas leisten willst, wirst du bestraft.
Auch sonst kann ein liberal denkender Mensch vieles von dem unterschreiben,
was die Jungliberalen fordern. Legalisierung von Cannabis, Erleichterung
für lesbische Paare, die Kinder haben wollen, und so weiter. Das
gesellschaftspolitische Programm der Julis ist progressiv, an den
individuellen Freiheiten orientiert.
Schon ein Jahr nach ihrer Gründung im Jahr 1980 hatten sich die Jungen
Liberalen einer ökologischen Marktwirtschaft verschrieben. Lustigerweise
forderten die Julis damals, das Verursacherprinzip konsequent anzuwenden,
sowie Umweltbelastungen mittels Steuern und Lizenzen zu reduzieren.
Teutrine freut sich darüber, dass das Ampel-Team der FDP Steuererhöhungen
verhindern konnte, klagt aber, dass man mittlere und niedrige Einkommen
doch steuerlich entlasten wollte. Allerdings ohne umzuverteilen, weil das
Sozialismus ist.
## Strategischer Auftrag
Seinen Jungliberalen gibt Teutrine einen strategischen Auftrag auf den Weg.
Wenn es bisher darum gegangen sei, bürgerrechtliche und
gesellschaftspolitisch liberale Ideen voranzubringen, müsse beim Regieren
ein besonderes Augenmerk auf die Marktwirtschaft gelegt werden.
Zu Recht macht er sich über die vielen Kommentatoren lustig, die sich
fragten, was mit dem Teil von Deutschlands Jugend falsch gelaufen sei, der
FDP gewählt hat. Teutrine erwähnt etwa die zur Erklärung herangezogene
These, in der Schule würde den jungen Leuten halt ein neoliberales Weltbild
vermittelt. „Wäre ja schön, wenn …“, kommentiert er das.
Hier liegt der Hund begraben. Die jungen Avantgardisten der Marktwirtschaft
haben [3][die Bücher von Wirtschaftshistorikern wie Thomas Piketty] nicht
gelesen, die zeigen, dass es der realexistierende Neoliberalismus ist,
der den Menschen jede Hoffnung nimmt, weil er Ideologie und Praxis der
Wettbewerbsverzerrung ist und eine gigantische Umverteilungsmaschinerie in
Gang gesetzt hat – von unten nach oben.
Die Julis scheinen auch nicht zu wissen, dass die US-Idee der Meritokratie
durch Leute wie George W. Bush beerdigt wurde, als dieser etwa die
traditionell hohen Erbschaftsteuersätze in den USA vehement nach unten
korrigierte. Zum Wohl reicher Clans und zum Schaden all jener, die nicht
über ein Erbschaftspolster verfügen.
All das ist keine „Raketenwissenschaft“, wie Teutrine sagen würde. Doch
wenn die Jungen Liberalen eine Kraft der Zukunft sein wollen, müssen sie
ein radikales Projekt angehen. Den Liberalismus selbstkritisch von seinen
katastrophalen neoliberalen Verirrungen befreien. Es klingt nicht so, als
ob sie ihren historischen Auftrag verstanden hätten.
21 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.fdp.de/person/jens-teutrine
[2] /Christian-Lindner/!t5007550
[3] /Thomas-Piketty/!t5010979
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Kolumne Der rote Faden
FDP
Neoliberalismus
Thomas Piketty
Erbschaftssteuer
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Hamburg
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