# taz.de -- Politischer Diskurs in Corona-Krise: Der ganz große Resetknopf | |
> Die Coronakrise wirbelt viele Gewissheiten durcheinander. Sie zwingt | |
> Liberale und Linke dazu, eingeschliffene Narrative zu überdenken. | |
Bild: Auf Abstand: Abgeordnete bei der Abstimmung über den Nachtragshaushalt | |
Corona ist ein riesiger roter Resetknopf, der plötzlich gedrückt wurde. Es | |
fährt das gesellschaftliche und ökonomische Leben fast komplett auf null | |
herunter, aber nicht nur das. Auch der politische Diskurs erlebt gerade | |
einen Neustart, weil das Virus eingeschliffene Ideologien, Narrative und | |
Reflexe pulverisiert. Nach dieser Krise wird vor allem eines gelten: Alles | |
ist anders. | |
Da wäre zum Beispiel der [1][Neoliberalismus], der auch die deutsche | |
Politik seit den 1990er Jahren fest im Griff hatte. Diese Ideologie ist | |
tot. Ihre heiligen Regeln lauteten: Privat vor Staat. Der Staat müsse | |
schlank, also nicht zu teuer sein, der Markt regele alles Weitere. Solch | |
liberale Binsenweisheiten kann im Angesicht von Corona niemand mehr sagen, | |
ohne ausgelacht zu werden. Jetzt zeigt sich: Es braucht einen starken Staat | |
mit Geld, Institutionen und Ordnungspolitik, damit die Marktwirtschaft | |
überleben kann. Schlank ist tödlich, Fettpölsterchen sind | |
überlebenswichtig. | |
600 Milliarden Euro stellt die Regierung in diesen Tagen bereit, um | |
Großunternehmen zu retten. Mit der gigantischen Summe sollen Firmen | |
notfalls verstaatlicht werden. Erinnert sich noch jemand an den | |
liberalkonservativen Aufschrei, als Juso-Chef Kevin Kühnert ein paar | |
Gedanken zu Vergemeinschaftung veröffentlichte? Eine solche Debatte wäre | |
heute schlicht nicht mehr vorstellbar. Selbst Hardcore-Liberale befürworten | |
in diesen Tagen die Renaissance des starken Staates. | |
Christian Lindner zum Beispiel argumentiert wie ein überzeugter | |
Keynesianer. Der Staat, sagt er, müsse „alle fiskalischen Möglichkeiten in | |
die Waagschale werfen“, um einen Strukturbruch zu verhindern. Und wo wir | |
gerade bei Mythen sind, die von der Zeit überholt wurden: Wer sind doch | |
gleich die Leistungsträger der Gesellschaft? Welt, FAZ und Co. haben in den | |
vergangenen Jahren stets Gutverdiener mit diesem Lob geadelt. Je höher das | |
Einkommen, so die vulgärökonomische Logik, desto wertvoller für die | |
Gesellschaft. | |
Das Virus hat diese Erzählung als das entlarvt, was sie immer war: eine | |
Lüge. Die [2][wahren LeistungsträgerInnen] der Gesellschaft sind andere. | |
Sie pflegen alte Menschen, steuern Krankenwagen, bringen den Müll weg oder | |
sitzen an Supermarktkassen. In der Regel schlecht bezahlt, sorgen sie im | |
Moment dafür, dass der Kern des gesellschaftlichen Lebens nicht kollabiert. | |
Diese Leute haben nicht nur Wertschätzung verdient, sondern auch die | |
Fürsorge der Politik und Solidarität bei der nächsten Tarifverhandlung. Für | |
Applaus vom Balkon kann man sich nichts kaufen. | |
Wahr ist aber auch: Es wäre intellektuell etwas armselig, die Krise | |
ausschließlich entlang eigener Überzeugungen zu interpretieren. Nicht nur | |
Marktliberale sollten sich hinterfragen, auch auf die Linke kommt einige | |
Denkarbeit zu. Und jene geht weit darüber hinaus anzuerkennen, dass Jens | |
Spahn oder Markus Söder gerade einen guten Job machen. Bei vielen | |
Linksliberalen gehört es zum guten Ton, den Nationalstaat verächtlich zu | |
betrachten, als überholte Instanz, die der schönen, globalisierten Zukunft | |
im Wege steht. Sie verstehen sich als weltoffene Kosmopoliten, und | |
überzeugte Europäerinnen unternehmen Städtetrips nach Barcelona und New | |
York. | |
Die Grünen lieben diese Vision. Sie schreiben in ihrem Europawahlprogramm, | |
dass sie eine breite Diskussion „über Unionsmodelle wie die Vereinigten | |
Staaten von Europa, den föderativen Bundesstaat oder die Europäische | |
Republik“ führen wollen. Vereinigte Staaten von Europa? Pustekuchen. Ohne | |
den Nationalstaat geht wenig, wenn es ernst wird. Er ist der entscheidende | |
Player, setzt die nötigen Regeln durch, er hilft und ordnet. Ihm vertrauen | |
die Menschen eher als einer abstrakt wirkenden Staatengemeinschaft. | |
Überhaupt macht [3][die EU] gerade keine gute Figur, weil sie die Egoismen | |
nicht bändigen kann. Einzelne Mitgliedsstaaten hamsterten Atemschutzmasken | |
oder weigerten sich, medizinisches Gerät ins schwer betroffene Italien zu | |
liefern. Sie produzieren lieber erst mal für den eigenen Bedarf. Die | |
angebliche Wertegemeinschaft bläst zum Kampf gegen Corona, hat aber kein | |
Problem damit, über 20.000 Geflüchtete auf einer griechischen Insel | |
einzupferchen. Im Flüchtlingscamp Moria herrschen fürchterliche hygienische | |
Zustände. Weiß der Himmel, was passiert, wenn dort Panik ausbricht. Die EU | |
holen gerade ihre Fehler der Vergangenheit ein, besonders die brutale | |
Austeritätspolitik. Es war die Troika der EU, die das überschuldete Italien | |
im Jahr 2011 zwang, sein Gesundheitssystem drastisch zusammenzukürzen. Es | |
ist deshalb Zeit, dass Linksliberale ihre Europa-Romantik beiseitelegen. | |
Der rote Resetknopf löscht auch Mechanismen, die in der Politik bisher | |
sakrosankt waren. Regierung und Opposition arbeiten plötzlich zusammen. | |
Selbstsüchtige Profilierungstendenzen werden erkennbar weniger. Dafür | |
wächst der Mut, sich zu korrigieren. Viele PolitikerInnen glauben ja zu | |
Unrecht, unfehlbar wirken zu müssen. Von einmal bezogenen Positionen | |
abzurücken, galt als Zeichen der Schwäche. Dank der Krise wird die | |
Fähigkeit, Fehler einzugestehen, zur Tugend. Da sie alle, PolitikerInnen, | |
JournalistInnen und sogar ExpertInnen, in einen Zustand der Unwissenheit | |
stößt. Der Virologe Christian Drosten, der den Gestus der Allwissenheit | |
selbstbewusst ablehnt, wird zum Role-Model. | |
PolitikerInnen treibt stets die Furcht um, den BürgerInnen Unangenehmes | |
zuzumuten. Die Diskussion über den Klimawandel ist geprägt von dieser | |
Angst, in allen Parteien, auch bei den Grünen, ist Radikalität verpönt. Nun | |
sind die Klima- und die Coronakrise strukturell schwer vergleichbar. Aber | |
eine These lässt sich vielleicht doch übertragen: In der Coronakrise zeigt | |
sich, dass Politik zu harten Maßnahmen fähig ist, wenn es ums Überleben | |
geht. Und dass die allermeisten BürgerInnen bereit sind, mitzuziehen. Ob | |
das beim Klimaschutz funktionieren kann, ist offen. Aber hoffen, das darf | |
man doch. | |
26 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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