| # taz.de -- Epidemien als Fortschrittsmotor: Tödliche Gefahr Nachbar | |
| > Epidemien können auch Fortschritt befördern und Zeitenwenden einleiten. | |
| > Zum Beispiel eine Abkehr vom Neoliberalismus. | |
| Bild: Die Fassade „One Wall“ von der Künstlerin Emily Eldridge thematisier… | |
| Lasst uns in dieser für alle schweren Zeit mit etwas Leichterem beginnen, | |
| mit der Mode und zeitgenössischen Schönheitsidealen. Schlankheit ist ja | |
| eines der vorherrschenden Schönheitsideale. Bei Frauen: dieser anorexische | |
| Kate-Moss-Typ mit dem verschleierten Blick. Aber auch bei Männern: dieses | |
| Dürre, Schlaksige, Verhuschte, der halbverhungerte Künstlertyp mit Blick | |
| ins Leere und verwuschelter Frisur. Es sind diese Typologien, die wir in | |
| jedem Modemagazin finden. | |
| Skurrilerweise gehen sie auf das Wüten der Tuberkulose zurück, eine der | |
| schlimmsten, tödlichsten Epidemien, die aber anders als die Pest oder die | |
| Pocken nicht zu schnellem, sondern schleichendem Tod führte und deren | |
| Symptome auch nicht so äußerlich entstellend waren – so dass die | |
| Tuberkulose nicht nur als Terror im kulturellen Gedächtnis blieb. Sie traf | |
| viele Menschen in ihrer Blüte, machte vor wohlsituierten Menschen nicht | |
| halt und wurde als Künstlerkrankheit sogar romantisiert und ästhetisiert. | |
| Wer von ihr befallen war, verschwand allmählich, verfiel ins Geisterhafte. | |
| So prägte sie das kulturelle Gedächtnis. | |
| Epidemien und Pandemien können den Lauf der Geschichte beeinflussen, im | |
| Großen und im Kleinen. Sie können zu einem Mentalitätswandel beitragen. | |
| Ratten empfinden die meisten von uns immer noch als unsympathische Tiere. | |
| Die nette, kochende Ratte im Zeichentrickfilm „Ratatouille“ bleibt da ein | |
| Sonderfall, genauso wie die einstige Mode der Punks, sich Ratten zu halten. | |
| Vielleicht haben sich die Punks ja nur Ratten gehalten, weil die Ratten so | |
| „außerhalb der Gesellschaft“ standen, wie das die Punks auch gern wollten. | |
| Und das hat natürlich mit den Ratten als Wirtstiere jener Flöhe zu tun, die | |
| [1][die Pest] übertrugen. | |
| Übrigens, keine Sorge: Die heute bei uns heimischen Ratten sind antisoziale | |
| Tiere und daher als Krankheitsüberträger unwahrscheinlich. Die | |
| zutraulichereren und daher gefährlichen alten Pest-Ratten wurden von den | |
| heute heimischen Ratten ausgerottet. | |
| Frank M. Snowden, ein amerikanischer Wissenschaftler, hat ein grandioses | |
| Buch über die Bedeutung von Seuchen für die gesellschaftliche Entwicklung | |
| geschrieben: „Epidemics and Society“. Eine Erkenntnis aus diesem Buch ist, | |
| dass Epidemien ganz ambivalente Auswirkungen haben. Sie sind nicht gerade | |
| eine Schule der Solidarität. Auch wenn wir jetzt alle versuchen, unseren | |
| betagten oder immungeschwächten Nachbarn beim Einkauf zu helfen und wenn | |
| die systemrelevanten Arbeitnehmer, von den Verkäuferinnen im Supermarkt | |
| über die Pflegedienste bis zu den Lkw-Fahrern, Ärztinnen und | |
| Hilfsorganisationen jetzt die wirklichen Helden sind – ganz generell | |
| spornen Epidemien nicht dazu an, dem Nächsten beizustehen. Der ist nämlich | |
| ansteckend, ergo: potenziell tödlich. [2][Wenn einer hustet], sucht man das | |
| Weite. Es gibt Katastrophen, bei denen solidarisches Handeln leichter fällt | |
| – bei Erdbeben kann man Leute bei sich zu Hause aufnehmen. | |
| Aber Pandemien sind sehr wohl auch Motor solidarischer Gesellschaften und | |
| des gesellschaftlichen Fortschritts. Ordentliche Wohnungen, ein | |
| Gesundheitssystem, zu dem alle Zugang haben, Wasser- und Abwassersysteme – | |
| sie sind historisch eine Folge von Epidemien. Denn auch die Reichen haben | |
| verstanden, dass sie nur dann sicher sind, wenn auch die Schwächsten sicher | |
| sind. Ein Gesundheitssystem, das nur für die Reichen funktioniert, | |
| funktioniert für niemanden – das haben Pandemien gelehrt. „Die | |
| Kapitalistenherrschaft kann sich nicht ungestraft das Vergnügen erlauben, | |
| epidemische Krankheiten unter der Arbeiterklasse zu erzeugen; die Folgen | |
| fallen auf sie selbst zurück, und der Würgengel wütet unter den | |
| Kapitalisten ebenso rücksichtslos wie unter den Arbeitern“, wusste | |
| Friedrich Engels schon vor 150 Jahren. | |
| Manche erleben auch leise Panik. Normalerweise verstehen wir unter Panik, | |
| dass Leute aufgeregt kopflos herumlaufen. Kommt eher selten vor dieser | |
| Tage. Man sitzt daheim und allenfalls flattern die Nerven. Gibt es so was | |
| wie stoische Panik? | |
| Der [3][Neoliberalismus] mit seiner Marktgläubigkeit und seiner | |
| Staatsverachtung hat für das Erste ausgedient. Dafür drohen andere | |
| Gefahren. Pandemien waren immer schon gute Gelegenheiten, harsche | |
| obrigkeitsstaatliche Maßnahmen zu verhängen. Notfallmaßnahmen sind die am | |
| meisten missbrauchten Gesetze in der Politik. Was aber nicht heißt, dass | |
| der Notfall nicht existiert. Der Notfall existiert, und deshalb erlaubt er, | |
| Regelwerke zu verabschieden, die sonst nie akzeptiert würden. | |
| Wohl auch bei uns wären die Bürgerinnen und Bürger jetzt davon zu | |
| überzeugen, Tracking-Software im China-Style auf ihre Handys zu laden. Auch | |
| in Demokratien sind Ausnahmezustände wie diese die Stunde der Exekutive, | |
| und man braucht schon wirkliche Vollblutdemokraten an der Regierungsspitze, | |
| dass die nicht in Versuchung kommen, diese zu missbrauchen. | |
| 28 Mar 2020 | |
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| Robert Misik | |
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