| # taz.de -- Psychologie und Corona: „Angst ruft nach Autorität“ | |
| > Gut, dass uns das Virus in einer gefestigten Demokratie erwischt, sagt | |
| > die Ärztin Kirsten Kappert-Gonther. Ein Gespräch über Gefühle in der | |
| > Krise. | |
| Bild: Irgendwann kommen die wilden Tiere in die Stadt zurück | |
| taz: Frau Kappert-Gonther, gerade in einer Krise ist es wichtig, dass | |
| politische Entscheidungen rational getroffen werden. Wie gelingt das? | |
| Kirsten Kappert-Gonther: Das gelingt im Moment gut. Die Regierung nimmt | |
| ernst, [1][was VirologInnen und ExpertInnen sagen,] und arbeitet mit der | |
| Opposition zusammen. Und, ganz wichtig, sie teilt sich der Bevölkerung mit. | |
| Wenn sich hingegen Einzelne einen Wettbewerb um die schnellste und härteste | |
| Maßnahme liefern, schürt das eher Angst. | |
| Was macht Angst mit einer Gesellschaft? | |
| Angst ist in einer Bedrohungssituation etwas Angemessenes. Angst ruft aber | |
| auch nach Autorität. Sie lässt schnell eine Spirale mit dem Ruf nach | |
| weiteren Maßnahmen entstehen, je restriktiver, so die Hoffnung, desto mehr | |
| Sicherheit. | |
| Warum ist das so? Angst könnte doch auch misstrauisch machen gegenüber der | |
| Regierung. | |
| Wir regredieren in der Angst und sehnen uns, wie Kinder, nach einem starken | |
| Elternteil. | |
| Krisen sind also gute Zeiten für Autokraten? | |
| Wir können froh sein, dass Corona uns in einer gefestigten Demokratie | |
| erwischt. Viele wünschen sich in solchen Zeiten eine Person, die sagt: So | |
| machen wir das. Wir beobachten hier gerade aber eher, dass die Politik | |
| breit nach Rat sucht. Das ist in einer Situation mit so vielen | |
| Unsicherheiten sehr klug. Keiner weiß alles. Wir alle leben ja vorwärts, | |
| können aber rückwärts besser verstehen. | |
| Wie handeln Individuen, wenn sie ängstlich sind? | |
| Panik und Bagatellisierung sind Geschwister. Zu Beginn der Krise waren zwei | |
| typische Mechanismen zu beobachten: Die einen reagieren panisch und kaufen | |
| wie wild Toilettenpapier, obwohl es dafür keinen vernünftigen Grund gibt. | |
| Die anderen bagatellisieren die Gefahr und machen weiter wie bisher. | |
| Findet die Gesellschaft inzwischen die gesunde Mitte? | |
| Ja, viele Menschen helfen sich, sind bereit, sich zu hinterfragen. Es gab | |
| vor der Krise die Vorstellung: Wenn man einmal eine Meinung vertritt, hat | |
| man bei ihr zu bleiben. Irrtümer einzugestehen, galt als Schwäche, auch in | |
| der Politik. Das ist anders geworden, und das ist gut so. Jetzt ist nicht | |
| die Zeit für Rechthaberei. | |
| Die Politik wirkte oft unsortiert. Ein Bundesland erließ Maßnahmen, andere | |
| zogen nach. War das vernünftig – oder eine Art Mitläufertum? | |
| Alle Maßnahmen sind bisher überwiegend von Vernunft geleitet. Natürlich | |
| schauen PolitikerInnen, was andere machen – und wollen nicht nachstehen. | |
| Keiner will eine Entscheidung verpassen, die sich im Nachhinein als | |
| relevant erweist. Das ist in der Suchbewegung, in der sich die Gesellschaft | |
| gerade befindet, nur natürlich. Es darf aber keine Autoritätsspirale | |
| einsetzen, bei der einer den anderen in vorauseilendem Gehorsam nachahmt. | |
| Gehen Ihnen manche Entscheidungen zu weit? Selbst in Großstädten sind jetzt | |
| Spielplätze geschlossen. | |
| Die Politik hält die Balance zwischen nötigem Gesundheitsschutz und der | |
| Wahrung von Grundrechten. Klar, Kinder müssen – wie wir alle – an die | |
| frische Luft, sie müssen toben können. Aber auf Spielplätzen knubbelt es | |
| sich, das Risiko der Ansteckung steigt. Doch viele haben keinen eigenen | |
| Garten. Darum halte ich die aktuelle Entscheidung, Kontakte einzuschränken, | |
| aber keine generelle Ausgangssperre zu erlassen, für genau richtig. | |
| Spaziergänge und frische Luft stärken das Immunsystem und die Seele. | |
| Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat in einer Rede gesagt, man befinde | |
| sich „im Krieg“. Ist diese Sprache angemessen? | |
| Meine Sprache wäre das nicht. Das Wort „Krieg“ ist ein Angsttrigger. Und | |
| Sprache konstituiert bekanntlich das Bewusstsein. | |
| Kann zugespitzte Sprache auch nutzen? Weil sie Menschen den Ernst der Lage | |
| unmissverständlich klarmacht? | |
| Macrons Rede hatte ja beides. Er hat auch viel Empathie gezeigt – und viele | |
| Gruppen einzeln angesprochen. Er sagte: Leute, es geht um unser Überleben – | |
| „im Krieg“. Aber auch: Ich sehe euch. | |
| Wie bewerten Sie die Krisenkommunikation Angela Merkels? | |
| [2][Die Bundeskanzlerin trifft den richtigen Ton.] Sie ist krisenerfahren | |
| und muss sich nicht mehr profilieren, das hilft. | |
| Wie wichtig ist Ehrlichkeit in einer Krise? | |
| Sehr wichtig. Es wäre falsch, die allgemeine Verunsicherung zuzudecken und | |
| hinten in den Schrank zu stellen. Das funktioniert auch bei Kindern nicht. | |
| Die haben ein feines Gespür für Atmosphäre, für die Angst ihrer Eltern. | |
| Gefühle, auch unangenehme wie Angst oder Wut, sollten ausgesprochen werden. | |
| Wie reden Menschen gerade generell miteinander? | |
| Mir fällt auf, dass die Leute freundlicher und zugewandter miteinander | |
| umgehen. Ob es nun in der Telefonschalte in der Politik ist oder in der | |
| Bäckerei. Man fragt erst mal, wie es geht. Und das ist keine Floskel, | |
| sondern ernst gemeint. | |
| Man betreibt „social distancing“, ist sich aber näher? | |
| Ja. Körperlich auf Distanz zu gehen, heißt eben nicht, auf Nähe zu | |
| verzichten. Es ist im Moment eine verunsichernde Situation, wir können es | |
| ja alle nicht fassen. Menschen brauchen Zuwendung, Trost, Fürsorge und | |
| Gemeinschaft. Das klappt trotz allem ganz gut. | |
| Trotzdem leiden gerade viele Menschen in der Isolation. Was macht | |
| Einsamkeit mit Leuten? | |
| Es gibt einen Unterschied zwischen alleine sein und einsam sein. Selbst | |
| gewählter Rückzug ist erholsam. Aber Einsamkeit macht krank und depressiv. | |
| Sie ist eine große Gefahr, und sie wird ein zentrales Problem der Zukunft | |
| sein. Aber auch hier kann die Krise produktiv wirken. | |
| Wie? | |
| Es gibt gerade unheimlich viel Kreativität. Menschen entdecken, wer in | |
| ihrer Nachbarschaft einsam ist. Sie helfen alten Leuten bei Einkäufen oder | |
| rufen regelmäßig in Pflegeheimen an. Andere entdecken Spielplattformen im | |
| Netz oder virtuelle Chöre. Dieses ernsthaftere Zuhören, das ich beobachte, | |
| gibt mir Hoffnung. Durch die Krise könnte Einsamkeit endlich als relevantes | |
| Problem anerkannt werden. | |
| Es ist bisher ein Tabu, zuzugeben, dass man einsam ist. Könnte das jetzt | |
| gebrochen werden? | |
| Ja. Viele Menschen schämen sich, ihre Einsamkeit einzugestehen, und sie | |
| werden ja in unserer Schnelllebigkeit auch oft übersehen. Durch das | |
| Coronavirus ist klar: Es geht dabei nicht um die Kategorie von Schuld, ist | |
| es nie gegangen. Einsamkeit kann jeden treffen. | |
| Wird diese Krise unsere Gesellschaft im Grundsatz verändern? | |
| Ja, wir werden zum Beispiel lernen, dass es nötig ist, sich aufeinander zu | |
| verlassen. Der ewige Wettbewerb, wer ist die Beste, Schnellste, Fitteste – | |
| darauf sollte es in Zukunft nicht ankommen. Es kommt auf Kooperation an. | |
| Aber wird diese Veränderung von Dauer sein? | |
| Ja, diese Erfahrungen werden nicht einfach aus dem kollektiven Gedächtnis | |
| verschwinden. Das Erstarken der Nachbarschaftshilfe, was sich im Moment | |
| zeigt, finde ich bemerkenswert. Junge Menschen unterstützen alte, wer nicht | |
| mehr zur Arbeit muss, bietet an, auf Kinder aufzupassen. Da entsteht ein | |
| neuer, hoffentlich nachhaltiger Zusammenhalt. Übrigens auch für Menschen, | |
| die schon vor der Krise einsam oder hilfsbedürftig waren. | |
| Gibt es zur Nachhaltigkeit von solchen Effekten wissenschaftliche | |
| Erkenntnisse? Bleiben Menschen dauerhaft befreundet, die in einer | |
| Notsituation zusammengeschweißt wurden? | |
| Es gibt beides, das weiß ich aus meiner Tätigkeit als Ärztin in einer | |
| psychiatrischen Klinik. Manchmal entstehen in Krisen lebenslange | |
| Freundschaften, manchmal ist nach zwei Wochen wieder alles wie vorher. | |
| Deshalb kommt es auch auf die Politik an. Sie muss einen Rahmen schaffen, | |
| der das Solidaritätsmoment über die Krise hinaus stützt. | |
| Wie kann solch ein Rahmen aussehen? | |
| Berufsgruppen wie PflegerInnen oder VerkäuferInnen, die endlich als | |
| systemrelevant erkannt wurden, müssen mehr gewertschätzt und besser bezahlt | |
| werden. Regionale Netzwerke und Nachbarschaftshilfe kann man gezielt | |
| fördern. Überall da, wo jetzt der Keim der Solidarität aufgeht, muss der | |
| Staat unterstützen – vor allem auch in den Kommunen. Und vor allem müssen | |
| die von der Krise besonders Betroffenen, wie KünstlerInnen, Arme, kleine | |
| Betriebe jetzt schnelle Hilfe bekommen, damit das Gefühl der Solidarität | |
| Substanz hat. | |
| 25 Mar 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.rki.de/DE/Home/homepage_node.html | |
| [2] /Merkels-Fernsehansprache/!5672368 | |
| ## AUTOREN | |
| Heike Haarhoff | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| psychische Gesundheit | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Gesundheit | |
| Einsamkeit | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Beschränkungen während der Feiertage: Ostern wird Indoor-Veranstaltung | |
| Kanzlerin Merkel und die Länderchefs verlängern die strengen | |
| Kontaktbeschränkungen bis nach Ostern. Eine Maskenpflicht kommt nicht. | |
| Beschränkungen wegen Coronakrise: Die Suche nach dem Ausgang | |
| Treffen in Gruppen verboten, Kitas, Schulen und Geschäfte dicht: Viele sind | |
| genervt von Corona-Restriktionen. Die wichtigsten Fragen zum Exit. | |
| Maßnahmen gegen Coronavirus: Zügige Forschung gefordert | |
| Die Bundesregierung plant keine wissenschaftliche Evaluation der | |
| Anti-Corona-Maßnahmen. Dafür wird sie nun heftig von der Opposition | |
| kritisiert. | |
| Soziologe Hartmut Rosa über Corona: „Wir sind in einem Versuchslabor“ | |
| Die Corona-Pandemie zwingt uns, alles neu zu denken, sagt der Soziologe | |
| Hartmut Rosa. Unsere Gesellschaft könne sich neu erfinden – und hätte es | |
| nötig. | |
| Maßnahmen gegen die Corona-Ausbreitung: Bauernskat erlaubt, Skat verboten | |
| Bund und Länder einigen sich auf weitere Einschränkungen des öffentlichen | |
| Lebens. Aber es gibt keine Ausgangssperre. Bayern bleibt rigider. | |
| Sich auf Corona testen lassen: Der Virus-Test | |
| Soll ich mich auf das Coronavirus testen lassen oder nicht? Angesichts | |
| steigender Infektionszahlen fragen sich dies viele. Die taz gibt Antworten. | |
| Psychologe über das Coronavirus: „Angst ist ansteckend“ | |
| Das Coronavirus verändert bereits den Alltag. Der Psychologe Jürgen Margraf | |
| spricht erkennt darin Angst, Solidarität und rassistische Untertöne. |