| # taz.de -- US-Gesundheitssystem und Corona: Der Hurrikan | |
| > Das auf Profit getrimmte Gesundheitssystem in den USA wird an Corona | |
| > scheitern. Was jetzt zu tun ist. | |
| Das Coronavirus ist wie ein alter Film, den wir schon mal gesehen haben. | |
| Richard Preston hat 1994 in seinem Buch „The Hot Zone“ den Dämon | |
| beschrieben, der aus einer Fledermaushöhle in Zentralafrika stammte und als | |
| [1][Ebola] bekannt wurde. Auf Ebola folgten 1997 die Vogelgrippe und 2002 | |
| SARS. In beiden Fällen trat das Virus zuerst in Guangdong, einem | |
| Produktionszentrum der globalen Ökonomie, auf. | |
| Hollywood benutzte diese Epidemien, um Thriller zu inszenieren, die mit | |
| unseren Ängsten spielen. Steven Soderberghs „Contagion“, der 2011 | |
| wissenschaftliche Erkenntnisse über Pandemien verarbeitete, scheint das | |
| gegenwärtigen Chaos auf geradezu unheimliche Art vorweggenommen zu haben. | |
| Mit Corona tritt also ein bekanntes Monster durch unsere Haustür. Die | |
| Sequenzierung seines Genoms (das SARS sehr ähnlich ist) war ein | |
| Kinderspiel. Trotzdem fehlen uns noch immer die wichtigsten Informationen. | |
| Drei große Herausforderungen sind zu bewältigen. | |
| Erstens: Es mangelt eklatant an [2][Tests], vor allem in den USA und | |
| Afrika. Deshalb sind verlässliche Schätzungen der wesentlichen Parameter – | |
| Reproduktionsrate, Zahl der Infizierten und Zahl der gutartigen | |
| Infektionen – fast unmöglich. Das Ergebnis ist das derzeitige Zahlenchaos. | |
| ## Tödliches Risiko für ein Viertel der US-Bürger | |
| Zweitens: Das Coranavirus mutiert, so wie auch die jährlichen Grippeviren. | |
| Das Virus, das US-Bürger befällt, unterscheidet sich bereits leicht von dem | |
| ursprünglichen Virus in Wuhan. Mutationen können die Krankheit mildern – | |
| oder ihre Virulenz verschärfen. Fakt ist derzeit: Gefährdet sind alle, die | |
| über 50 Jahre sind. Corana birgt damit für ein Viertel der US-Bürger – | |
| Ältere, solche mit schwachem Immunsystem oder chronischen Atembeschwerden – | |
| ein tödliches Risiko. | |
| Drittens: Auch wenn das Virus stabil bleibt und kaum mutiert, kann sich | |
| Corona auf Jüngere in armen Ländern anders auswirken als derzeit vermutet. | |
| Denken wir an die Spanische Grippe, der 1918/19 circa 1 bis 2 Prozent der | |
| Menschheit zum Opfer fielen. In den USA und Westeuropa war das Virus der | |
| Spanischen Grippe für junge Erwachsene am häufigsten tödlich. Dies erklärte | |
| man sich lange so: Das stärkere Immunsystem der Jüngeren überreagierte auf | |
| die Infektion, griff Lungenzellen an und verursachte eine Lungenentzündung | |
| und einen septischen Schock. In jüngerer Zeit stellten einige Epidemiologen | |
| die Theorie auf, dass ältere Erwachsene möglicherweise eine Art | |
| Immungedächtnis von einem früheren Ausbruch in den 1890er Jahren hatten, | |
| das ihnen Schutz bot. | |
| Die Spanische Grippe streckte in Armeelagern junge Soldaten zu | |
| Zehntausenden nieder. Die Epidemie wurde zu einem wichtigen Faktor im | |
| Weltkrieg. Die deutsche Frühjahrsoffensive 1918 in Frankreich brach auch | |
| wegen dieser Grippewelle zusammen. Die Alliierten konnten ihre kranken | |
| Divisionen mit neu angekommenen US-Soldaten auffüllen – ihre Feinde nicht. | |
| ## Beispiel Spanische Grippe | |
| In ärmeren Ländern hatte die Spanische Grippe Auswirkungen, die weniger | |
| bekannt sind. Fast 60 Prozent aller Opfer (also mindestens 20 Millionen | |
| Tote) lebten in Westindien, im Punjab und Bombay. Dort führten Dürre und | |
| die brutal erzwungenen Getreideexporte nach Großbritannien zu einer | |
| Nahrungsmittelknappheit, die für viele Ärmere Hunger bedeutete. So wurden | |
| Millionen Opfer einer finsteren Synergie von Unterernährung, die die | |
| Immunabwehr schwächte, und einer grassierenden viralen und bakteriellen | |
| Lungenentzündung. | |
| Diese Geschichte sollte uns eine Warnung sein: Unterernährung und | |
| Infektionen können fatale Wechselwirkungen entfalten. Covid-19 kann in den | |
| dicht besiedelten Slums Afrikas und Südasiens andere Folgen haben als in | |
| Europa und den USA. Manche behaupten, dass die Pandemie in Afrika | |
| glimpflich verlaufen werde. Die städtische Bevölkerung in Afrika sei die | |
| global jüngste. Angesichts der Erfahrung von 1918 ist dies eine törichte | |
| Annahme, vergleichbar mit der Idee, dass die Pandemie, wie eine saisonale | |
| Grippe, mit wärmeren Temperaturen schon zurückgehen werde. Es gibt | |
| Coronaviren bereits in Lagos, Kigali, Addis Abeba und Kinshasa. Doch weil | |
| Tests fehlen, werden wir noch lange Zeit nicht wissen, wie das Virus und | |
| lokale Gesundheitsbedingungen zusammenwirken. | |
| In einem Jahr werden wir voller Bewunderung auf Chinas Erfolg bei der | |
| Eindämmung der Pandemie zurückblicken (wenn die offiziellen Zahlen aus | |
| China über den raschen Rückgang der Infektionen stimmen). Und wir werden | |
| erschüttert sein über das Versagen der USA. Eine Überraschung ist das | |
| nicht: In Krisensituationen sind seit zwanzig Jahren Desaster in der | |
| Gesundheitsversorgung eher Regel als Ausnahme. | |
| Schon bei den Grippeepidemien 2009 und 2018 waren viele Krankenhäuser | |
| überlastet. Um Gewinne zu maximieren, waren Krankenhausbetten sukzessive | |
| abgebaut worden. Nach Angaben der American Hospital Association ging die | |
| Zahl der stationären Krankenhausbetten von 1981 bis 1999 um 39 Prozent | |
| zurück. Das Ziel war es, eine Auslastung von 90 Prozent der Betten zu | |
| erreichen. Deshalb sind Krankenhäuser für Epidemien und Notfälle nicht mehr | |
| gerüstet. | |
| Nach 1999 wurde zudem die Notfallmedizin im privaten Gesundheitssystem | |
| heruntergefahren, um kurzfristig Gewinne zu erhöhen. Auch im öffentlichen | |
| Sektor wurde gespart und gekürzt. Das Ergebnis: Derzeit gibt es in den USA | |
| nur 45.000 Betten in Intensivstationen. Das sind zu wenige, um der | |
| prognostizierten Flut schwerer Corona-Fälle Herr zu werden. In Südkorea | |
| gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung mehr als dreimal so viele | |
| Intensivbetten. | |
| ## Krasse Klassenspaltung | |
| Auf uns kommt ein Hurrikan zu. Wir befinden uns am Beginn eines Desasters, | |
| das dem vergleichbar ist, was der Hurrikan „Katrina“ 2005 in New Orleans | |
| anrichtete. Weil nicht in die medizinische Notfallvorsorge investiert | |
| wurde, fehlt es an fast allem: elementaren Versorgungsgütern, | |
| Notfallbetten, Tests und Schutzausrüstung für Pfleger und | |
| Krankenschwestern. | |
| Corona legt zudem eine krasse Klassenspaltung bloß. Wer von zu Hause aus | |
| arbeiten kann und über eine gute Krankenversicherung verfügt, ist | |
| geschützt. Doch 45 Prozent der Arbeitnehmer in den USA haben kein Anrecht | |
| auf bezahlte Krankheitstage. Sie müssen sich entscheiden, ob sie die | |
| Infektion womöglich übertragen oder bald nichts mehr auf dem Teller haben. | |
| Die Demokraten haben, angeführt von Bernie Sanders, Trump und die | |
| Republikaner nun dazu genötigt, als Notmaßnahme einer bezahlten | |
| Krankschreibung zuzustimmen. Die hat allerdings Schlupflöcher. Und | |
| Obdachlose sowie Millionen von Geringverdienern im Dienstleistungssektor | |
| werden den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. | |
| Wie tödlich das [3][privatisierte Gesundheitssystem] ist, zeigt | |
| insbesondere die gewinnorientierte Pflegeheimindustrie, die 2,5 Millionen | |
| ältere US-Bürger versorgt. Niedrige Löhne, zu wenig Personal und illegale | |
| Kostensenkungen sind typisch für diese Branche. Das hat auch ohne Corona | |
| Folgen. Zehntausende sterben jedes Jahr, weil die Pflegeheime grundlegende | |
| Infektionskontrollen vernachlässigen – ein Umstand, den man als | |
| vorsätzlichen Totschlag bezeichnen muss. Insbesondere in den Südstaaten | |
| zahlen viele Pflegeeinrichtungen lieber Strafen, als die | |
| Hygienevorschriften einzuhalten oder ausreichend Pflegepersonal | |
| einzustellen. | |
| Es ist keine Überraschung, dass die Pandemie in den USA in einem Pflegeheim | |
| ausbrach: dem Life Care Center in Kirkland, einem Vorort von Seattle. Jim | |
| Straub, ein Gewerkschaftsorganisator in Pflegeheimen rund um Seattle, hält | |
| das Life Care Center für „eine der am schlechtesten ausgestatteten | |
| Einrichtungen des Staates“ und das Pflegeheimsystem insgesamt für das „am | |
| stärksten unterfinanzierte des Landes – eine absurde Oase des Leidens in | |
| einem Meer von Geld“ [Seattle ist ein Zentrum der IT-Industrie, Microsoft | |
| und Amazon haben dort ihren Sitz. Anm. d. Red.]. Laut Straub ist es auch | |
| nicht erstaunlich, dass sich das Virus so rasch vom Life Care Center in | |
| Kirkwood auf zehn nahe gelegene Pflegeheime verbreitete: Die Pflegekräfte | |
| arbeiten in der Regel in mehreren Heimen – gezwungenermaßen, denn in | |
| Seattle sind die Mieten extrem hoch. | |
| ## Pflegeheime als Corona-Hotspots | |
| In den USA werden Dutzende, wahrscheinlich Hunderte Pflegeheime zu | |
| Corona-Hotspots werden. Viele Pflegekräfte werden zu Hause bleiben und | |
| lieber Lebensmittel von Tafeln beziehen, als unter solchen Bedingungen zu | |
| arbeiten. Dann könnte das gesamte Pflegesystem zusammenbrechen. Wir sollten | |
| nicht erwarten, dass die Nationalgarde Bettpfannen leert. | |
| Corona zeigt, dass wir „Medicare for All“ brauchen, eine flächendeckende, | |
| umfassende Krankheitsversorgung. Zudem rächt sich, dass die großen | |
| Pharmakonzerne die Entwicklung neuer Antibiotika und antiviraler Mittel | |
| weitgehend aufgegeben haben. Herzmedikamente, süchtig machende | |
| Beruhigungsmittel und Pillen gegen Impotenz versprechen mehr Profit als | |
| Mittel gegen Infektionen im Krankenhaus. Wir müssen Arzneimittelmonopole | |
| aufbrechen und die gemeinnützige Produktion von Medikamenten mit | |
| lebenswichtiger Wirkung ermöglichen. | |
| Doch angesichts von Corona müssen wir noch weitergehen. Die kapitalistische | |
| Globalisierung scheint biologisch unhaltbar zu sein, wenn es keine | |
| internationale öffentliche Gesundheitsinfrastruktur gibt. Das erfordert | |
| eine ehrliche Bewertung der politischen und moralischen Schwächen der | |
| Linken. Es ist erfreulich, dass sich viele Jüngere in den USA seit der | |
| Occupy-Bewegung für mehr Verteilungsgerechtigkeit engagieren. Doch es gibt | |
| in der fortschrittlichen Bewegung auch eine beunruhigende nationale | |
| Verengung, die mir manchmal wie die linke Version von „America First“ | |
| vorkommt. | |
| Corona erinnert uns an die Dringlichkeit internationaler Solidarität. Wir | |
| brauchen jetzt eine massive Ausweitung der Produktion von Testgeräten und | |
| Schutzmitteln und kostenlose Medikamente für arme Länder. Wir müssen dafür | |
| sorgen, dass „Medicare for All“ sowohl zur Innen- als auch zur Außenpolitik | |
| wird. | |
| Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „In a plague year“ in der | |
| US-Zeitschrift „Jacobin Magazine“ und ist eine aktualisierte und gekürzte | |
| Version. Bearbeitet und übersetzt aus dem Englischen von Stefan Reinecke | |
| 21 Mar 2020 | |
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