# taz.de -- Bürgerschaftswahlen in Hamburg: Hochzeit und Beerdigung | |
> Cansu Özdemir tritt in Hamburg als Spitzenkandidatin der Linken an. | |
> Regieren will sie nicht, trotzdem ist sie im Wahlkampf ständig unterwegs. | |
Bild: Weiß, was ihre Wähler*innen in Hamburg bewegt: Linkenpolitikerin Cansu … | |
HAMBURG taz | Die Autobahn brummt ganz schön laut, wenn es ansonsten still | |
ist in Kirchdorf-Süd im Hamburger Süden. Es sind kaum Menschen unterwegs in | |
der Straße vor dem Hochhauskomplex. 13 Stockwerke, grau-braune Fassade. An | |
einem Spielgerät auf dem verwaisten Spielplatz vor der Hausnummer 8 hängt | |
ein Plakat von Cansu Özdemir. „Konsequent sozial!“ steht darauf. | |
Özdemir ist spät dran an diesem Freitagnachmittag. Als sie vor dem Haus | |
auftaucht, hat sie das Handy am Ohr, telefoniert mit einem Unterstützer, | |
der sie im Wahlkampf begleitet und die heutige Tour organisiert hat. Wenn | |
andere Politiker*innen beim Haustürwahlkampf von Tür zu Tür tingeln, geht | |
Özdemir lieber von Wohnzimmer zu Wohnzimmer. | |
Sie besucht Mitglieder der kurdischen Community in Hamburg. | |
Wohnzimmerwahlkampf nennt sie das. „Das hier ist mein Wahlkampf“, sagt sie. | |
„Man führt einfach ganz andere Gespräche.“ Die klassischen Infostände ma… | |
sie auch, sie seien aber nicht so ihr Ding. | |
Özdemir ist die Spitzenkandidatin der [1][Linkspartei bei der Wahl zur | |
neuen Hamburgischen Bürgerschaft am kommenden Sonntag]. In ihren etwa elf | |
Jahren in der Partei hat sie es weit gebracht. Mit 22 Jahren wurde sie 2011 | |
Bürgerschaftsabgeordnete, vier Jahre später eine der beiden | |
Fraktionsvorsitzenden. Jetzt ist sie auch Spitzenkandidatin. | |
## Mietendeckel, Mindestlohn, keine Waffenexporte | |
Mehrere Familien sind in einer Wohnung in dem Hochhaus in Kirchdorf-Süd | |
zusammengekommen, um mit Özdemir zu sprechen. Schuhe aus. Özdemir hat in | |
weiser Voraussicht die mit Reißverschluss angezogen. Es gibt Tee, viel Tee, | |
und Süßes. Özdemir begrüßt alle persönlich. | |
Die Männer und Frauen berichten ihr, was sie schon alles getan haben, um | |
sie im Wahlkampf zu unterstützen, übersetzt sie. Die Gespräche werden meist | |
auf Kurdisch oder Türkisch geführt. Wahlkampf sei in der Community eine | |
kollektive Sache, fast wie ein Wettbewerb sei das Engagement für sie, sagt | |
Özdemir. Sie findet das „süß und rührend“. | |
Die Atmosphäre in den Wohnzimmern ist entspannt, es wird viel gelacht. | |
Politik ist trotzdem das zentrale Thema. Es gehe um die Wahl des | |
Ministerpräsidenten in Thüringen, die Idee, in Kirchdorf-Süd einen | |
kurdisch-deutschen Kindergarten oder ein Frauenhaus aufzubauen, sagt | |
Özdemir. „In der Türkei ist Wählen so etwas wie Ehrensache.“ Die | |
Wahlbeteiligung ist stets hoch. Ein großer Teil ihrer Wahlkampfarbeit | |
bestehe deshalb auch darin, den Menschen zu erklären, wie und wann sie | |
wählen können. | |
„Was sind denn deine Ziele?“, will eine Frau von Özdemir wissen. Özdemir | |
weiß, welche Themen die Menschen, bei denen sie sitzt, bewegen: | |
Mietendeckel, Mindestlohn, keine Waffenexporte in die Türkei. Routiniert | |
erzählt sie, auf welche Themen die Linken setzen. | |
## Im sozialen Brennpunkt | |
Özdemir wird im Wahlkampf immer wieder mit den persönlichen Problemen der | |
Menschen konfrontiert. Wie schwer es ist, eine bezahlbare Wohnung zu | |
finden, wenn man keinen deutschen Nachnamen hat, zum Beispiel. Eine andere | |
Frau möchte wissen, welche Möglichkeiten sie hat, Lehrerin zu werden, | |
nachdem sie durch eine wichtige Prüfung gefallen ist. „Die Prüfung musst du | |
halt machen, so wie ich Statistik machen muss“, sagt Özdemir. | |
Die 31-Jährige ist offiziell noch Studentin, hat Politikwissenschaften in | |
Hamburg studiert. Für den Bachelorabschluss fehlt ihr nur noch eine | |
Statistikprüfung. Die muss sie nachholen, ist letztes Mal durchgefallen. | |
„Die Leute erwarten oft, dass ich sofort eine Lösung bieten kann, aber ich | |
muss meistens auch erst mal recherchieren“, sagt sie auf dem Weg in die | |
nächste Wohnung. | |
Özdemir hat nie woanders gelebt als in Hamburg. Sie ist hier geboren, bei | |
ihren kurdischen Eltern am Osdorfer Born aufgewachsen. Die | |
Plattenbausiedlung wurde in den Sechzigern gebaut, galt als besonders | |
modern. Heute gilt der Stadtteil als sozialer Brennpunkt. Die | |
[2][Bewohner*innen hingegen betonen den besonderen Zusammenhalt] der | |
Siedlung. So auch Özdemir. Sie lebt immer noch dort. | |
In ihrer Fraktion ist Özdemir Sprecherin für Soziales, Inklusion, Frauen | |
und Queer. Ihre Wahlkampftermine führen sie unter anderem zum Bündnis für | |
Wohnen und zu einem Verein, der sich für drogenabhängige Frauen einsetzt. | |
## Von einer Hochzeit zur nächsten | |
Viele Termine hat sie aber auch in ihrer eigenen, der kurdischen Community. | |
Sie versuche auch, andere migrantische Gruppen zu erreichen, von denen sie | |
wisse, dass viele gar nicht wählen gehen würden, sagt sie. „Mein Ziel ist, | |
diese Menschen dazu zu bewegen, wählen zu gehen, und ihnen deutlich zu | |
machen, dass ihre Stimme etwas bewirken kann.“ | |
Eine Gelegenheit in den vergangenen Wochen waren kurdische Hochzeiten. „In | |
Kurdistan ist es üblich und den Leuten auch wichtig, dass ihre Abgeordneten | |
und Bürgermeister zu den wichtigen Ereignissen im Leben kommen“, sagt | |
Özdemir auf einer Hochzeit in einem Harburger Festsaal Anfang Februar. Und | |
das seien nun mal Hochzeiten und Beerdigungen. | |
Praktischerweise erreicht man hier gleich 500 bis 1.000 Menschen. Kurdische | |
Hochzeiten werden fast immer sehr groß gefeiert. Wenn Özdemir ohne | |
Einladung auftauchen würde, das würde niemanden wundern, es wäre eine | |
Selbstverständlichkeit. „Aber ich gehe nur, wenn ich eingeladen bin“, sagt | |
sie. Und das ist sie oft, an diesem Abend bekommt sie gleich die nächste | |
Einladung. | |
Özdemir schüttelt unzählige Hände. Wieder bringen Menschen ihre | |
persönlichen Anliegen vor. Manchmal muss sie Gespräche abbrechen, weil | |
schon die nächste Person auf ein Gespräch wartet. Dass der Wahlkampf ganz | |
schön anstrengend ist, insbesondere, wenn man bis nachts auf Hochzeiten | |
ist, auch das ist ihr oft anzumerken. Sie wirkt manchmal müde, | |
Zigarettenpausen sind eine willkommene Erholung. | |
## Özdemir hat nicht nur Freunde | |
Özdemir ist ziemlich beliebt in ihrer Community, kaum jemand setzt sich so | |
wie sie für die Belange von Kurd*innen in Hamburg ein. Sie spricht sich | |
gegen das Verbot der PKK aus. Weil sie auf Twitter ein Foto mit der | |
PKK-Fahne postete, wurde sie [3][im vergangenen Jahr von einem Gericht | |
verwarnt]. | |
Dieses Engagement macht ihr nicht nur Freunde. Özdemir hat zur Enttarnung | |
eines türkischen Spions beigetragen. Ihr eigener Name stand auf seiner | |
Todesliste. Sie wird von türkischen Nationalisten massiv bedroht. Sie habe | |
keine Angst, aber verspüre schon oft Unsicherheit, sagt sie. „Ich muss mir | |
überlegen: Wo gehe ich alleine hin, wo nehme ich Leute mit?“ Sie hat | |
eigentlich immer Leute dabei. Auf der Hochzeit ist es ihr jüngerer Bruder, | |
der wie ein professioneller Bodyguard immer an ihrer Seite ist. | |
Auf der anderen Seite ist Özdemir in Hamburg aber hoch angesehen. Laut | |
einer [4][NDR-Umfrage] sind die Befragten mit der Arbeit keine*r anderen | |
Politiker*in aus der Opposition so zufrieden wie mit Özdemirs. Sie kommt | |
direkt nach dem [5][SPD-Bürgermeister und seiner Herausforderin von den | |
Grünen]. | |
Die beiden Parteien machen den Kampf ums Bürgermeister*inamt unter sich | |
aus. Und darunter leidet die Linke. Bei aktuellen Wahlumfragen liegt sie | |
bei nur noch 8 Prozent. Im vergangenen Jahr und bevor die heiße | |
Wahlkampfphase eingeläutet wurde, waren es je nach Umfrage noch zwischen 10 | |
und 13 Prozent. | |
## Ab ins nächste Wohnzimmer | |
Die Partei hat nach einer kontroversen Debatte beschlossen, sich nicht für | |
eine Regierungsbeteiligung bewerben und in jedem Fall in der Opposition | |
bleiben zu wollen. Die Grünen-Spitzenkandatin Katharina Fegebank nennt es | |
einen Fehler, dass sich die Linken auf diese Weise von vornehrein „aus dem | |
Spiel nehmen“. Allerdings werden die Linken für eine Mehrheit auch gar | |
nicht gebraucht. SPD und Grüne sind zu stark. | |
Er sei froh „über eine Linke, die in Hamburg stabil bei 8 Prozent steht“, | |
sagt Bodo Ramelow, Thüringens Ministerpräsident in Warteschleife, am Rande | |
einer Wahlkampfveranstaltung mit Özdemir in dem Kulturzentrum Honigfabrik | |
in Wilhelmsburg. In dem Stadtteil leben laut Statistik im Vergleich zum | |
Hamburger Durchschnitt besonders viele Menschen mit Migrationshintergrund | |
und Ausländer*innen. | |
8 Prozent sind laut Ramelow für westdeutsche Verhältnisse erst einmal sehr | |
gut. „Und wenn’s dann ein Schnaps mehr wird, freue ich mich noch mehr.“ | |
Aber warum der Linken die Stimmen geben, wenn sie doch gar nicht regieren | |
will? Özdemir findet, man dürfe die Rolle der Opposition nicht kleinreden. | |
„Wir haben auch aus der Opposition heraus einiges bewirkt“, sagt sie. Die | |
Linke sei so etwas wie das soziale Gewissen der Stadt und gucke dahin, wo | |
die anderen oft nicht hingucken. So hätten sich viele der Demonstrierenden | |
vom G20-Gipfel in der parlamentarischen Aufarbeitung nur von den Linken | |
repräsentiert gesehen. | |
Ramelow hat nur lobende Worte für Özdemir. „Es ist doch klasse, dass eine | |
Frau mit dem Linken-Parteibuch und einer eben nicht klassisch hanseatischen | |
Abstammung auf einmal für die Vielfalt dieser Stadt steht“, sagt er. | |
Dadurch werde deutlich, „dass da andere Gesichter Die Linke sind. Das ist | |
doch nicht die alte Ostpartei.“ Özdemir spreche Alltagsthemen an und darauf | |
sei er stolz. | |
Ein Mann, der gerade zum Wohnzimmertermin gekommen ist, fragt, warum er | |
Özdemirs Gesicht so selten auf Wahlplakaten sehe. Er hat das gerade | |
geändert in den Geschäften um die Ecke, beim Frisör, im Dönerimbiss und | |
anderen. Die Linke setzt im Hamburger Wahlkampf auf Inhalte, sagt Özdemir. | |
Die Plakatkampagne zeigt deshalb keine Köpfe der Partei. | |
Bei wie vielen Familien sie heute schon gewesen sei, will der Mann dann | |
wissen. Özdemir antwortet: zwei oder drei. „Nur?“, fragt er. „Du musst | |
schon 20 Wohnungen machen!“ Schuhe an. Erst einmal klappert Özdemir jetzt | |
die Geschäfte ab, bedankt sich, dass ihr Plakat dort hängen darf. Ein Foto | |
noch mit einem jungen Mann, der sie dabei anspricht, dann geht es weiter | |
ins nächste Wohnzimmer. | |
20 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Wahlkampf-in-Hamburg/!5659445 | |
[2] /Der-Osdorfer-Born-wird-50/!5446248 | |
[3] /PKK-Flagge-gepostet/!5633612 | |
[4] https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/wahl/buergerschaftswahl_2020/Umfrage… | |
[5] /Buergerschaftswahl-in-Hamburg/!5660305 | |
## AUTOREN | |
Marthe Ruddat | |
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