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# taz.de -- 48 Stunden an der Elbe: Hamburg, deine Perlen
> Kein Bundesland hat die SPD so gern wie Hamburg. Warum? Auf Spurensuche
> in der Kneipe, der Elphi, auf dem Friedhof und im Hafen.
Bild: Das ist Hamburg: Elphi, Hafen und das Wasser
Leichter Nieselregen fällt auf das Matjesbrötchen. „Moin!“, sagt Hinnerk
Hansen. Er steht kauend in seinem Friesennerz auf dem Fischmarkt an der
Elbe und ist erfunden.
Lokale Spezialität, dramatisches Zitat, das Wetter. Wenn die
Bürgerschaftswahl am Sonntag in Hamburg eine Landtagswahl in Ostdeutschland
wäre, käme nun die Stelle, an der man sie mit bundespolitischer Bedeutung
auflädt: 1,8 Millionen Menschen wohnen in Hamburg, kaum weniger als in
Thüringen und Brandenburg. Aber kann man aus der Wahl Schlüsse ziehen, die
Menschen südlich und östlich der Elbe interessieren sollten?
Zwei Dinge sind in Hamburg anders, politisch gesehen: [1][Die AfD ist
relativ schwach], sie steht in Umfragen bei 6 Prozent. Und mehr als jeder
Dritte will eine Partei aus dem vorletzten Jahrhundert wählen, die SPD. In
keinem anderen Bundesland steht sie so gut da, besser als die CSU in
Bayern.
Wir haben deshalb ein zweiköpfiges Reporterteam losgeschickt. Einen mit
ostdeutschem Migrationshintergrund und einen, der in der Hansestadt
aufgewachsen und mit der Landessprache (Franzbrötchen, Schiffsbonds,
Feldhockey) vertraut ist. Vergangenes Jahr waren beide auf zwei Etappen der
Sachsen-Tour der taz am wochenende.
In Sachsen waren wir, um Neues zu entdecken, in Hamburg gestaltet sich das
schwieriger: Hafen, Reeperbahn, Alster – kennt jeder, sogar wer noch nicht
dort war. Aber was steckt hinter den Postkartenmotiven? Und verstehen wir
Orte, die wir vermeintlich kennen, so viel besser als den unbekannten
Osten?
Dienstag, 11.2., 14 Uhr, Stadtpark
Lotto King Karl, das ist so was wie der Volksbarde der Stadt. Vor 25 Jahren
führte ein junger Autor der taz [2][ein Interview] mit ihm und sagte: Sie
sind Lottomillionär, ich bin taz-Mitarbeiter. Schenken Sie mir bitte Geld!
Lotto King Karl antwortete: Ich möchte niemanden aus seinem sozialen Umfeld
reißen. Der Autor hieß Benjamin von Stuckrad-Barre.
Lotto King Karl gehört zu Hamburg wie Frank Zander zu Berlin oder De Höhner
zu Köln. Jeder hier kennt ihn, man liebt oder hasst ihn. Er moderierte
Radiosendungen, war 14 Jahre Stadionsprecher beim HSV und sang bei jedem
Heimspiel [3][„Hamburg, meine Perle“], wo es nicht darum geht, was an
Hamburg schön, sondern was an anderen Städten scheiße ist. Wenn man etwas
über die Hamburger erfahren will, dann ist Lotto King Karl eine gute
Quelle.
Wir treffen ihn auf der Open-Air-Bühne im Hamburger Stadtpark. Die ist
winterfest gemacht, und weil es – natürlich! – regnet, flüchten wir unter
ein Wellblechdach. Lotto King Karl trägt Dreitagebart und
Camouflage-Mantel, ist mit seinem Volvo-SUV vorgefahren und sagt, wir
sollen ihn „Lotto“ nennen.
Also, Lotto, warum sind wir hier? „Weil fast alle anderen Orte meiner
Jugend nicht mehr da sind. Und weil ich nirgends so häufig gespielt habe
wie hier, letzten Herbst das 50. Konzert.“ Stolz ist er darauf, drei
Stunden dauern seine Shows, mindestens, 5.000 BesucherInnen stehen dann
hier vor der Bühne, ausverkauft. Und zum Schluss stets die Hymne, seine
Hymne.
„Oh, Hamburg, meine Perle / Du wunderschöne Stadt / Du mein Zuhaus / Du
bist mein Leben / Du bist die Stadt, auf die ich kann.“
Wie ticken die Hamburger, Lotto? „Unkompliziert, ehrlich, unprätentiös. Der
Hamburger redet nur, wenn er was zu sagen hat.“ Und die Stadt? „Entspannt,
chillig, auch etwas dreckig natürlich, der Job des Zuhälters war und ist
hier nicht so verrufen wie anderswo.“ Und der Hafen, ganz wichtig. „Hafen
ist geil.“
Es wäre einfach, sich jetzt über die Partyschlager und Plattitüden lustig
zu machen, aber der Typ ist einfach nett und nach einer Hopihalido, also
einem Holsten Pilsener in der Halbe-Liter-Dose, noch netter.
Lotto King Karl, bürgerlich Gerrit Heesemann, ist Abiturient der
„Gelehrtenschule Johanneum“, ein Volksmusiker mit Leistungskurs Latein. Er
ist Marineoffizier, hat BWL studiert, eine Bankenlehre gemacht. Lotto, das
ist eine Hamburger Kunstfigur. Auch den Lottogewinn gab es nie.
Als wir nach den schwachen Ergebnissen der AfD in Hamburg fragen, klopft er
auf den Holztisch vor uns. „Noch, zum Glück.“ Mit Schill habe man ja
erlebt, wie so ein Quatsch ende, „der ist ja irgendwann fast zum Hitler
geworden, irre.“
Vermutlich sind die Hamburger so wenig anfällig für die Verlockungen des
Faschismus, weil sie den Scheiß gerade erst hatten. Als die Ostdeutschen
noch begeistert PDS oder CDU wählten, brachte es der Rechtspopulist Ronald
Barnabas Schill mit seiner Partei auf 20 Prozent der Wählerstimmen und 100
Prozent Zustimmung in der lokalen Springerpresse („Richter Gnadenlos“).
Heute besteht die AfD in Hamburg vor allem aus ehemaligen Schillianern.
Warum ist Hamburg politisch so anders als der Rest von Deutschland?
„Hamburg hat mit dem Hafen in der Mitte immer die Arbeit und den Arbeiter
geschätzt.“ Dieser Mischung aus Bürgertum mit Latinum und Arbeiterfolklore
werden wir noch häufiger begegnen.
16.50 Uhr, WeWork, Innenstadt
Zwischen Kickertisch und Gurkenwasserspender sind ein paar Stuhlreihen
aufgebaut, hier soll gleich die Spitzenkandidatin der FDP über Start-ups
sprechen, vor Gründern und solchen, die es werden wollen. Aber zumindest in
der ersten Reihe sitzt das ältere Hamburger Bürgertum, mit Einstecktuch und
V-Ausschnitt unter dem Jackett. Anna von Treuenfels, die Kandidatin der
FDP, und der Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar sitzen dynamisch auf
Barhockern, zwischen ihnen auf einem Tischchen liegen Weintrauben, die sie
nicht anrühren werden.
Kurz vor der Veranstaltung eine Frage an die Kandidatin: Wie läuft’s? „Ja,
Bombe, ne? Natürlich nicht.“ Und ohne, dass wir weiterfragen müssen: „Sie
wollen doch bestimmt [4][über Thüringen] sprechen, oder?“ Na ja, eigentlich
über Hamburg.
Die Veranstaltung findet in den Räumen von WeWork statt, einem Anbieter von
Coworking-Spaces. Es wird heute ums Deregulieren gehen, um Humankapital, um
ein „bürokratiefreies Jahr“ für Gründer, um Closing, um Spirit, um das
Matching von Angebot und Nachfrage.
„Man muss möglichst viele Gründer in das Ökosystem reingießen“, sagt ei…
aus dem Publikum, und von Treuenfels sagt: „Mit einer Anschubfinanzierung
macht man die Menschen auch nicht zum Sozialhilfeempfänger.“ Ein Gründer
mit Käppi und übergroßen Pulli beschwert sich über staatliche Förderung,
die mit zu vielen Auflagen verbunden sei: „Ich will einfach Power nach
vorne machen.“ Ein junger Mann mit zurückgegelten Haaren will wissen, was
von Treuenfels denn „ganz konkret“ tun werde für die Gründer, und sie
antwortet, duzt ihn. „Ich darf das, das ist mein Sohn.“ Die FDP in Hamburg,
eine Partei für die ganze Familie.
Nach einer Stunde Diskussion haben außer der Kandidatin nur Männer
gesprochen. Wir müssen weiter, uns hübsch machen.
19.30 Uhr, Elbphilharmonie
Auf zwei parallelen Rolltreppen geht es in die Elbphilharmonie, es gibt nur
eine Richtung, aufwärts. Ist das nicht das sozialdemokratische
Aufstiegsversprechen, alle zusammen nach oben?
Vor dem Konzert werden Getränke in einem Foyer gereicht, das nach den
Eigentümern des Otto-Versands benannt ist. Das Hamburger Publikum mustert
uns kritisch. Anders als in der Berliner Philharmonie liegt die Quote der
Gäste in Abendgarderobe hier bei etwa 95 Prozent. Wir gehören zu den
anderen 5 Prozent.
Die Glocke läutet, das Publikum betritt den großen Saal. Wir nehmen Platz,
das Konzert beginnt, und das Einzige, was wir wissen, ist, dass der Mahler,
der heute gespielt wird, nicht Horst, sondern Gustav heißt. Mahler lebte
einige Jahre in Hamburg und passt gut zu dieser Stadt: Seine Frau betrog
ihn ausgerechnet in Berlin mit dem Architekten Walter Gropius.
Selten schweifen die Gedanken so schön ab wie im Weißweinrausch in einem
klassischen Konzert, zumal das [5][Concertgebouw-Orchester aus Amsterdam]
eines der besten weltweit sein soll: Ist das hier nicht der normalste,
friedlichste Ort der Welt?
Hier ruht, in Frieden, in sich, das Hamburger Bürgertum. Alles sagt: Wir
sind wohlhabend, aber kultiviert. Mögen die Zeiten da draußen noch so
schwierig sein: Von Westen peitscht Sturmtief „Sabine“ die Flut in die
Stadt, von Osten droht Sturmtief Björn mit dem Faschismus, im großen Saal
in der Elbphilharmonie ist beides weit weg.
Nirgendwo in Deutschland ist das Versprechen der Sozialdemokratie, die
Versöhnung von Kapital und Arbeit, so erfüllt worden wie in Hamburg,
jedenfalls, wenn man gedanklich die 20 Prozent Kinderarmut verdrängt.
Hamburg hat in seinem Zentrum keine Kirche und kein Parlament, sondern
einen Ort der Arbeit, den Hafen. Die Hamburger machen Fotos von Kränen, um
sich der Liebe zu ihrer Heimat zu vergewissern.
Nah am Hafen, nah an der Arbeit. So sieht man sich auch in der
Elbphilharmonie, nach dem Konzert, mit Panoramablick über die
Containerschiffe und einem Glas Champagner in der Hand.
22 Uhr, St. Pauli
Klassische Musik läuft auch am U-Bahnhof St. Pauli, aber nicht zur
Unterhaltung, sondern um Junkies zu vertreiben. Als Rechtspopulist und
Innensenator Ronald Schill so etwas am Hauptbahnhof einführte, gab es noch
Proteste. Aber man gewöhnt sich ja an vieles.
Was von weit weg aussieht wie ein verschnürter Weihnachtsbaum, entpuppt
sich als Obdachloser im grünen Schlafsack. Es gibt im Zentrum deutscher
Großstädte keinen abgefuckteren Ort als die Reeperbahn, die wir jetzt
hinunterlaufen, und es ist von außen schwer zu begreifen, warum die
Hamburger stolz sind auf diese Mischung aus Prostitution und Elend, auf
diesen neonblinkenden Dreck aus Junggesellenabschied, Sexshops und
Tittenbars.
Vielleicht, kann man den Hamburgern zugutehalten, ist es aber auch nur
ehrlicher als in anderen Städten, in denen es ja nicht weniger Elend gibt.
In keiner anderen Großstadt trinken die Kaputten, die Anzugträger und die
Studenten so einhellig nebeneinander, in der gleichen Straße, den gleichen
Läden. Oder ist das auch schon wieder nur Folklore?
23 Uhr, Knallermann
„Alder ich mach Maschinenbau, drittes Semester ist echt hart“, sagt einer
im Knallermann, einer Absturzkneipe auf dem Hamburger Berg, einer
Nebenstraße der Reeperbahn. Und dann kommt Rita rein, mit ihrem
Paillettenhut auf dem wasserstoffblonden Haar. Sie tanzt zu „Cotton Eye
Joe“, kommt zur Theke, nippt am Holsten Edel, dreht sich eine filterlose
Kippe mit dem Billigtabak von Aldi. „Ich bin Rita, ich bin ’ne Legende.“
Ihre Finger umklammern den Unterarm des einen taz-Reporters. Wir machen
kurz Armdrücken in der Luft, sie gewinnt. „Mit zwölf hat mir mein Vater
Boxen beigebracht.“
66 Jahre ist sie alt, seit über 40 Jahren wohnt sie in St. Pauli – „ist
einfach geil hier“ – hat 31 Jahre im Restaurant gearbeitet, in Kneipen, da
gab’s 50 Mark am Abend auf die Hand und 150 Trinkgeld. Gute Zeiten. Heute
bekommt sie Erwerbsminderungsrente, 350 Euro im Monat, sagt sie. „Bei
meiner Mutter gab es immerhin noch dreimal am Tag Essen.“
Hat sich Hamburg verändert? „Ist irgendwie der Wurm drin.“ Wählen wird sie
nicht. Sie zerreißt einen imaginären Wahlzettel in der Luft. „Bringt doch
eh nichts.“
Mittwoch, 12.2., 1 Uhr, Barbarabar
In der Bar nebenan ist es wie bei der FDP am Nachmittag, nur Typen stehen
auf der Tanzfläche, die Frauen am Rand. Die Getränke sind teurer, es
riecht nach Gras. Der Laden ist auch in einer Dienstagnacht voller
Studenten, hier laufen die norddeutschen Klassiker und die Konsenshits der
letzten 20 Jahre. Alle hier würden mal auf ein Bier in die Kneipe nebenan
gehen, zu Rita. Aber Rita war noch nie hier.
2 Uhr, Zum Goldenen Handschuh
Ein letztes Bier im Goldenen Handschuh. Dem Laden also, dem der Autor Heinz
Strunk vor vier Jahren ein schauerliches Denkmal setzte, das der Hamburger
Regisseur Fatih Akin dann verfilmte. „Der Goldene Handschuh“ handelt von
Alkohol, Vergewaltigung, Verwahrlosung und Gewalt, dem Leben des
Serienmörders Fritz Honka, der in den 1970er Jahren im Goldenen Handschuh
seine Opfer fand – und immer Fako trank, Fanta-Korn.
Wir lassen die Fanta weg. Der Barkeeper, ein studentischer Typ, gähnt
beharrlich, eine junge Frau, Typ Germanistikstudentin, quatscht ihn noch
beharrlicher zu. Der Rest ist Schweigen. Der Handschuh scheint dank Buch
und Film gentrifiziert zu sein. 95 Euro kostet die Flasche Champagner hier,
genauso viel wie in der Elbphilharmonie.
Im Kentucky Fried Chicken am Anfang der Straße fallen den britischen
Männergruppen vor Müdigkeit fast die Knochen aus den Händen.
Es ist alles so traurig hier. Wir müssen ins Bett.
10 Uhr, Hotelzimmer auf der Reeperbahn
Paul: „Warum magst du Hamburg nicht? Du kommst doch von hier.“
Kersten: „Ich hasse diesen bräsigen Lokalpatriotismus. Schönste Stadt der
Welt, das sagt sich leicht, wenn man noch nie woanders war.“
Paul: „Aber Hamburg ist doch schön! Berlin ist dreckig, laut und
unübersichtlich. In Köln haben die Menschen viel zu gute Laune. Hier ist
alles so schön gemäßigt. Und: Die SPD ist stark, das ist stark.“
Kersten: „Eben, die Stadt ist wie die SPD. Lebt kulturell noch von den
Neunzigern, Hamburger Schule, HipHop. Wenn ich noch einmal ‚Nordisch by
Nature‘ hören muss, raste ich aus.“
14 Uhr, Friedhof Ohlsdorf
Weil sich von den berühmten Hamburgern außer Lotto King Karl niemand mit
uns treffen möchte, gehen wir dorthin, wo die Promis nicht weglaufen können
– auf den Friedhof Ohlsdorf. Das Grab von Helmut Schmidt ist schwer zu
finden, und dafür, dass hier der berühmteste Hamburger liegen soll, der
vermeintliche Grund für die Stärke der SPD in der Stadt, etwas
vernachlässigt. Kurz nach dem Tod kamen Hamburger und legten statt Blumen
Mentholzigaretten auf das Grab. Jetzt liegen dort nur ein paar welke Rosen,
einige sind schon braun.
Beim Schauspieler Jan Fedder sieht es anders aus: Ein umzäuntes Grab von
über 30 Quadratmetern, eine drei Meter hohe Engelsstatue, ein
Vorhängeschloss, um die Fans abzuhalten. Für die gibt es einen Briefkasten,
in den sie ihre Fanpost werfen können. Aber Jan Fedder ist auch erst Ende
Dezember gestorben. Er hat sein Leben lang nur Norddeutsche gespielt, als
junger Mann in „Das Boot“, als alter Mann den „Hafenpastor“, und immer …
Schutzmann im „Großstadtrevier“. Angeblich kommen immer noch hunderte Fans
täglich, sagt der NDR. Als wir da sind, kommt keiner.
16 Uhr, Mönckebergstraße
Ein Anruf bei der SPD-Zentrale. Wo findet denn heute Straßenwahlkampf
statt? So richtig gern da haben möchte man uns nicht, aber: „Ich kann Ihnen
ja nicht verbieten, unsere Kandidaten im öffentlichen Raum anzusprechen.“
In der Einkaufsstraße ist hamburgweit der einzige Wahlkampfstand, der
täglich besetzt ist. Heute ist Julia Barth da, 24,
Grundschullehramtsstudentin. Um über die Landesliste in die Bürgerschaft
einzuziehen, müsste ihre Partei 83 Prozent der Stimmen bekommen, hat sie
ausgerechnet. Aber das Hamburger Wahlsystem ist kompliziert: Jeder hat
unter anderem fünf Personenstimmen. Bekomme sie 2.000 Hamburger überzeugt,
sie direkt zu wählen, sei sie drin, erklärt sie. Nirgendwo in Deutschland
ist Landespolitik so sehr Kommunalpolitik.
Eigene Kugelschreiber hat Julia Barth nicht, zu teuer, deshalb müssen die
vom Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs herhalten. Was dann folgt, ist
die übliche sozialdemokratische Aufstiegsgeschichte: Mutter
alleinerziehend, Aufstieg durch Arbeit, es einmal besser haben. Ein paar
Jusos helfen beim Wahlkampf, verteilen Flyer. Noch besser kommen aber die
Haribo Colorado an, Kiddies Bigbox. „Lass mich“, sagt ein Passant, „Ich
wähl eh SPD, ich will nur Gummibärchen. Wen soll ich sonst wählen, die
feiste Digge von den Grünen?“
Ist die SPD hier so erfolgreich, weil sie so rechts ist? Barth lacht. Nein,
nein. Klar, man habe Scholz und Kahrs, aber rechts? Nein. Kürzlich sei ja
sogar eine Linke zur SPD gewechselt. Hört man sie so reden, könnte man
meinen, das mit SPD und Volkspartei, das muss noch nicht vorbei sein.
Auch Barth fragen wir, wie die Hamburger so sind. „Vor allem sind sie
stolz, aus Hamburg zu kommen. Stolz, ohne sich abzuschotten. Jeder kann
hier leben, wie er will.“ Stadtmarketing auf sozialdemokratisch. Und klar,
auch sie liebe die Alster, die Elbe, die Schanze. Und den Hafen. Natürlich.
„Der Hafen ist toll.“
Egal, mit wem wir sprechen: Alle reden vom Hafen. Müssen wir wohl auch mal
hin.
Donnerstag, 13.2., 3 Uhr, Odo’s Kaffeeklappe
Wir fahren mit Leihfahrrädern durch den alten Elbtunnel, auf dem Weg vom
Hotel auf der Reeperbahn sehen wir zwei Menschen. Mitten im Hafen zwei
Kurven hinter der Werft steht Odo’s Kaffeeklappe, ein Container. Drinnen
brennt Licht, die Tür ist offen, Odo steht hinter der Theke, in der großen
Pfanne brutzeln Eier. „Na, was kann ich gegen euch tun?“
Ritschratsch, zerteilt Odo die Brötchen in zwei Hälften. Ritschratsch, das
nächste. So geht das: Seit 20 Jahren, hunderte Male jede Nacht. Um 15 Uhr
geht Odo ins Bett. Um 22 Uhr steht er auf, fährt ins Lager, dann in den
Hafen. Bis in den frühen Morgen belegt er Brötchen für die Fernfahrer, für
Werftarbeiter und Nachtaktive.
Der Container von Odo misst drei mal sechs Meter. Hier gibt es Brötchen,
Kaffee, Kippen, Bier. Ein Kiosk, einerseits. Aber auch ein Ort, der
erzählt, wie sich der Hafen in 20 Jahren verändert hat, und dass die
Hamburger selbst ein falsches Bild von ihm haben.
Das, was Julia Barth von der SPD mit dem Hafen meint, was die Besucher in
der Elbphilharmonie und Lotto King Karl meinen, wenn sie vom Hafen
sprechen, ist für Odo die „Püppiseite“. Da, wo die Touristenschiffe
anlegen, wo die überteuerten Fischbrötchen verkauft werden. „Der echte
Hafen, der ist hier“, sagt Odo.
Wie läuft es im echten Hafen, Odo? „Es geht immer als Erstes auf die
Kleinen.“
Seit Odo seine Klappe hat, ist die Zahl der Arbeiter zurückgegangen. Viele
kleine Firmen seien aus dem Hafen geschmissen worden. „Wenn die
Hafenverwaltung sagt, es gibt immer mehr Umschlag, kommt das hier nicht
unbedingt an“, sagt Odo. Die neuen Containerterminals laufen automatisiert,
gesteuert von ein paar Männern am Joystick. Früher gab es überall im Hafen
diese Kaffeeklappen. Odos Klappe ist die Letzte. „Eigentlich bin ich hier
abhängig von Blohm und Voss.“
Bei Blohm und Voss, der Werft am Ende der Straße, hätten früher mehrere
tausend Festangestellte plus Männer für die Auftragsarbeit ihr Geld
verdient. Seit Odo hier Brötchen schmiert, wurde das Unternehmen wieder und
wieder verkauft und aufgeteilt: ThyssenKrupp AG, MAN Turbo AG,
Krauss-Maffei Wegmann, Star Capital, Lürssen. Heute seien hier in Hamburg
vielleicht noch ein paar hundert Mitarbeiter übrig, sagt Odo. Weniger
Männer, weniger Mettbrötchen. Laufkundschaft gibt es immer seltener, auch
in dieser Nacht halten nur wenige Fernfahrer vor seiner Klappe. Dafür gibt
es jetzt die Kreuzfahrtschiffe, aber Kreuzfahrer essen keine Mettbrötchen.
Die Gewerkschaften, sagt Odo, die vertreten nur noch die Nichtarbeiter: die
Vorarbeiter in den Werften. Die müssten ja nur noch einen kennen, der
schweißen kann, einen Pawel, zum Beispiel. Odo merkt, dass immer mehr von
weiter weg hier arbeiten. Die Polen würden noch anständig bezahlt, die
Rumänen hätten kein Geld übrig für Kaffee und Brötchen.
Obwohl es immer weniger Arbeiter gibt, ist die SPD stark wie nirgendwo
sonst. Warum? „Das ist wie ein Bayer, der als CSU-Wähler geboren ist, das
ist einfach Tradition.“
Odo muss sich heute mehr einfallen lassen als vor 20 Jahren. Er hat jetzt
eine Mitarbeiterin, sie fährt die Brötchen direkt vor die Tore der großen
Firmen im Hafen. Es ist kurz nach vier, Odo muss sich beeilen. Er haut
jetzt immer schneller Eier in die große Pfanne. Um halb fünf kommt seine
Mitarbeiterin rein, sie nicken sich zu.
„Standard?“, fragt Odo.
„Jo“, sagt sie.
Dann packt er ihr eine Kiste, die sie zusätzlich zu den geschmierten
Brötchen in ihren Wagen packt. Standard, das bedeutet: vier Stangen Kippen,
zweimal Gouda und zweimal Jagdwurst, als Reserve.
Odo kann an seinen Brötchen sehen, wie es dem Hafen, wie es Hamburg geht,
wie es der deutschen, ach was, der Weltwirtschaft geht. 2008 kamen vier
Wochen nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers plötzlich nur noch die
Hälfte der Lkws. „Das war echt heftig“. Früher hat Odo auch das chinesisc…
Neujahrsfest gemerkt, vier Wochen später war viel weniger los. Jetzt werden
die Schiffe aus China dort entladen, wo er mit seiner Kaffeeklappe gar
nicht hinkommt, in den automatischen Containerterminals.
Um viertel vor fünf betritt Gunnar den Container. Gunnar hat Schichtbeginn,
seit 11 Jahren ist er Fahrer im Hafen, seit 11 Jahren kommt er jeden Morgen
hierher.
„Moin Gunnar“, sagt Odo.
„Moin“, sagt Gunnar.
„Warst du beim Frisör?“, fragt Odo.
„Jo“, sagt Gunnar.
„Was los?“, fragt Odo.
„Ja, nix“, sagt Gunnar.
11 Uhr, Altonaer Fischereihafen
Zum Abschied essen wir Mittag auf der Püppiseite, im Schatten des
Kreuzfahrtterminals. Früher wurde in den flachen Lagerhallen Fisch
gehandelt, heute passiert das nur noch nebenbei. In einem ehemaligen
Kühlhaus ist jetzt eine Seniorenresidenz mit Elbblick. Das Restaurant, in
dem wir essen, ist gefliest und „authentisch“, so steht es in den
Google-Bewertungen.
In Hamburg wird etwas zelebriert, das nicht mehr da ist: der hanseatische
Kaufmann, der im globalen Kapitalismus nichts mehr zu melden hat. Der
Fisch, der jetzt aus Übersee kommt. Die Bedeutung der Stadt für Popkultur
und Medien. Und die SPD. Die Stadt lebt von Nostalgie, von der
Vergangenheit. Hamburg lebt gern im Gestern. Aber wenn das der Preis ist
für eine schwache AfD, ist das auch okay.
23 Feb 2020
## LINKS
[1] /Hamburg-vor-der-Buergerschaftswahl/!5662938
[2] /!1354399/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=K0TfI07YRVg
[4] /FDP-in-Thueringen/!5662454
[5] https://www.elbphilharmonie.de/de/blog/mahlers-neunte-mit-dem-concertgebouw…
## AUTOREN
Kersten Augustin
Paul Wrusch
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