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# taz.de -- Kneipen auf St. Pauli wieder geöffnet: Zurück am Tresen, zurück …
> Für manche Stammgäste ist ihre Kneipe der Mittelpunkt ihres sozialen
> Lebens. Ein Besuch auf dem Hamburger Kiez.
Bild: Mit Desinfektionsmittel und Mundschutz: „Rosis Bar“ hat wieder geöff…
Hamburg taz | Viele hatten am Mittwoch gar nicht mitbekommen, dass die
Kneipen nach sechs Wochen Pause zum ersten Mal wieder Gäste hereinließen.
Die Stammgäste aber schon. Als Jan Krüger die Nachricht am Nachmittag von
einer befreundeten Barkeeperin bekam, habe er sich eine richtige Hose
angezogen, eine „Erwachsenenhose“, wie er sagt, und seinem Freund Benno
Starke Bescheid gesagt. Seit 19.30 Uhr sitzen die beiden da, wo sie immer
sitzen, also am Tresen in „Rosis Bar“, und trinken Rum-Cola und
Vodka-Orangina.
25 Gäste sind am Mittwochabend in die kleine, mit dunklem Holz vertäfelte
Kneipe auf dem Hamburger Berg gekommen – mehr dürfen auch nicht rein, der
Abstand muss gewahrt werden. Der Türsteher weist immer wieder Passant*innen
ab. An der Ecke eines Tisches unterhalten sich zwei Männer, an der anderen
Ecke ein Mann und eine Frau. Auf einem Sofa und ein paar niedrigen Hockern
sitzen fünf Personen zusammen, es ist die größte Gruppe im Raum. Die Luft
ist schwer vom Rauch und es laufen 80er-Jahre-Hits, aber die Tanzfläche
bleibt heute leer.
„Die Vorbereitungen für die Wiederöffnung waren ein bisschen hektisch“,
sagt Rosi McGinnity, die 79-jährige Wirtin. Desinfektionsmittel musste her,
eine Liste, auf der die Gäste ihre Namen und Telefonnummern eintragen
sollen, und mehrere Schilder, die auf den Mindestabstand von 1,5 Metern
hinweisen.
Auf dem Tisch vor McGinnity steht ein Aschenbecher und eine Orangina, in
ihrer Hand qualmt eine Zigarette, die in einer rot-goldenen
Zigarettenspitze steckt. Seit 60 Jahren arbeitet McGinnity auf dem Kiez.
Mit 19 Jahren fing sie als Kellnerin im „Kaiserkeller“ an, später arbeitete
sie im „Starclub“, wo die Beatles berühmt wurden.
## Schwere Zeit für manche Stammgäste
McGinnity hat die goldenen Jahre auf dem Kiez erlebt, [1][als die
Live-Shows noch künstlerische Darbietungen mit aufwendigen Kostümen waren],
als Theaterleute und Musiker*innen kamen und massenweise Geld ausgaben. Sie
hat auch die 80er überstanden, als plötzlich alle auf Koks, aber pleite
waren, als die Gangs sich bewaffneten und die [2][Angst vor Aids den Kiez
lahmlegte]. „Da hatten wir ein Jahr lang keine Gäste“, sagt McGinnity. „…
sag mal so: Corona ist ein Schiss dagegen!“
Für manchen Stammgast mag die Zeit des Shutdowns schwerer zu verkraften
gewesen sein. „Was wohl mit dem Mann ist, der immer kommt und sein Glas
Rotwein trinkt, aber mit niemandem redet?“, fragt sich die Wirtin. Er ist
heute Abend nicht gekommen.
Nicht alle Stammgäste sind aber so gut vernetzt wie Jan Krüger und Benno
Starke. In die urigen Kiezkneipen kommen viele ältere Menschen, die kein
Internet nutzen und für die es folglich keine Option ist, ihr soziales
Leben auf Videoanrufe zu verlegen.
Im „Silbersack“ klingelt manchmal das Festnetztelefon, aber Dominik
Großefeld, der den Laden [3][seit dem Tod der 88-jährig verstorbenen Erna
Thomsen im Jahr 2012 weiterführt], geht nicht immer ran. Normalerweise ist
zu viel los. Am Wochenende ist der Laden voll mit Tourist*innen, aber unter
der Woche kommen Stammgäste aus ganz Hamburg, darunter auch viele
Senior*innen. Einige habe er versucht anzurufen, sagt Großefeld. Aber von
vielen habe er gar keine Nummer, andere seien nicht ran gegangen. Dann habe
er es per SMS versucht. „Aber bei manchen bin ich mir gar nicht sicher, ob
die wissen, wie man eine SMS öffnet“, sagt Großefeld.
Er habe das Gefühl, seiner Verantwortung nicht immer gerecht werden zu
können. Der „Silbersack“ sei für die langjährige Kundschaft mehr ein
Wohnzimmer als eine Kneipe, ein Ort des sozialen Austauschs, wo sie auch
Hilfe bekämen. Während des Corona-Shutdowns sei das nicht möglich gewesen.
„Aber auch mit den aktuellen Vorgaben frage ich mich, wie das gehen soll“,
sagt Großefeld. Die Leute kämen ja gerade her, um eben nicht allein zu
sein, und nicht, um vereinzelt in der Kneipe zu sitzen.
## Was, wenn der Mindestabstand nicht eingehalten wird?
Unter Gastronom*innen herrscht Verunsicherung – wie soll man denn genug
Umsatz machen, wenn nur so wenige Gäste reinkommen dürfen? Was ist, wenn
die Gäste den Mindestabstand nicht eingehalten werden und die Polizei zur
Kontrolle reinschneit?
Auch Rosita Samac ist verunsichert. Die Wirtin führt die „Holstenschwemme“
als Familienbetrieb – unter der Woche bedient ihre Tochter, am Wochenende
übernehmen das ihre Enkel. Für die Wiedereröffnung am Mittwochmorgen hätten
sie sich mit Desinfektionsmitteln eingedeckt und einen Plastikschutz am
Tresen angebracht. „Aber ob die Leute die Abstände einhalten, wenn die
besoppen sind?“ Samac bezweifelt das.
Während des Shutdowns habe sie versucht, über Facebook Kontakt zu den
Gästen zu halten. „Hallo meine Lieben, ich hoffe ihr seid gesund, wird
Zeit, dass wir uns wiedersehen“, [4][steht auf der Facebook-Seite der
„Holstenschwemme]“. Vor allem für die Alleinstehenden sei es hart gewesen,
sagt Samac. „Die haben ja ihre Gewohnheiten und ihren Rhythmus. Wir sind
ihre Anlaufstelle.“ Zwei Stammgäste hätten ihr ein Foto geschickt, auf dem
sie vor der verschlossenen Kneipe stehen und am Tor rütteln. Obwohl die
72-jährige Wirtin selbst zur Risikogruppe gehört, ist sie auch ein bisschen
erleichtert, wieder aufmachen zu können.
16 May 2020
## LINKS
[1] /Erinnerung-eines-Rotlicht-Regisseurs/!5264967/
[2] /30-Jahre-Schmidt-Theater-auf-St-Pauli/!5521346/
[3] /Kiezkult-soll-bleiben/!5087671/
[4] https://www.facebook.com/holsten.schwemme
## AUTOREN
Katharina Schipkowski
## TAGS
Reeperbahn
St. Pauli
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Soziales
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Schwerpunkt Coronavirus
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Schwerpunkt Coronavirus
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