# taz.de -- Kneipen auf St. Pauli in Corona-Zeiten: Eine Nacht im Keller | |
> Der Elbschlosskeller hat nach langer Coronapause wieder geöffnet. Obwohl | |
> die meisten Stammgäste abgewiesen werden, ist Abstand schwierig. | |
Bild: Jetzt ist die Tür auch wieder zum Trinken auf: Der Elbschlosskeller in H… | |
HAMBURG taz | Rosi steht mit ihrem Rollator im Elbschlosskeller. Ein | |
Spielautomat blinkt an der Wand. In ihrem Blickfeld ist eine | |
Poledance-Stange, an der aufgeklebte Sticker abblättern. Ein Mann an der | |
Bar grüßt sie mit Vornamen. Rosi lächelt. | |
Wie die zierliche Frau es überhaupt geschafft hat, ihre Gehhilfe die Stufen | |
in die Kiezkneipe hinunterzuwuchten, ist ein Rätsel. Die Farbe ihrer blauen | |
Haare wirkt ausgewaschen, ihr Alter ist schwierig zu schätzen. Sie scheint | |
grunderschöpft, ihre Haut ist faltig, sie stützt sich auf ihrem Rollator ab | |
– aber sie hat es geschafft. Nach der langen [1][Corona-Pause] ist sie am | |
Eröffnungsabend am Mittwoch endlich daheim, im Elbschlosskeller am | |
Hamburger Berg. | |
„Ihr habt mir gefehlt“, sagt Rosi und seufzt so laut, dass man es trotz des | |
Schlagers, der aus der Jukebox dröhnt, hören kann. Aber ihre Erleichterung | |
währt nur kurz: Barbedinung Bine – hier sind alle beim Du – kommt eilig | |
hinter dem Massivholztresen hervor. „Rosi, ich muss dich bitten zu gehen. | |
Wir sind schon voll“, sagt sie und schiebt die verwirrt dreinblickende Frau | |
energisch zur Tür. Ihr Blick verrät: Niemals hätte sie mit dem Tag | |
gerechnet, an dem eine Mitarbeiterin des Kellers sie auf die Straße setzen | |
würde. | |
Wenn es nach Susanna Horn gegangen wäre, wären die Türen der | |
selbsternannten härtesten Kneipe Hamburgs, die seit der Eröffnung nie zu | |
war, weiter verschlossen geblieben – aus Vorsicht. Denn Abstand halten ist | |
für die meist recht abgefüllten Gäste schwierig. | |
## Das Absperrband ist neu | |
Doch das Warten auf das Ende der Pandemie konnten sie sich nicht mehr | |
leisten. Horn und ihr Lebensgefährte Daniel Schmidt führen den | |
Elbschlosskeller in dritter Generation. Die Einrichtung haben sie nicht | |
geändert. Die rustikalen Sitzecken aus Holz standen hier schon in den | |
Fünfzigern. Neu sind das gelbe Absperrband, das mitten im Raum gespannt | |
ist, und die Plastiktrenner zwischen den Tischen. | |
Die [2][Corona-Verordnung] vom 1. Juni schreibt vor, dass nur so viele | |
Gäste in den Elbschlosskeller kommen dürfen, dass der Mindestabstand von | |
1,5 Metern eingehalten werden kann. Tanzen ist verboten. In geschlossenen | |
Räumen gilt: nicht mehr als eine Person pro zehn Quadratmeter. | |
Im verrauchten Elbschlosskeller halten sich an diesem Abend zeitweise 30 | |
Gäste auf. 300 Quadratmeter misst die Kneipe aber lange nicht. Je mehr | |
Holsten und Astra fließen, desto näher kommen sich die Leute – trotz | |
ständiger Mahnungen der Mitarbeiter*innen. Die wenigsten Gäste gehören zur | |
[3][Kernklientel des Ladens]. Das wären Ü-50-Hamburger*innen, manche ohne | |
festen Wohnsitz, aber viele mit stabilem Alkoholproblem. | |
Horn sagt, sie habe schon vor der Eröffnung gewusst, dass „die Atmosphäre | |
und das Klientel nicht die gleichen sein“ würden. Heute gibt ein | |
Frankfurter am Tresen, der mit einem Foto seiner „Versace-Sandalen“ auf dem | |
Smartphone prahlt, eine Runde für alle aus. | |
Zwei Barhocker weiter sitzt Benjamin und blickt mit blutunterlaufenen Augen | |
auf den Pulk Menschen, der sich vor der Tür versammelt hat. Stammgäste, die | |
nicht rein durften stehen da, aber auch ein paar betrunkene Tourist*innen. | |
„Hier ist es wie im Zoo, man wird von draußen angegafft“, sagt der | |
21-Jährige. Hier ist er Gast, normalerweise jobbt er in einer anderen | |
Kiezkneipe selbst schwarz an der Bar. | |
Der Elbschlosskeller ist für ihn eine Art Notunterkunft. Er wollte | |
Kilometer zwischen sich und seine Pflegefamilie bringen und zog aus der | |
Nähe von Frankfurt auf die Reeperbahn. Geld für ein Hotel hätte er wohl | |
zusammenkratzen können, sagt er. Doch wegen [4][Corona] bekam er Ende März | |
kein Zimmer. | |
## Die Wiedereröffnung kam plötzlich | |
Von jetzt auf gleich war er obdachlos, holte sich einmal täglich eine warme | |
Mahlzeit im Elbschlosskeller ab und knüpfte dort Kontakte. Horn und ihr | |
Mann Schmidt haben sich im April dem Hilfsprojekt „Wer wenn nicht wir“ | |
angeschlossen und die Kellertüren für Bedürftige geöffnet. Sie verteilten | |
dort Essen und Kleidung. | |
Benjamin durfte mehrere Wochen auf einer Matratze im hinteren Teil der | |
Kneipe schlafen, in der sonst die Kicker stehen. „Die Leute hier sind für | |
mich Familie geworden“, sagt er. Mittlerweile hat er ein WG-Zimmer | |
gefunden, aber in der Kneipennische liegen neben Kartons voll | |
übriggebliebener Spenden noch ein Paar seiner Schuhe. Die Wiedereröffnung | |
kam für alle Beteiligten plötzlich. | |
Barkeeper Thorsten hat von der Schicht erst morgens erfahren. Jetzt steht | |
er hinter dem Tresen und grölt 60er-Jahre-Schlager mit, dabei rutscht seine | |
Stoffmaske immer weiter gen Kinn. Solche Rausschmeißer würden sie | |
normalerweise erst gegen 6 Uhr in der Früh spielen, sagt Thorsten. Jetzt | |
sollen sie Partystimmung dämpfen. | |
„Frühestens im nächsten Sommer wird der Keller wieder das, was er einmal | |
war“, glaubt er, der hier schon seit 30 Jahren arbeitet. Bis dahin heißt es | |
[5][Kontaktformulare ausfüllen und den Alkoholpegel für das Einhalten der | |
Verordnungen möglichst niedrig halten.] Dafür rennt Bine mit dem Klemmbrett | |
durch den Raum und pöbelt Betrunkene an: „Quatsch mich nicht voll.“ | |
## Die Verordnung gerät in Vergessenheit | |
Nur zwei Stammgäste dürfen bleiben. Einer von ihnen ist auf einer Bank | |
weggenickt und Bine stupst ihn zwischendurch an. Auch Benjamin, der nach | |
fünf Mexikanern, zwei Tequila und zwei Bier selbst einen sitzen hat, | |
versucht ihn zum Gehen zu bewegen. Er kommt ihm dabei nah und legt dem | |
Fremden den Arm an die Schulter. Ein weiterer Altbekannter beschwert sich: | |
„Wenn ihr mich nicht haben wollt, warum habt ihr mich reingelassen? Selbst | |
Schuld.“ | |
Je später die Nacht, umso mehr gerät die Corona-Verordnung in | |
Vergessenheit: Barkeeper Thorsten leert sein Bier in einem Zug. | |
Barbedienung Bine kippt mit den Frankfurtern einen Shot. Im Anschluss | |
knipsen sie ein paar Fotos – Arm in Arm. Die Vorsätze waren gut, aber der | |
Elbschlosskeller hat seine eigenen Regeln. | |
25 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Hamburg-und-das-Virus/!5673000 | |
[2] https://www.hamburg.de/verordnung/ | |
[3] /Kneipen-auf-St-Pauli-wieder-geoeffnet/!5682330 | |
[4] /Schwerpunkt-Coronavirus/!t5660746 | |
[5] /Kneipen-leiden-an-Corona-Beschraenkungen/!5685259 | |
## AUTOREN | |
Laura Strübbe | |
## TAGS | |
St. Pauli | |
Nachtleben | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Kneipe | |
Soziales | |
Hamburg | |
St. Pauli | |
Bremen | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Reeperbahn | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Wirtin über ihr Kneipenleben: „Ich könnte heulen“ | |
Zwei Drittel ihres Lebens stand Sylvia Herold hinter Hamburgs Tresen, die | |
letzten 16 Jahre im Katz & Kater. Ein Gespräch über Liebe, Wut und Trauer. | |
Interview mit Hamburger Kiez-Wirtin: „Ich vermiss' die alten Zeiten nicht“ | |
Rosi McGinnity arbeitet seit 60 Jahren auf St. Pauli. Dabei hat sie die | |
goldenen und die dunklen Jahrzehnte miterlebt – und kennt alle Gangster von | |
Rang. | |
Youtube-Serie „Hazel & Thomas“: Die Kneipe als bedrohter Kulturraum | |
Die Komikerin Hazel Brugger und ihr Sidekick Thomas Spitzer widmen sich in | |
ihrer Youtube-Serie „Hazel & Thomas“ zwei legendären Bremer Kneipen. | |
Kneipen leiden an Corona-Beschränkungen: Bier und Korn auf Abstand | |
Der Hamburger Senat hat die Hygiene-Regeln für Kneipen gelockert. Die seien | |
so streng, dass sich der Betrieb nicht lohne, kritisieren Wirte. | |
Kneipen auf St. Pauli wieder geöffnet: Zurück am Tresen, zurück im Leben | |
Für manche Stammgäste ist ihre Kneipe der Mittelpunkt ihres sozialen | |
Lebens. Ein Besuch auf dem Hamburger Kiez. |