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# taz.de -- Politologe über Krise im Mittleren Osten: „Das Atomabkommen ist …
> Volker Perthes von der Stiftung Wissenschaft und Politik befürchtet nach
> den Angriffen einen einseitigen iranischen Einfluss im Irak. Für den
> Atomdeal sieht er Hoffnung.
Bild: Auf der Bühne: die US-Fahne und die iranische Fahne bei den Atomgespräc…
taz: Herr Perthes, weitere Sanktionen, aber keine militärischen Schritte –
so reagierte US-Präsident Trump am Mittwoch [1][auf iranische Angriffe
gegen Stützpunkte der Anti-IS-Koalition]. Ist der Höhepunkt der Eskalation
erreicht?
Volker Perthes: Vorerst scheinen beide Seiten von der Klippe zurücktreten
zu wollen. Für den weiteren Verlauf kommt es aber nicht nur darauf an, ob
die USA, wie von Präsident Trump angekündigt, auf eine weitere militärische
Eskalation verzichten. Genauso wichtig ist, ob Iran seine
Vergeltungsmaßnahmen tatsächlich, wie der Außenminister dies hat verlauten
lassen, für „abgeschlossen“ betrachtet und zudem seine irakischen
Verbündeten davon abhält, ihrerseits weitere tödliche Angriffe auf
amerikanische Ziele zu unternehmen. Sollte beides der Fall sein, könnte die
Lage sich erst einmal stabilisieren, selbst wenn Drohungen und
Abschreckungsgesten beider Seiten weiter im Raum stehen.
Droht dennoch ein neuer Irakkrieg?
Ein neuer Irakkrieg droht meines Erachtens nicht. Was wir aber mit großer
Sorge betrachten müssen, ist die Destabilisierung des Irak unter dem Druck
des Konflikts. Bisher bestand quasi eine geteilte amerikanisch-iranische
Hegemonie über das Land: Man hat sich indirekt darauf geeinigt, wer etwa
der irakische Ministerpräsident wird. Man hat zeitweise – nicht
koordiniert, aber durchaus gemeinsam – den sogenannten Islamischen Staat im
Irak bekämpft. Wenn der Druck auf die irakische Regierung zunimmt, die
Amerikaner ganz oder teilweise aus dem Irak hinauszukomplimentieren,
entstünde eine einseitige iranische Hegemonie im Irak. Das würde negative
Reaktionen bei irakisch-nationalistischen, kurdischen, sunnitischen Teilen
der Bevölkerung hervorrufen, Unabhängigkeitsbestrebungen in
Irakisch-Kurdistan verstärken und möglicherweise den Staat zerreißen.
Ging es den USA in den letzten Wochen und Monaten um Eskalation?
Ich glaube, der gegenwärtigen amerikanischen Politik im Nahen und Mittleren
Osten fehlt die strategische Weitsicht, aber es ist keine Politik, die auf
Krieg setzt. Es ist eher eine Politik, die durch ihre eigenen strategischen
Fehler – wozu zuallererst die Kündigung des Atomabkommen gehörte – vor
lauter schlechten Optionen steht. Wenn das Atomabkommen völlig scheitern
sollte, befinden sich die Amerikaner in einer Situation, die genau durch
das Abkommen hätte verhindert werden sollen: dass Iran näher an die
Fähigkeit heranrückt, sein eigenes Atomprogramm militärisch zu nutzen.
Näher „an die Bombe“ also, wie es in den Medien oft heißt.
Wie steht es derzeit um das Atomabkommen? Ist der Atomdeal noch irgendwie
zu retten?
Iran hat das Atomabkommen nicht aufgekündigt, aber die fünfte Phase dessen
verkündet, was es selbst „die Reduktion seiner Verpflichtungen unter dem
Atomabkommen“ nennt. Ich würde eher von der fünften Phase von Verstößen
gegen das Abkommen sprechen. Aber das Atomabkommen ist noch nicht tot. Die
politischen Institutionen, die damit entstanden sind, existieren weiter.
Die internationale Atomenergiebehörde – und das ist sehr, sehr wichtig –
führt weiter Inspektionen in Iran durch. Und Iran hat zugesagt – und das
kann man glauben oder nicht –, dass jeder dieser fünf Schritte reversibel
ist, wenn eine angemessene Bewegung auf der anderen Seite zu sehen ist.
In der Aushandlung des Atomabkommens hat Deutschland eine zentrale Rolle
eingenommen. Was müsste jetzt von deutscher Seite geschehen?
Letztlich wäre das Ziel – aber das setzt Deeskalation zwischen Iran und den
USA voraus –, zumindest eine Abmilderung der amerikanischen Sanktionen zu
erreichen, gleichzeitig iranische Schritte zurück zu den Verpflichtungen
unter dem Atomabkommen zu erwirken. Deutschland hat als einer der sechs
Staaten, die ursprünglich das Abkommen mit Iran und der EU unterzeichnet
haben, weiterhin eine zentrale Rolle. Hinzu kommt, dass Deutschland nach
wie vor auf der Spitzenebene einen guten Draht nach Washington hat. Da ist
es sowohl im Interesse der Bundesrepublik als auch eine Verpflichtung, hier
diplomatisch kreativ zu bleiben.
Kann Deutschland im Iran-Konflikt überhaupt etwas ausrichten?
Die Europäer können zusammen mit Partnern Hilfe zur Deeskalation anbieten,
und das ist nicht wenig. Wenn es tatsächlich so ist, dass beide Seiten
deeskalieren wollen – und von beiden Seiten haben wir das Wort Deeskalation
gehört –, brauchen sie möglicherweise Unterstützung dabei. Schon deshalb,
weil die direkten Kommunikationskanäle fehlen. Bei den arabischen Staaten
im Persischen Golf sehen wir ebenfalls große Sorge vor einer Eskalation.
Eine gemeinsame europäisch-golfarabische Initiative für eine regionale
Konferenz zu Vertrauensbildung, Sicherheit und Kooperation wäre ein sehr
wünschenswerter Schritt. Hier ließen sich Fäden wieder aufgreifen, die im
letzten Jahr gesponnen wurden, etwa beim G7-Gipfel in Biarritz oder danach
bei der UN-Generalversammlung.
Ursula von der Leyen forderte die EU auf, „die Sprache der Macht zu
lernen“. Sie wolle eine [2][„geopolitische Kommission“] führen. Die EU w…
allerdings recht zögerlich und meldete sich erst nach Tagen des Schweigens
zu Wort …
Geben wir der Kommission mindestens die 100 Tage, die man auch jeder
Regierung geben würde. Das Wort von der „geopolitischen Kommission“ ist
natürlich sehr schön, aber wenn man solche Wörter benutzt, muss man sie
auch mit Inhalt füllen. Was das heißt? Meiner Meinung nach nicht, dass sich
die EU zum weltweit operierenden militärischen Akteur entwickelt. Sondern
dass sie ihre eigenen zivilen, diplomatischen, entwicklungspolitischen,
auch militärischen Instrumente ausbaut, um Stabilität in ihr unmittelbares
strategisches Umfeld zu projizieren. Darin waren die EU-Staaten in den
letzten Jahrzehnten nicht besonders gut. Aber all das sind Bereiche, wo die
EU ein stärkeres Interesse hat als die Vereinigten Staaten. Denn mit
sinkendem Interesse am Ölfluss aus dem Persischen Golf sinkt auch das
amerikanische Eigeninteresse an Stabilität in der Region.
Kann die EU eine eigenständige Nahost-Politik betreiben oder besteht da
doch eine starke Abhängigkeit zu den USA?
Erstens: Gemeinsam könnten die Europäer eine eigenständige Nahost-Politik
machen, weil die EU eben doch einen ziemlichen Machtfaktor darstellt.
Zweitens: Die USA wird es ernst nehmen, wenn die Europäer mit einer
einheitlichen Politik auftreten. Drittens: Die USA wollen sich als
militärische Kraft aus den Konfliktgebieten im Nahen und Mittleren Osten
herausziehen, sind aber bisher – das haben wir nicht immer zugegeben – von
den Europäern aufgefordert worden, zu bleiben. Die Europäer waren sich
nicht sicher, ob sie mit den Herausforderungen in der Region umgehen
könnten, auch wenn sie letztendlich die besseren Ideen zur Konfliktlösung
haben, zum Beispiel in Hinblick auf Fähigkeitsentwicklung oder den Aufbau
nachhaltiger Staatlichkeit.
Teile der Nato-Truppen und der Bundeswehr-Mission verlassen zeitweise das
Land. Grüne und Linke fordern den kompletten Abzug – wäre das richtig?
Ich glaube, es wäre verfrüht, denn der sogenannte Islamische Staat ist
keineswegs besiegt und sowohl in Syrien als auch im Irak weiterhin aktiv.
Wenn der Irak destabilisiert und die Herrschaftssituation in den
verschiedenen Gebieten Syriens unklar ist, wäre das Verschwinden
militärischen Drucks auf den IS wohl die schlechteste Option. Die Aufgabe
der Nato ebenso wie einzelner europäischer Staaten wie Deutschland ist
deshalb vielmehr, mit der irakischen Regierung und anderen Staaten in der
Region darüber zu reden, welche Formen externer Unterstützung gebraucht
werden, um mit der Herausforderung Islamischer Staat fertig zu werden.
Wie könnte eine solche Unterstützung zur Bekämpfung des IS aussehen?
Wenn wir die Souveränität dieser Staaten respektieren, sollten wir sie
fragen, bevor wir definieren, wie diese Unterstützung zu gestalten ist. Die
irakische Regierung hat selbst klargemacht, dass Ausbildung ein ganz
zentrales Element für das Land ist. Vermutlich werden die Iraker auch
zivile Unterstützung brauchen. Da geht es um konkrete Dinge wie Strom- und
Wasserversorgung. Wenn Sie im Sommer bei 50 Grad ohne Strom, Elektrizität
und Arbeitsplatz in Ihrem abgelegenen Dorf sitzen, ist der fruchtbare Boden
für die Rekrutierung durch extremistische Organisationen sicher eher da,
als wenn Sie zur Überzeugung kommen, dass die Regierung etwas für die
Verbesserung Ihrer Situation tut. Es geht also um Stabilisierung und
zivilen Wiederaufbau. Da haben die europäischen Staaten und auch
Deutschland einiges anzubieten.
Sie sagten, dass der komplette Abzug der Mission dem Islamischen Staat in
die Hände spielen würde – aber können 140 Bundeswehrsoldaten denn einen
Unterschied machen?
140 Soldaten, die kämpfen, würden keinen Unterschied machen, aber das tun
sie ja richtigerweise nicht. Aber 140 Ausbilder machen sehr wohl einen
Unterschied.
9 Jan 2020
## LINKS
[1] /Eskalation-zwischen-Iran-und-USA/!5654544
[2] /Eskalation-nach-Toetung-von-Soleimani/!5650285
## AUTOREN
Franziska Schindler
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