| # taz.de -- Umweltschutz in Indien: Eine Frage der Kohle | |
| > Die indische Regierung verfolgt ambitionierte Ziele für die Energiewende. | |
| > Trotzdem müssen die Menschen dort nach frischer Luft ringen. | |
| Bild: Diese AktivistInnen haben sich gegen die Abholzung des Aarey-Waldes geweh… | |
| Mumbai taz | Die Atemschutzmaske hat sich noch nicht in das Stadtbild der | |
| Metropole Mumbai gedrängt. In Indiens bevölkerungsreichster Stadt schluckt | |
| das Meer einen guten Teil der dreckigen Luft aus Auspuffgasen, Industrie | |
| und Müllverbrennung. | |
| Anders sieht es in der Hauptstadt Delhi aus. Hier werden die Proteste der | |
| [1][Gruppe Let Me Breath (Lass mich atmen)] immer lauter. Sie treffen sich | |
| an öffentlichen Orten, um ihrer Wut gegenüber den Behörden Luft zu machen – | |
| solange sie noch können. Denn im Winter steigt die Luftbelastung hier auf | |
| den „sehr ungesunden“ Wert von 400 auf dem Air Quality Index (AQI). Das | |
| entspricht dem Rauchen von über 16 Zigaretten am Tag. Zum Vergleich: In | |
| Berlin liegt dieser Wert bei 50, laut AQI eine gute Luftqualität. | |
| Wer die faulige Luft von Delhi einmal eingeatmet hat, dem erscheinen die | |
| [2][ehrgeizigen Klimaziele der indischen Regierung] weit weg. Tatsächlich | |
| ist die Energiewende in Indien schon im Gange. Aber sie kommt zu langsam | |
| voran. | |
| 2027 soll ein Drittel des jetzigen nationalen Strombedarfs aus erneuerbaren | |
| Energien gewonnen werden. Indiens Ziele sind höher als jene anderer | |
| Industrienationen. Auf dem Papier sieht das gut aus. Doch es gebe | |
| Probleme bei der Umsetzung, sagt Kundan Pandey vom indischen Umweltmagazin | |
| Down to Earth. Denn in der Praxis hält der Staat immer noch an der Kohle | |
| als der wichtigsten Energiequelle fest. | |
| ## Nur China und die USA verbrauchen mehr Energie | |
| 2019 verbraucht Indien zwar weniger Kohlestrom – wegen der gegenwärtigen | |
| Rezession. Die langfristige Tendenz ist trotzdem steigend: Bis 2024 soll | |
| eine Milliarde Tonne Kohle mehr als heute abgebaut werden. So erhofft sich | |
| das Land, unabhängiger von Importen zu werden. Das verkündete Anfang | |
| November der zuständige Minister für Kohle und Bergbau. | |
| „Wir können uns nicht von der Kohle trennen, wir können es uns nicht | |
| leisten“, sagte auch die ehemalige Energiesekretärin Delhis Varsha Joshi. | |
| Indien steht im globalen Energieverbrauch auf Platz drei mit 5,6 Prozent, | |
| hinter China (23,6 Prozent) und den USA (16,6 Prozent). | |
| Dabei werden in Indien viele Haushalte immer noch nicht oder nicht rund um | |
| die Uhr mit Strom versorgt. Knapp zwei Drittel des verbrauchten Stroms | |
| stammen aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe – mehr als die Hälfte davon | |
| wird mit Kohle produziert. Ein Fünftel stammt aus erneuerbaren Energien. | |
| Bis 2030 sollen 40 Prozent aus Nicht-Kohle-Quellen generiert werden. So | |
| zumindest lautet eines der Pariser Ziele Indiens. Dieses Ziel erscheint | |
| zunächst gar nicht so fern. | |
| Unter der Regierung von Narendra Modi hat sich der Anteil erneuerbarer | |
| Energien bisher fast verdoppelt. Aber selbst bei niedrigen Kosten für | |
| Solarpanels durch preiswerte Anlagen aus China bleibt Kohlestrom nach wie | |
| vor der wichtigste Bestandteil des Versorgungsnetzes. Deshalb bleibt auch | |
| die Luft weiterhin dreckig. Denn die Stromerzeugung durch Kohle ist für | |
| die starke Belastung durch Feinstaub, Schwefeldioxid und Stickstoffoxid | |
| zweifellos mitverantwortlich. | |
| ## Kohlestrom dominiert, obwohl er teurer ist | |
| Diesem akuten Problem könnte mit Filteranlagen begegnet werden. Bereits | |
| 2015 verpflichtete die Regierung kohlebefeuerte Wärmekraftwerke dazu, die | |
| Konzentration des gefährlichen Schwefeldioxids mit Filteranlagen zu | |
| mindern. Nach einer Studie des Non-Profit-Zentrums für | |
| naturwissenschaftliche Technik und Politik (CSTEP) sind bisher aber nur | |
| zwei von 441 Werken mit der erforderlichen Technologie ausgestattet. | |
| Dabei hatte die Regierung erlaubt, dass die Energieunternehmen die | |
| Stromtarife erhöhen, um die Kosten zu decken. Aber die staatlichen | |
| Kohleunternehmen sind verschuldet. Der Streit darüber, wer die Schulden | |
| tilgen soll, verlangsamt die Umsetzung der vorgesehenen Maßnahmen. Die | |
| Fristen für den Filtereinbau wurden deshalb auf 2022 geschoben. Derweil | |
| lässt sich Modi für seine Klimaagenda als „Champion of the Earth“ feiern, | |
| wie 2018 bei den Vereinten Nationen geschehen. | |
| Greenpeace Indien kritisiert, dass die Regierung weiter in Kohlestrom | |
| investiert, obwohl alternative Energiequellen günstiger sind. Und obwohl | |
| der gesamte Kohlesektor unter finanziellem Druck steht, wurde im Mai der | |
| Grundstein für den Bau zweier neuer Kohlekraftwerke in Nordindien gelegt. | |
| „Kohlestrom kann schon jetzt preislich oft nicht mehr mit Wind- oder | |
| Sonnenkraftwerken mithalten“, sagt der Umweltautor Pandey, der seit zehn | |
| Jahren über Energie- und Entwicklungsthemen schreibt. Die Betreiber von | |
| Kohlekraftwerken machten mit ihrem Geschäft Verluste, und Atomkraft sei | |
| dagegen wenig beliebt, so Pandey. Die Nuklearkatastrophe in Fukushima ist | |
| auch in Indien nicht an den Menschen vorbeigegangen. Derzeit werden 2 | |
| Prozent des indischen Energieverbrauchs mit Atomkraftwerken erzeugt. | |
| ## Widerstand der Bevölkerung | |
| Trotz der erfreulichen Entwicklungen ist die ehrenamtliche | |
| Umweltkoordinatorin Ruhie Kumar besorgt: „Ich bin in einem Vorort von | |
| Mumbai aufgewachsen und muss dabei zusehen, wie die Stadt ausgebeutet | |
| wird“, sagt sie. Dagegen engagiert sich die 33-Jährige seit vielen Jahren | |
| off- und online. „Städtische Wälder, Flüsse, Seen und Feuchtgebiete | |
| verschwinden, was zu katastrophalen Problemen wie dem Anstieg des | |
| Meeresspiegels und der Verschlechterung der Luftqualität führt“, sagt | |
| Kumar. | |
| Sie bereitet in Mumbai den globalen Klimastreik am 29. November vor. Davor | |
| war sie aktiv, um die Abholzung des Stadtwaldes Aarey zu verhindern. Sie | |
| ist in vielen [3][Umweltgruppierungen tätig, von denen es in Indien immer | |
| mehr gibt]: Fridays for Future, Extinction Rebellion, Rettet den Aarey-Wald | |
| und zwei weitere Projekte. Die Vielzahl der Bewegungen zeigt, dass sich in | |
| Indien die Wahrnehmung der Klimakrise verändert. | |
| Doch nicht nur in Millionenstädten wie Mumbai oder Delhi ist man sich | |
| bewusst, dass es Zeit ist, sich mit Protest zu wehren. Der Versuch, an der | |
| Westküste Indiens ein Megakernkraftwerk zu bauen, wurde vorerst erfolgreich | |
| durch den Widerstand der Bevölkerung verhindert. Aktivist Satyajit Chavan | |
| aus Jaitapur organisiert dort zusammen mit Bauern und BewohnerInnen seit | |
| zwölf Jahren viermal im Jahr Streiks. „Wir widersetzen uns dem Kraftwerk, | |
| weil es die Lebensgrundlage der Menschen zerstört, die von der Fischerei | |
| und der Landwirtschaft abhängig sind“, sagt er. | |
| Die Region ist weltweit für ihre Alphonso-Mangos bekannt. Chavan macht sich | |
| große Sorgen wegen der Kernstrahlung. Zudem würde der Reaktor Unmengen | |
| Kühlwasser am Tag benötigen, die dann das Meer erwärmten. „Die erhöhten | |
| Temperaturen würden die Meeresvielfalt zerstören, sich auf die Fischerei | |
| und den Mangoanbau auswirken, der auf kleinste Temperaturschwankungen | |
| empfindlich reagiert.“ | |
| ## Folgen für die Umwelt sind längst bemerkbar | |
| In Jaitapur kämpfe die Klimabewegung schlicht und einfach um das | |
| Überleben, so der 47-Jährige. 2011 wurde ein Mann bei den Protesten gegen | |
| den Reaktor durch Polizeischüsse getötet. Seitdem gehen die AktivistInnen | |
| an seinem Todestag am 18. April auf die Straße, ebenso zum | |
| Tschernobyl-Jahrestag. | |
| „Unser Energiebedarf wird bereits durch ein Kohlekraftwerk und ein | |
| Wasserkraftwerk in der Region gedeckt“, erklärt Chavan. Er weiß, dass das | |
| Projekt in Jaitapur gerade stillsteht. Doch hinter diesem steckt ein | |
| Milliardendeal mit dem französischen Konsortium Areva S. A. Deshalb ist er | |
| weiterhin besorgt: „Die Regierung will das Projekt durchsetzen, da | |
| Frankreich eines der Länder war, die angereichertes Uran nach Indien | |
| geliefert haben.“ | |
| Das habe Frankreich getan, obwohl wegen des Nuklearbombentests Pokhran-II | |
| 1998 Sanktionen gegen Indien verhängt worden seien. Gleichzeitig weiß | |
| Chavan, dass Indiens Energiebedarf nicht allein mit grünem Strom zu decken | |
| ist: „Wir müssen neue Wege finden, um unseren CO2-Fußabdruck zu verringern, | |
| denn wir Menschen haben bereits irreversible Schäden angerichtet.“ | |
| Die klimatischen Veränderungen machen sich in Indien mehr und mehr | |
| bemerkbar. Die Regenzeiten verschieben sich, Wasser- und Luftverschmutzung | |
| nehmen zu. So gewinnen die AktivistInnen an Zustimmung zu ihren | |
| Umweltprotesten. | |
| ## Eine zögernde Regierung | |
| Immer mehr Menschen fühlen sich durch die unmittelbaren Folgen bedroht. Es | |
| sind einschneidende Ereignisse wie ein Atommeiler vor der Haustür; Luft, | |
| die in Lungen und Augen brennt; oder Stadtwälder, die trotz Protesten | |
| abgeholzt werden. Ableger der Gruppe Extinction Rebellion und Fridays for | |
| Future in Indien vernetzen sich mit eigenständigen Gruppen wie der | |
| Let-Me-Breath-Bewegung aus Delhi. | |
| Sie und auch ÄrztInnen kritisieren, dass die Regierung nur dann konkrete | |
| Schritte unternehme, wenn die Lage zu eskalieren drohe. Dann nämlich würden | |
| Fahrverbote erteilt, Bauarbeiten unterbrochen oder Schulen geschlossen – so | |
| wie kürzlich in Delhi. Damit steigt der Unmut in der Bevölkerung. „Narendra | |
| Modi kauft mit unserem Geld Luftreiniger für sein eigenes Büro und lässt | |
| Kinder an giftiger Luft sterben“, klagt der Umweltschützer Vimlendu Jha an. | |
| Zwar wird der Zulauf zu den Umweltbewegungen immer größer. Eine kritische | |
| Masse haben die AktivistInnen aber noch nicht erreicht. Noch plagen viele | |
| Menschen andere Probleme: In Zeiten des ökonomischen Abschwungs drängt die | |
| Frage des Lebensunterhalts unmittelbarer als die Klimakrise. | |
| 22 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Natalie Mayroth | |
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