# taz.de -- Demokratie im Wandel: Zehn Jahre sind übermorgen | |
> Übergang vom Alten zum Neuen: Ob Volksparteien oder Green New Deal – wie | |
> retten wir Strukturen und Institutionen der Gegenwart in die Zukunft? | |
Bild: Bei Extinction Rebellion lassen sich Veränderungshoffnungen und -praktik… | |
Vielleicht liegt es auch an mir, aber zurzeit sehe ich fast überall, wie | |
sich die Gegenwart verschiebt, ich spüre es körperlich, wie das Alte und | |
das Neue auseinanderklaffen, wie schroff und roh und unfreundlich sie | |
nebeneinander stehen. Das können Menschen sein, die sich so verändern, nach | |
vorne oder nach hinten, dass sie nicht mehr miteinander reden wollen. Das | |
betrifft aber auch größere gesellschaftliche Bereiche, letztlich die | |
Grundlagen dessen, was unsere Politik und Wirtschaft ausmacht. | |
Form und Inhalt passen einfach in vielem nicht mehr zusammen, und die | |
Verteidigung des Bestehenden ist immer der falsche Weg, auf die | |
Herausforderungen der Zeit zu reagieren. Viele Menschen und auch viele | |
Institutionen reagieren aber genauso, mit Beharren, mit Rückzug auf das | |
Vertraute. Vor allem im Politischen, und in diesem Fall im politischen | |
Berlin, herrscht diese Verunsicherung darüber, wie das Alte so verändert | |
werden kann, dass es eine Chance hat, in einer neuen Zeit zu bestehen. | |
Das ist möglicherweise fatal angesichts der Notwendigkeit, die Art und | |
Weise, wie diese Demokratie funktioniert, elementar zu verändern, weil | |
sonst etwa im Bereich des Klimawandels viel zu wenig und viel zu spät | |
passiert. Zehn Jahre haben wir, das sagen die ernstzunehmenden | |
Wissenschaftler. | |
Zehn Jahre sind gerade mal zweieinhalb Legislaturperioden, zehn Jahre sind | |
übermorgen, und während die [1][CDU über Koalitionen mit der AfD | |
diskutiert] und die SPD sich unfähig erweist zur personellen oder | |
inhaltlichen Erneuerung, stellt sich die Frage nach dem richtigen | |
Ansatzpunkt für Veränderungen. | |
## Soll man also in die SPD eintreten? | |
Der liegt im System, das sagen die einen, und ich nehme sie sehr ernst, es | |
sind oft diejenigen, die am nächsten dran sind an den politischen | |
Prozessen; andererseits ist diese Nähe manchmal eben auch nicht gut, gerade | |
im politischen Berlin erlebe ich immer wieder, wie Gespräche mit eloquenten | |
Menschen enden, weil sie sich vollkommen verlieren in den Erklärungen für | |
die Zwangsläufigkeit dessen, was sie tun. | |
Sie reden und reden, und während sie reden, zerfällt das, was sie sagen | |
oder auch schützen wollen, und sie merken es nicht mal; oder doch, in | |
stiller Melancholie. | |
Soll man also in die SPD eintreten, das ist die Haltung oder Hoffnung | |
mancher Freunde; soll man in der SPD bleiben, das ist die Frage mancher, | |
die aktiv in der Politik etwas gestalten wollen und doch wissen, was für | |
eine zermürbende Erfahrung das ist, diese Ortsvereinskleinkriegerei – und | |
fast immer sind diese Überlegungen verbunden mit der Frage, wo der Ort ist | |
für Veränderungen, was der Weg ist, liegt er innerhalb der bestehenden | |
Strukturen und Institutionen oder außerhalb? | |
Auch bei den Grünen ist das nicht viel anders, jedenfalls bei denen mit | |
Macht, so scheint es – weil die Perspektive sich auch da ganz schnell | |
darauf verengt, was machbar ist, durchsetzbar, den Wähler*innen zuzumuten. | |
Wie also kann man von Verzicht so sprechen, dass es überzeugend wirkt? Wie | |
kann man negatives Wachstum zu einem gesellschaftlichen Ziel machen, | |
zugleich innovativ und inklusiv? | |
## Perfomativer Widerspruch | |
Die Grünen haben Angst davor, die grundlegenden Fragen offen zu stellen, | |
genauso wie die SPD sich scheut, den [2][Green New Deal] zum Thema zu | |
machen, der doch eigentlich so ein eindeutig sozialdemokratisches Projekt | |
wäre, die Neuerfindung des Staates in der ökologisch-ökonomischen Krise, | |
nicht mit Panik, sondern mit Plan. | |
Aber etwas hält sie zurück. Etwas hält sie gefangen in der Rationalität der | |
Apparate, und ich weiß mittlerweile gar nicht mehr so genau, ob das | |
Menschliche hier noch so sehr zu trennen ist von der Macht der | |
Institutionen über die Menschen. Es ist ein schwieriges Verhältnis, und | |
gerade in revolutionären Zeiten wie diesen, in Epochen des Umbruchs, | |
vertrauen viele dem, von dem sie wissen, dass es nicht nur nicht | |
funktioniert, sondern sie gerade in diese Sackgasse gebracht hat, sei es | |
die Parteistruktur oder das Wirtschaftssystem in dieser Form. | |
Dieser performative Widerspruch durchzieht das Gefüge dieser Zeit, und | |
Bewegungen wie Fridays for Future oder [3][Extinction Rebellion] erhalten | |
gerade dadurch ihre Bedeutung, dass sich Veränderungshoffnungen oder auch | |
-praktiken hier üben lassen. | |
Weil nun aber die Zeiten so sind, wie sie sind, wird diese Art von Kritik | |
an den bestehenden Zuständen von manchen stigmatisiert. Es wird davor | |
gewarnt, dass man nicht das, was noch besteht, gefährden dürfe – ich | |
verstehe diesen Impuls, halte ihn aber für falsch und wiederum gefährlich, | |
weil damit das Veränderungspotenzial vergeudet wird und die Mängel des | |
Bestehenden, die zum Teil genau zu dieser Situation der demokratischen | |
Legitimationskrise geführt haben, als etwas gesehen werden, das zu schützen | |
sei. | |
## Experimentell, jung, möglichst digital und analog zugleich | |
Das ist die Argumentation der Zentristen, die von „Populismus“ reden als | |
einer Bedrohung des Systems von links und von rechts, was vor allem dazu | |
führt, den Blick genau von diesem System abzulenken. Das ist die | |
Argumentation von Teilen der Linken, die nicht weniger | |
veränderungsresistent oder prozess- und institutionengläubig sind als ihre | |
politischen Gegner. Es ist die Argumentation der angeblichen Rationalität | |
und der Ratlosigkeit, und das Gegenteil davon ist eben nicht | |
Irrationalität. Es ist Aufbruch. | |
Ich glaube, dass man die bestehenden Institutionen am besten dadurch | |
verändert, dass man gleichzeitig von innen heraus daran arbeitet – aber vor | |
allem parallel dazu von außen neue Institutionen aufbaut, experimentell, | |
jung, möglichst digital und analog zugleich, so wie etwa Momentum, das im | |
Verhältnis zur britischen Labour-Partei die Funktion, wie der Name schon | |
sagt, des Antriebs hat, der Veränderung, des Neuen. | |
Es ist die Frage des Übergangs vom Alten zum Neuen, hat neulich ein | |
schlauer Mensch zu mir gesagt, das ist die Herausforderung; mehr Chance als | |
Gefahr, auch wenn es oft anders wirkt. | |
8 Nov 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Soeders-Aengste-vor-den-Gruenen/!5635168 | |
[2] /US-Linke-praesentieren-Green-New-Deal/!5571582 | |
[3] /Wie-Extinction-Rebellion-funktioniert/!5633219 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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