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# taz.de -- Im Südtiroler Ultental: Die Natur als Hochschule
> Eine junge Generation in der Hotelerie und Landwirtschaft führt Erprobtes
> neu durchdacht weiter. Befeuert werden ihre Ideen von der Winterschule.
Bild: Auf der Schwemmalm im Ultental
Steile Hänge, Almen und Magerwiesen. Akelei, Alpendistel, Fettkraut,
Glockenblumen, Grasnelke und Hahnenfuß – eine Blumenvielfalt, die fast in
Vergessenheit geraten ist. Handgeflochtene Lärchenzäune, Häuser und Dächer
in traditioneller Holzbauweise. Das Ultental mit seinen bewaldeten Hängen
ist eines der urtümlichsten Täler Südtirols. 1.000 gewerbliche Gästebetten,
bei 4.000 Einwohnern. Im Winter nur wenig los. Die Almhütten servieren
Null-Kilometer-Menüs mit lokalen Produkten. Bauern bewirtschaften ihre
Almen so wie schon die Generationen davor. Vor allem aber gibt es ein
wachsendes Bewusstsein im Ultental über die natürlichen Kreisläufe und die
Verletzbarkeit der Natur.
Der Hotelier Gunther Holzner schätzt diesen „Standortvorteil“. Er hat 2001
das Chalethotel Waltershof von seinen Eltern übernommen, ausgebaut,
modernisiert, verfeinert. Das handgearbeitete Schafwollkissen mit
Gemsenmotiv aus regionaler Produktion ziert die knallig-rosa Chaiselongue,
der Couchtisch ein Holzpflock – das Hotel ist ein Holzbau mit edlen
Holzfußböden, modernen Möbeln und Alpenzitaten. Ein gut funktionierendes
Familienhotel. Wiederkehrerquote: 60 bis 70 Prozent. Evi Holzner, die
aparte Mutter, macht als Repräsentantin des Hauses und Wanderführerin
weiterhin Staat. „Man muss schon abgeben können“, sagt die agile
75-Jährige, die das Hotel in den siebziger Jahren zusammen mit ihrem ersten
Mann im stillen Ultental aufgebaut hat.
Ihr Sohn Gunther Holzner war erfolgreicher Skirennläufer, davon zeugen
zahlreiche Pokale. Nach einer Verletzung übernahm er 2001 zusammen mit
seiner Frau Victoria – einer Physiotherapeutin, zuständig für den
Wellnessbereich – das Familienhotel. Und er verschrieb sich ganz seiner
zweiten Leidenschaft, dem Kochen.
## Bodenständige, heimatliebende Leute
„Wir kochen und kaufen regional, was geht“, erzählt Gunther Holzner bei
Beereneis mit Mohnkrapfen. Im Sommer kämen viele italienische Gäste,
Südtiroler, „weil das Ultental als eines der ursprünglichsten Täler gilt,
wo die Bauernhöfe noch funktionieren. Die Menschen hier sind mit wenig
zufrieden. Bodenständige, verbundene, heimatliebende Leute.“
Zum Beispiel der Untertheisenhof. Die eigene Lebensweise zu gestalten, wie
man möchte, die eigenen Produkte ernten, diese Freiheiten sind der jungen
Bäuerin Elisabeth Kuppelwieser wichtig, wenn es um ihre Arbeit am
elterlichen Untertheisenhof in St. Nikolaus/Ulten geht. Den Hof
bewirtschaftet sie gemeinsam mit ihrem Partner Andreas Mairhofer,
hauptberuflich Bauingenieur und Baubiologe.
Nachdem der Untertheisenhof 2010 bei einem Brand zerstört wurde, errichtete
das Paar die Hofstelle mit Wohnhaus, Stall und Stadel neu, mit
mondgeschlägertem eigenem Holz nach baubiologischen Richtlinien. Auch
andere Neuerungen haben sie eingeführt. Mehr Ackerbau, weniger
Milchkuhhaltung. Sie bewirtschaften rund 2 Hektar Acker mit Kartoffeln,
verschiedenem Getreide, Hanf und Mohn und betreiben dazu auch
Viehwirtschaft mit Mutterkühen, Schweinen und Hühnern, ganz im Sinn der
biologisch-organischen Kreislaufwirtschaft.
Die eigenen erzeugten Produkte am Hof zu veredeln und eine eigene
Produktionskette umzusetzen ist das Ziel, also vom Hanfanbau bis hin zur
Stoffherstellung. Kenntnisse über Permakultur und biologische
Landwirtschaft hat der Bauingenieur Andreas in der Ultener Winterschule
erlernt. Eine Ultner Institution, weit über Südtirol hinaus.
## Kräuterfrau und Aktivistin
Waltraud Schwienbacher ist die charismatische Gründerin der Schule,
Aktivistin und Kräuterfrau des Tales. „Die Natur ist die höchste
Hochschule, die wir besuchen können“, sagt die 75-Jährige. „Weil es aber
gratis ist und für jeden zugänglich, nutzt man es viel zu wenig.“ Waltraud
Schwienbacher ist eine stattliche Frau: Die grauen langen Haare straff zum
Dutt gebunden, ein langes, naturfarbenes Wollkleid, das sie trotz Hitze
trägt. „Wolle funktioniert wie eine kleine Klimaanlage. Sie gleicht Wärme
und Kälte aus wie keine andere Faser,“ sagt sie im Garten ihres Hofes, dem
Wegleithof in Walburg.
Bereits 1990 begründete die Südtiroler Vordenkerin mit Gleichgesinnten das
Projekt „Lebenswertes Ulten“. Ausgehend von der Erkenntnis, dass für die
Bergbauernhöfe nur der Erlös für Milch, Fleisch, Holz und Wolle auf lange
Sicht keine lohnenswerte Perspektive ist: „Man verdient nur auf die
Veredelung“, sagt Schwienbacher, „denn die Rohstoffe müssen wir fast
verschenken.
Das Geld damit machen andere.“Dazu kam, dass viele junge Leute wegen der
Arbeit vom Tal in die Städte zogen. Dem Abwanderungstrend wollten sie
gegensteuern, fest davon überzeugt, dass auch das Ultental attraktive
Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten bietet. Die von ihr initiierte Ultener
Winterschule sollte die Achtsamkeit gegenüber der Natur und die Freude am
kreativen Gestalten fördern, überliefertes Wissen weitergeben und dieses
mit aktuellen Erkenntnissen verknüpfen.
Ihr Credo: „So können wir nicht weitermachen! Wir müssen die natürlichen
Kreisläufe achten.“ Waltraud Schwienbacher ist bodenständig, zäh,
selbstbewusst, aktiv, visionär. Es freut sie, „dass nun weltweit für
Klimaschutz demonstriert wird“. Doch der Prophet zählt nichts im eigenen
Land. „Ich wurde ausgelacht und verspottet, am nächsten Tag habe ich
weitergemacht. Ich vertue nicht meine Energie mit dem Negativen. Ich sehe
wieder die Fülle, die Natur und das, was man aus der Natur machen kann“,
erinnert sie sich.
## Die Winterschule
Im ersten Jahr zählte die Winterschule bescheidene 20 Teilnehmer.
Zwischenzeitlich sind es 480. Weit über 1.000 könnten es sein, wenn man
alle Anfragen berücksichtigen würde. Die Schule hat einen ausgezeichneten
Ruf, der auf ganz Südtirol und die benachbarten Länder ausstrahlt. In den
verschiedensten Bereichen bietet die Schule eine Fachausbildung, die sich
über drei Jahre erstreckt und in erster Linie an Wochenenden stattfindet.
Schwerpunkte sind die Bereiche Holz und Textilien. Flechten, Filzen,
Klöppeln und vieles mehr: Die Kursteilnehmer können alte Handwerke
erlernen, die in keiner Schule mehr auf dem Lehrplan stehen. Großen Zulauf
hat auch die alpine Kräuterkunde.
Schwienbachers Tochter Franziska ist als Leiterin der Schule in die
Fußstapfen der Mutter getreten. „Die Teilnehmer der Schule sind ganz
unterschiedlich: Ärzte, Journalisten, Krankenschwestern,eine Architektin
aus Bozen oder die Designerin aus München, bunt gemischt. Jeder bringt aus
seinem Berufsleben etwas mit“, sagt die studierte Biologin. „Freundschaften
knüpfen, mit den Händen arbeiten, in Kontakt mit der Natur kommen – all
dies schätzen die Teilnehmer der Winterschule.“
Die Schule ist eine öffentlich Einrichtung, eine Trägergemeinschaft. Die
Provinz Bozen finanziert die Kurse zu 60 Prozent. Die Gemeinde Ulten stellt
die Gebäude zur Verfügung. Die Ausbildung wird anerkannt, die Kursgebühren
sind moderat. „Wir wollen die Schule für Geringverdienende offen halten.
Sie soll für jeden zugänglich sein“, sagt Franziska Schwienbacher.
Sie betreut auch den Kräutergarten auf dem Wegleithof, der seit über 350
Jahren im Besitz der Familie ist. Der Bau eines umstrittenen Stausees im
Tal war für die Familie ein Wendepunkt: 28 Höfe verschwanden unter dem
Wasser, ihre Eltern verloren neben Haus und Scheune 9 Hektar Kulturgrund.
Was blieb, waren knapp dreiviertel Hektar Ackerland und 20 Hektar Wald.
„Sie wollten aber unbedingt Bauern bleiben“, erzählt Franziska, „aber bei
so wenig Grund mussten wir an einen Zuerwerb denken.“
Und dafür sollten Kräuter die Grundlage sein: Wildkräuter aus den Wäldern
und von den Bergwiesen der Umgebung sowie biologischer und nachhaltiger
Anbau und Verarbeitung. Heute betreibt Franziska auf dem Hof mit Blick auf
den Stausee im Tal einen kleinen Laden, wo die Produkte des Gartens
verkauft werden: Tee, Kosmetik, Selbstgemachtes.
## Wolle von „Bergauf“
Selbstentworfenes findet man auch in der Wollmanufaktur „Bergauf“ in St.
Walburg im Ultental: Pantoffeln, Tischsets, Kleider. Die
Sozialgenossenschaft wurde gegründet, um den heimischen Rohstoff
Schafswolle zu veredeln. „Zweimal im Jahr, im Herbst und im Frühling,
werden zwischen 500 und 600 Kilogramm Schafwolle gesammelt. Im Gegenzug
erhalten die Bauern Gutscheine, die sie im Geschäft von Bergauf einlösen
können. Ein fairer Tausch, finden die Partner, denn würden sie die
Schafwolle hier nicht abgeben können, müsste sie entsorgt werden“, sagt
Wolfgang Raffeiner, Präsident der Genossenschaft und Nachfolger von
Waltraud Schwienbacher, der Mitinitiatorin. Der Spitzname Wollwolf passt
gut zu dem großen Wolfgang Raffeiner mit struppigem Vollbart.Vor allem
Frauen arbeiten hier, oft Teilzeit.
Sie entwerfen, schneiden, nähen oder stehen an den Oldtimermaschinen der
Marke Trützschler-Hergeth-Sächsische Textilmaschinenfabrik.
„Sozialgenossenschaftlich produzierte Manufakte sind ein Kaufentscheid mit
Mehrwert“, sagt Raffeiner. Südtirol blicke auf eine lange Entwicklung von
Sozialgenossenschaften zurück. Doch oft werde der volkswirtschaftliche
Nutzen von der Bevölkerung nicht erkannt. Öfters werden sie als
Beitragsempfänger des Landes oder als private Interessenbetriebe gesehen.
Die Wertschöpfungskette, die Sozialgenossenschaften erwirtschaften, werde
kaum wahrgenommen.
„Es gibt zu wenig Lobbyisten und es fehlt an zeitgemäßen Imagekampagnen“,
sagt Raffeiner. Nötig sei neues Verantwortungsbewusstsein von Bürgern und
dem Land. Und mehr Touristen, die an der Manufaktur an der
Durchfahrtstraße zur Talstation anhalten und damit unterstützen, dass
Schafwolle zu Socken, Jacken, Handschuhen wird, statt auf der Müllhalde zu
landen.
23 Sep 2019
## AUTOREN
Edith Kresta
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