# taz.de -- Musikfestival in den Dolomiten: Klang der Bergwelt | |
> Im Sommer findet in den Dolomiten ein Musikfestival statt. Dort gibt es | |
> zum Beispiel ein Konzert in e-Moll von Antonio Vivaldi auf 3.000 Meter | |
> Höhe. | |
Bild: Blick auf den Dolomiten-Pass di Gau | |
Morgens, 3 Uhr 30. Der Wecker klingelt. Es ist dunkle Nacht draußen. Sogar | |
die Vögel schlafen noch. Ein paar Tausend Frühaufsteher quälen sich aus den | |
Betten und werden von ihren Gastwirten mit Kaffee und Croissants | |
überrascht. Wenig später herrscht an der Gondel Hochbetrieb wie mitten im | |
Winter. Aber die Besucher tragen weder Helme noch Skier, sondern warme | |
Decken, Isomatten und Thermoskannen. | |
Fast 3.000 Urlauber sind freiwillig mitten in der Nacht aufgestanden. Sie | |
wollen auf den Berg, um bei Sonnenaufgang ein klassisches Konzert zu hören. | |
Die Künstler Mario Brunetti, Dave Douglas und vier weitere Musiker tragen | |
ihre schweren Kontrabässe auf dem Rücken. Ihre Frauen schleppen die | |
schlafenden Kinder nach oben. Trotz der vielen Menschen ist es still. Nur | |
die Gondel macht klack-klack, klack-klack. | |
Oben angekommen stockt einem der Atem: Es dämmert gerade und die Bergketten | |
am Horizont zeichnen in unterschiedlichen Blau-und Grautönen. Wie eine | |
Karawane wandern Musiker und Publikum den Pfad etwa zwei Kilometer abwärts, | |
wo die Bühne aufgestellt ist. In den Felsen lagern bereits Hunderte, zum | |
Teil in Schlafsäcken, teils in Decken Eingemummelte und trinken Tee oder | |
Kaffee aus ihren Thermosflaschen. Die Luft ist glasklar, Boden und Fels | |
sind kalt. Auch wenn es tagsüber heiß werden kann in den Bergen – nachts | |
kühlt es bis auf unter 10 Grad ab. Langsam färbt sich der Himmel rot. Die | |
Musiker stimmen ihre Instrumente. Auch das, was da in der Luft schwingt, | |
zwischen den erwartungsvollen Besuchern, der Stille des Morgens und der | |
rötlichen Färbung des Himmels: Es ist eine ganz besondere Stimmung. | |
Auf 3.000 Meter Höhe lässt der Blick auf dieses Urgestein manches Problem | |
schlagartig zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen. Unglaublich, dass das hier | |
alles ein Meer war und die Spitzen der Dolomiten Riffe im Wasser! Es | |
dauerte 280 Millionen Jahre, bis dieses Gestein auf dem Meeresboden | |
entstehen konnte. Korallen, Kalkalgen und Muscheln hatten ihren Anteil | |
daran. Vor 80 Millionen Jahren schob sich die afrikanische | |
Kontinentalplatte gegen die eurasische und die Erde faltete sich auf. | |
Korallenriffe und Meeresboden tauchten auf: die Dolomiten. Irgendwie ist es | |
sehr beruhigend zu wissen, wie viel Zeit und welche Naturgewalten diese | |
Felsen geformt haben. | |
## Zu Fuß zurück ins Tal | |
Inzwischen ist die gesamte Bergkulisse in warmes Rot getaucht. Die Sonne | |
geht gerade auf. Die Musiker sind bereit, leise setzen Geigen und | |
Kontrabässe ein. Und dann beginnt das Konzert e-Moll, Antonio Vivaldi. | |
Resonanz und Gänsehaut. Gegen neun geht das Konzert unter tobendem Applaus | |
zu Ende. Murmeltiere pfeifen und flüchten verschreckt in ihre Erdlöcher. | |
Zuschauer falten ihre Decken, packen den Rucksack. | |
Zurück ins Tal geht es per Gondel oder zu Fuß. Der Schäferweg führt auf | |
schmalen Pfaden bergab, bergauf, durch duftende Wiesen und vorbei an Kühen | |
und Ziegen. Gegen Mittag ein zünftiges Bergessen und eine prickelnde | |
Schorle. Das Leben kann so einfach sein. | |
Am nächsten Tag treffe ich Alice, Mitte zwanzig, langes Haar, | |
Sommersprossen. Sie spricht Ladinisch, also ist sie so etwas wie eine | |
„Eingeborene“. Das Val di Fassa war dank seiner hohen Gipfel und der | |
unwegsamen Pässe vor den Angriffen von außen geschützt. Deshalb hat es über | |
zwei Jahrtausende seine Sprache bewahrt. Allerdings hat nicht nur jedes Tal | |
sein eigenes Ladinisch. „Es gibt das aus dem oberen, mittleren oder unteren | |
Fassatal“, sagt Alice. Wer es lernen will, muss sich also entscheiden. | |
30.000 Einwohner können sich nicht auf eine Sprache einigen. | |
Traditionsbewusst sind sie. Es gibt Rituale, um böse Geister zu | |
besänftigen, und andere, die bei Laune halten. Kein Wunder: In einer | |
Umgebung wo plötzlicher Hagel die Ernte zerstören kann, wo Erdrutsche ganze | |
Dörfer unter sich begraben und wo Gewitter die Erde erzittern lassen, da | |
ist der Glaube an Hexen und Geister nicht weit. Und so erzählen sich die | |
Ladiner noch heute Märchen und Sagen aus dem Val die Vassa. | |
## Absolut heimatverbunden | |
Wir kehren ein bei Bildhauer Rinaldo Cigolla. Der ist über achtzig, | |
kariertes Hemd, eindrucksvoller Backenbart. Rinaldo arbeitet in seinem | |
Atelier. Spricht ladinisch, Alice übersetzt. „Der Blick aus dem Fenster auf | |
die Berge“, sagt er, „gibt mir Kraft. Was immer in der Welt geschieht, es | |
macht mir keine Angst. Ich bin komplett sorglos“, sagt Rinaldo. | |
„Und wenn man dir eine große Villa und viel Geld verspräche, irgendwo | |
anders auf der Welt, wo es auch schön ist? Würdest du das annehmen?“, frage | |
ich. „Nein, niemals. Niemals.“ Sagt Rinaldo im Brustton der Überzeugung und | |
wendet sich wieder seiner Schnitzarbeit zu. | |
Weiter geht die Wanderung über einen Höhenweg zur Alm Sasso Piatto. Drei | |
Stunden. Dann sitzen, Schuhe aufmachen, Beine ausstrecken. Hunger. Speck | |
und Käse, Brot und frische Butter. Lecker. Alles selbst gemacht. Milch von | |
glücklichen Kühen und Ziegen. Glöckchen läuten. Ein Murmeltier pfeift. | |
Ansonsten Stille. Schauen. Herrlich. | |
Wie Zacken, wie Fontänen aus Stein ragen die Felsen aus den sattgrünen | |
Wiesen empor. In ganz Südtirol und dem Trentino tauchen Dolomitengruppen | |
mit ihren Zinnen und Gipfeln auf wie Felsinseln. Sie haben klangvolle Namen | |
wie Lankofel, Plattkofel, Latemar, Sella, Marmolada und Civetta. Und sie | |
verändern ihre Farbe je nach Tageszeit, Wetter und Licht. Die Dolomiten | |
gelten seit 2009 als Unesco-Weltnaturerbe und zählen zu den fünfzig | |
schönsten Landschaften Europas. | |
Ihren Namen haben sie von Déodat Guy Sylvain Tancrède Gratet de Dolomieu, | |
ein Glück: in abgekürzter Form. Der kleine Mann mit dem langen Namen war | |
Geologe aus Frankreich und entdeckte im 18. Jahrhundert im Trentino eine | |
„merkwürdige Gesteinsart, die wie Kalk aussieht, aber kein Kalk ist“. Und | |
schon wurde die Gesteinsart Dolomia getauft, und die Berge erhielten den | |
Namen „Dolomiten“. | |
Karl von der Alm Sasso Piatto, große Hände, starke Arme, dunkelblaue | |
Schürze, hat inzwischen frischen Beerenstrudel mit Sahne serviert. | |
Selbstgemacht. Selbstredend. Karl kommt seit zehn Jahren im Sommer, um die | |
Alm zu bewirtschaften. „Wer das Leben auf der Alm mag, kann nicht mehr | |
davon lassen“, sagt er. Die Alm macht süchtig. Karl hat 400 Schafe, 20 | |
Rinder, 70 Ziegen, 5 Schweine, 10 Pferde und 10 Milchkühe. Hilfe! Das hört | |
sich nach ziemlich viel Arbeit an. | |
Um 4 Uhr30 steht er auf und um 21 Uhr geht er schlafen. Kein Fernsehen, | |
kein Internet, nichts. Manchmal, erzählt Karl, kommen auch Städter und | |
wollen auf der Alm arbeiten. Gratis. Sie bezahlen sogar dafür. Ist eine Art | |
Mode geworden. Alm statt Therapie. „Der Psychiater kostet viel Geld. Und | |
auf der Alm ist die Gesundheit umsonst.“ Klatscht freudvoll in die Hände, | |
lacht dröhnend, steht auf und geht rüber zum Steinofen. Brot backen. | |
30 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Gitti Müller | |
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