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# taz.de -- Lebensmittelverschwendung bei Erdbeeren: Weggeworfen, weil „zu h�…
> Viele Erdbeeren verfaulen auf dem Feld. Denn dem Handel sind sie nicht
> schön genug, und als Zutat für Joghurt sind sie teurer als Ware etwa aus
> Polen.
Bild: Haben es schwer, sich zu behaupten: Erdbeeren
Berlin taz | Es gibt Jahre, in denen muss Bauer Sepp Keil kiloweise
Erdbeeren auf dem Feld verfaulen lassen. „Manchmal werden am Tag 150 statt
15 Kisten reif“, erzählt der Bio-Landwirt aus dem bayerischen Kehlheim an
der Donau. „So viele werde ich nicht los.“ Er würde sie gern einfrieren und
dann an Joghurt- oder Marmeladenhersteller verkaufen. Genauso wie die
Erdbeeren, die zu klein oder schief gewachsen sind. „Aber der Frostmarkt
ist zu niedrigpreisig. Da lohnt sich nicht das Pflücken und der Aufwand,
das zu frosten. Dann lässt man die Erdbeeren einfach hängen“, sagt Keil.
„Die verfaulen dann.“
Nicht nur Keil geht das so. Deutsche Bauern entsorgen aus wirtschaftlichen
Gründen jährlich im Schnitt 10 bis 15 Prozent der genießbaren Erdbeeren.
Diese bisher unveröffentlichte Schätzung teilt das bundeseigene
Thünen-Agrarforschungsinstitut auf Anfrage mit. Nach einer Hochrechnung der
taz auf Grundlage der [1][Erntemenge im vergangenen Jahr] entspricht der
Anteil ungefähr 14.000 bis 21.000 Tonnen. Das sind so viele Erdbeeren, wie
4 bis 6 Millionen [2][Durchschnittsverbraucher] in Deutschland jährlich
essen. Solche Früchte würden kompostiert oder untergepflügt, sagt
Gartenbauingenieurin Sabine Ludwig-Ohm, die für das Institut über
Lebensmittelverluste bei Obst und Gemüse geforscht hat.
„Viele dieser Erdbeeren gelten für den Verkauf als Frischware im
Lebensmitteleinzelhandel als nicht schön genug“, ergänzt Ludwig-Ohm.
Weitere Früchte müssten entsorgt werden, wenn im Sommer mehr Erdbeeren
gleichzeitig reif als nachgefragt würden.
Theoretisch könnte das Obst mit optischen Mängeln oder der Überschuss
eingefroren und etwa zu Konfitüre verarbeitet werden. „Aber die Preise für
Verarbeitungsware liegen vielfach unter den Erntekosten in Deutschland“,
erläutert die Wissenschaftlerin. Das Thünen-Institut hat für ein
Forschungsprojekt über Lebensmittelverschwendung 25 Firmen befragt, die
Erdbeeren anbauen.
## 4 Prozent des deutschen Ausstoßes an Treibhausgasen
Jährlich werden in Deutschland – je nach Studie – 11 bis 18 Millionen
Tonnen Lebensmittel produziert, aber nicht gegessen. Das obere Ende der
Spanne entspricht der Umweltorganisation WWF zufolge fast [3][einem Drittel
des Nahrungsmittelverbrauchs]. Gleichzeitig [4][hungern weltweit 820
Millionen Menschen]. Um die nicht verbrauchten Lebensmittel zu erzeugen,
werden unnötig Ressourcen wie Boden, Wasser und Energie beansprucht. Die
durch Lebensmittelverluste verursachten Treibhausgasemissionen betragen
laut Umweltbundesamt circa [5][4 Prozent des gesamten deutschen Ausstoßes].
„Dass gutes Obst und Gemüse wegen irrer Normen und unmoralischem
Preisdumping weggeworfen wird, bevor es im Laden landet, ist geschmacklos“,
sagt Anton Hofreiter, Ko-Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion.
Ein Grund sind die [6][Vermarktungsnormen der EU]. Sie schreiben zum
Beispiel vor, dass frische Erdbeeren für den Verkauf durch Händler an
Verbraucher mindestens 18 Millimeter groß sein müssen, Früchte der
Kategorie „Extra“ sogar 25. „Erdbeeren der Handelsklasse II sind
konventionell kaum noch zu vermarkten, es geht fast nur noch I oder Extra“,
sagt Forscherin Ludwig-Ohm.
## Lidl will oft nur Riesenerdbeeren
Die Supermärkte machen es sogar noch schlimmer: „Die heutigen Standards des
Lebensmitteleinzelhandels sind viel höher als die EU-Vermarktungsnorm. Seit
einem Jahr verlangt ein Discounter sogar 30 Millimeter große Erdbeeren“,
berichtet die Gartenbauingenieurin. Tatsächlich räumt Lidl in einer E-Mail
an die taz ein, dass die Kette den Standard auf 30 Millimeter anhebt, „wenn
die Saison es zulässt“. Falls die Händler toleranter wären, was etwa Grö�…
Farbe und Form von Erdbeeren angehe, ließen sich „größere Mengen“
Lebensmittelverluste einsparen, so Luwdig-Ohm.
Aber das kann dauern. Und es wird immer Ausschussware geben, die für
Tafelobst zu krumm ist. Doch Bauern in Deutschland kostet es zu viel, diese
Erdbeeren beispielsweise für Konfitüren, Fruchtjoghurt oder Speiseeis zu
pflücken. „Das können wir nicht mehr. Das kann die Ukraine und die Polen
und Spanien. Die dürfen auch Leute beschäftigen, die für viel, viel weniger
Geld arbeiten“, sagt Joerg Hilbers, Geschäftsführer der Fachgruppe Obstbau,
dem Verband der meisten Erzeuger. Deshalb kämen Erdbeeren für die
Verarbeitung „im wesentlichen aus dem Ausland“.
## Auch Bio ist betroffen
Tatsächlich würden tiefgekühlte Erdbeeren aus der Türkei beispielsweise für
1,85 Euro pro Kilogramm angeboten, berichtet Peter Rolker. Er ist der
Spezialist für Verarbeitungsware bei Rolker Ökofrucht, einem der größten
Händler von Obst mit Siegeln der Bioverbände, der immer wieder auch
Angebote für konventionelle Ware bekommt. Deutsche Erzeuger müssten
mindestens 2 Euro nehmen.
Der Biomarkt akzeptiert laut Thünen-Institut etwas mehr Erdbeeren mit
vermeintlichen Makeln, aber auch hier kommt die meiste Verarbeitungsware
aus Billiglohnländern. Der Anteil betrage etwa 95 Prozent, sagt Rolker.
Deshalb müssen auch Biohöfe immer wieder genießbares Obst entsorgen.
## Bio-Joghurts mit Beeren aus Polen
Die Molkerei Söbbeke, einer der größten deutschen Bio-Joghurthersteller,
etwa teilte der taz mit: „Wir setzen aktuell Erdbeeren aus Polen in unseren
Produkten ein.“ Die Andechser Molkerei Scheitz erklärte, beispielsweise
Erdbeeren, Heidelbeeren, Himbeeren und Kirschen für ihre Joghurte kämen
„aus Europa“.
Beide Molkereien nutzen das Siegel des größten Deutschen
Ökobauernverbandes, Bioland. Dessen Standard ist strenger als das
gesetzliche EU-Bio-Siegel: Bioland erlaubt zum Beispiel weniger potentiell
umweltschädlichen Dünger. Außerdem müssen die Zutaten anders als beim
EU-Siegel grundsätzlich aus Deutschland oder Südtirol kommen.
## Versteckte Herkunft
Dass trotzdem EU-Bio-Erdbeeren aus Polen in Bioland-Joghurten stecken, wird
auf den Verpackungen gut versteckt. Prominent ist dagegen das Bioland-Logo
zu sehen.
Söbbeke und Andechser sind keine Einzelfälle. Laut Milchindustrie-Verband
wird den meisten Fruchtjoghurts das Obst in Form von „Fruchtzubereitungen“
beigemischt. Auf dem Bioland-[7][Merkblatt „Fruchtzubereitungen, -muse,
-konfitüren“] etwa für Molkereien mit dem Siegel des Verbands heißt es
aber, dass „aktuell das Angebot an Bioland-Fruchtzubereitungen kaum
vorhanden ist“.
## Bioland-Erdbeerjoghurte ohne Bioland-Beeren
Die Bioland-Pressestelle räumte auf taz-Anfrage ein: „Bioland-Erzeuger
produzieren Erdbeeren überwiegend für den Frischmarkt.“ Deshalb werde „ein
großer Teil der Erdbeer-Joghurts mit Früchten der anderen Verbände und/oder
EU-Bio-Erdbeeren hergestellt“. In Wirklichkeit sind es sogar die meisten,
denn es gibt eben laut dem Bioland-Merkblatt kaum Fruchtzubereitungen mit
dem Siegel der Organisation. Bioland dementiert das auch auf Nachfrage
nicht.
Die Richtlinien der Organisation erlauben Ausnahmegenehmigungen für solche
„Fremdzutaten“, wenn Bioland-Ware nicht „[8][in ausreichender Menge
und/oder Qualität verfügbar]“ ist. Das bedeutet: Ein Erdbeer-Joghurt kann
sogar dann als Bioland-Produkt verkauft werden, wenn er keine einzige
Bioland-Erdbeere enthält.
## Händler fordert Quote für deutsche Zutaten
Aber sind wirklich zu wenig Bioland-Erdbeeren für Marmeladen und Joghurte
auf dem Markt? Händler Peter Rolker antwortet „Natürlich gäbe es genügend
Bioland-Ware, wenn die Preise kostendeckend wären.“ Die nötige Menge und
Qualität könne sich gar nicht entwickeln, weil Bioland mit seinen
Ausnahmegenehmigungen für die Billigimporte die Preise kaputtmache. Bei
anderen Beeren sowie Kirschen und Pflaumen ist die Lage Rolker zufolge
ähnlich. Der Markt für Verarbeitungsäpfel drohe gerade zu kippen.
Rolker fordert deshalb, dass Bioland den Obstverarbeitern eine Mindestquote
für Ware von Erzeugern des Verbands vorschreibt. Bioland teilte der taz
mit, dass es in der Organisation „Überlegungen zu Quotenregelungen“ gebe.
Nur erlassen werden sie seit Jahren eben nicht. Bioland bestritt sogar,
dass seine Bauern „genießbare Erdbeeren“ entsorgen müssten. Doch das
Beispiel von Bauer Keil aus Kehlheim straft diese Behauptung Lügen: Er ist
selbst Bioland-Mitglied.
## Bauernverband findet es richtig, Beeren unterzupflügen
Von Bioland können die deutschen Bauern also kaum Hilfe erwarten. Das gilt
auch für die Erzeugerlobby Fachgruppe Obstbau. Geschäftsführer Hilbers sagt
der taz: „Wenn in Deutschland ein Erdbeeracker umgepflügt wird, weil es
überall zu heiß wird, dann ist das nichts Schlimmes“. Wenn Lidl es schaffe,
„den Erdbeerkonsum in schwierigen Zeiten anzukurbeln und einen
Qualitätsstandard setzt, dann ist das gut und dann müssen wir Sorten
machen, die 30-Millimeter-Erdbeeren halten. Und dann ist das ethisch völlig
in Ordnung.“ Es sei richtig, zum Beispiel zu kleine Erdbeeren
unterzupflügen.
Wirklich weh tue den Bauern dagegen, „die richtig schönen Erdbeeren“ zu
vernichten, weil „da ein Bus voll Rumänen zugesagt hat, dass er kommt und
die kommen nicht und dann wird es heiß und die kommen immer noch nicht und
dann hört man: Der Bus ist nach Stuttgart gefahren zu einem Bauunternehmer,
der hat den Vermittler bestochen, die kriegen das doppelte“. Es sei nicht
sinnvoll, die Qualitätsansprüche des Verbrauchers zu verändern. „Wir sehen
nicht den Weg darin, schlechtere Früchte vermarktungsfähig zu machen.“
Grünen-Fraktionschef Hofreiter dagegen fordert:
„Schönheitsideal-Anforderungen der Supermarktketten und EU-Handelsnormen
müssen dringend überarbeitet werden“. Große Supermärkte sollten auch
verpflichtet werden, essbare Lebensmittel-Reste kostenlos zur Verfügung zu
stellen. „Die Erfahrungen aus Frankreich zeigen, dass dies möglich ist“, so
Hofreiter. Zudem verlangt der Grüne, per Gesetz Branchen vorzuschreiben, um
wie viel sie den Lebensmittelabfall reduzieren müssen.
23 Sep 2019
## LINKS
[1] https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirtschaft-Forst…
[2] https://www.bmel-statistik.de/fileadmin/daten/SJT-4040800-0000.xlsx
[3] https://www.wwf.de/2019/februar/bewegung-in-der-tonne/
[4] http://www.fao.org/state-of-food-security-nutrition/en/
[5] https://www.umweltbundesamt.de/publikationen/dokumentation-fachforum-2017
[6] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A32011R0543
[7] https://www.bioland.de/fileadmin/dateien/HP_Dokumente/Richtlinien/Merkblatt…
[8] https://www.bioland.de/fileadmin/dateien/HP_Dokumente/Richtlinien/Bioland_R…
## AUTOREN
Jost Maurin
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