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# taz.de -- Defizitverfahren gegen Spanien: Ein Ende mit Schrecken
> Die EU stellt nach zehn Jahren das Defizitverfahren gegen Spanien ein.
> Der soziale Kahlschlag war für die Bevölkerung verheerend.
Bild: Ein protestierender Mitarbeiter des Essenslieferservice Glovo in Barcelon…
Madrid taz | Fahrradkuriere des Essenzustellers Glovo protestieren im
Zentrum von Barcelona gegen ihre Arbeitsbedingungen. Sie verbrennen
Rucksäcke, nachdem einer ihrer Kollegen tödlich verunglückt ist. Ihre
Kollegen von Deliveroo ziehen zu Hunderten gegen die
Scheinselbstständigkeit vor Gericht.
Vorschullehrerinnen in Madrid [1][streiken] gegen Hungerlöhne. Taxifahrer
machen gegen die unlautere Konkurrenz von Uber und anderen mobil.
Gerichtsvollzieher räumen säumige Wohnungseigentümer und Mieter: So sieht
der Alltag in Spanien zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise aus.
Während die Wirtschaftspresse, die Großunternehmen und die Banken von
Erholung sprechen, gärt es unten. Am Freitag wird der Rat der
Wirtschaftsminister der Europäischen Union auf Anraten der EU-Kommission
wahrscheinlich das Ende des Defizitverfahrens beschließen. Damit ist das
letzte dieser Verfahren aus der Finanzkrise beendet, es lief gegen 24 der
27 EU-Staaten wegen zu hoher Neuverschuldung. Spanien hält wieder die
meisten Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts der EU ein. Das
Haushaltsdefizit lag 2018 mit 2,5 Prozent deutlich unter der
3-Prozent-Vorgabe aus Brüssel.
Grund zum Feiern? Nicht für die Gewerkschaften und Organisationen aus dem
Sozialbereich. 120 von ihnen sind im „Staatlichen Sozialgipfel“
zusammengeschlossen, sie sprechen von „einem verlorenen Jahrzehnt“. Die
Statistiken sprechen für sich. Die Armut stieg seit 2008 von 23,8 Prozent
der Haushalte auf 26,6 Prozent. 28,3 Prozent der Kinder leben in Armut oder
sind unmittelbar davon gefährdet. Im EU-Schnitt sind es nur 20,2 Prozent.
Damit ist Spanien die Nummer drei bei der Kinderarmut in Europa. Umfragen
zum Konsumverhalten zeigen, wie schlecht es vielen Haushalten geht. 2018
gaben 38,1 Prozent der Spanier an, dass sie keine Rücklagen für unerwartet
Ausgaben hätten. 34,4 Prozent fehlt das Geld, um für eine Woche im Jahr zu
verreisen. 2016 waren es 29,5 Prozent.
7,4 Prozent der Haushalte waren im Laufe des Jahres 2018 nicht in der Lage,
die Kreditraten, Mieten, Gas oder Strom rechtzeitig zu bezahlen. Die
Spanier haben in den zehn Jahren der Sparpolitik 7,1 Prozent ihrer
Kaufkraft verloren. War vor der Krise das Wort „Mileurista“ – derjenige,
der 1.000 Euro im Monat verdient – der Begriff für prekäre
Arbeitsverhältnisse schlechthin, sind heute 1.000 Euro ein guter Lohn.
Jeder dritte Spanier kann von seinem Lohn nicht leben. Die Rentenanpassung
wurde mehrere Jahre ausgesetzt. Schlimmer noch, die Rentenkasse ist nach
den Krisenjahren leer. Die soziale Schere geht immer weiter auf. 2006
verfügten 10 Prozent der reichsten Spanier über 10-mal so viel wie die
ärmsten 10 Prozent. 2017 waren es 15-mal so viel.
Laut einer Studie der Caritas-Stiftung Foessa sind heute 8,5 Millionen
Menschen, 18,4 Prozent der Bevölkerung, von sozialer Ausgrenzung betroffen.
Dies sind 1,2 Millionen mehr als 2007. Selbst diejenigen, die „die Chancen
des Beschäftigungswachstums genutzt haben (…) bleiben ohne Absicherung im
Falle eines neuen Rückschlags“, erklärt Foessa-Präsident Manuel Bretón.
„Die nächste Rezession wird sie mit wesentlich weniger Widerstandskraft
treffen.“
Daran sind nicht zuletzt zwei Reformen des Arbeitsmarkts schuld. Die eine
hat der ehemalige sozialistische Regierungschef José Luis Rodríguez
Zapatero verabschiedet, die andere dessen konservativer Nachfolger Mariano
Rajoy. Entlassungen sind leichter und vor allem billiger geworden. Knapp 30
Prozent aller spanischen Arbeitnehmer haben nur einen befristeten
Arbeitsvertrag. Davon hat mehr als die Hälfte eine Laufzeit von höchstens
sechs Monaten.
Spanien weist damit die höchste Quote an befristeten Verträgen in der EU
auf. 13,9 Prozent sind noch immer ohne Arbeit. Bei den unter 25-Jährigen
sind es gar 33,5 Prozent. Der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez
will die Arbeitsmarktreformen erst einmal nicht rückgängig machen. Das
versprach er allerdings im Wahlkampf. Im Juni 2017 kam er zunächst nach
einem Misstrauensvotum ins Amt und gewann im vergangenen April die Wahlen.
„Wir brauchen dringend einen Staatshaushalt mit mehr Ausgaben“, fordert der
Generalsekretär der Gewerkschaft UGT, Gonzalo Pino. Die Sozialleistungen
wurden ausgerechnet in den Jahren am stärksten gekürzt, in denen sie am
nötigsten gewesen wären. 2011 gab der Staat noch für 156,8 Arbeitslose 1
Million Euro, 2015 mussten damit bereits 233 Arbeitslose auskommen. Seit
2009 wurden im Gesundheitswesen, je nach Schätzung, zwischen 15 und 21
Milliarden Euro eingespart. Heute fließen jährlich 12 Prozent weniger in
die [2][Bildung] als vor der Krise.
Doch auch wenn die Defizitkontrolle jetzt aufgehoben wird, bedeutet dies
nicht das Ende der Sparpolitik. Denn laut EU leitet Spanien weiterhin unter
einem strukturellen Defizit. Dabei handelt es sich um den Teil des
Staatsdefizits, der nicht auf konjunkturelle Schwankungen zurückzuführen
ist. Und dies müsse bekämpft werden. Allein im kommenden Haushalt sollen,
so die Empfehlung Brüssels, weitere 7,8 bis 8,2 Milliarden Euro eingespart
werden. Statt zu sparen, könnte Spanien freilich auch seine Staatseinnahmen
verbessern. Bei den Steuern wäre viel Spielraum, wenn das politisch gewollt
wäre.
Denn die Steuerlast liegt in Spanien 7 Prozent unter dem Schnitt der
Eurozone. Außerdem ging die abgesetzte konservative Regierung all die
Krisenjahre mit dem Geld großzügig um, zumindest, wenn es um Rettung des
Finanzsektors ging. Spanien gab 60 Milliarden Euro für die Bankenrettung
aus. Laut der Spanischen Zentralbank wurden 42 Milliarden nie
zurückbezahlt. Weitere 5 Milliarden Euro flossen an die Betreiber von
Maut-Autobahnen; die Straßen waren nie wirklich rentabel.
Die Diskussion bestimmen allerdings andere Maßnahmen. Die Unabhängige
Behörde für die spanische Steuerverantwortung (Airef) schlägt vor, die Post
weitgehend zu schließen. Bevor diese Idee für Schlagzeilen sorgte, wusste
kaum ein Spanier zu sagen, was die Airef ist. Die Behörde entstand 2013 auf
Druck Brüssels. Sie wacht über die Ausgaben und über die Schuldenbremse,
die 2011 in die Verfassung geschrieben wurde, und Schuldenzahlungen Vorrang
vor Sozialausgaben gibt.
„Ich glaube, dass Spanien das Defizit nicht über weitere Austerität,
sondern mittels einer besseren Steuerpolitik senken muss“, mahnt der
Generalsekretär der größten spanischen Gewerkschaft CCOO, Unai Sordo. Er
hofft darauf, dass die Sozialisten von Sánchez zusammen mit der
linksalternativen Unidas Podemos eine „stabile Regierung des Fortschritts“
bilden werden, die dann entsprechende Reformen umsetzt.
Portugal ging einen ganz anderen Weg als Spanien. Der dortige
sozialistische Regierungschef António Costa, der seit 2015 dank der
Unterstützung mehrere kleinerer linker Parteien im Amt ist, verabschiedete
sich von der Sparpolitik. Stattdessen hob er die Renten wieder an, erhöhte
den Mindestlohn, führte gestrichene Feiertage wieder ein, verkürzte die
Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst, nahm Lohn- und Gehaltskürzungen
zurück. Privatisierungen wurden gestoppt, die Steuern für Besserverdienende
angehoben. Anders als von Brüssel prophezeit hatte er damit Erfolg.
Portugals Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit geht schneller zurück als
in Spanien. Lissabon hält schon länger die Defizitvorgaben ein als Madrid
und zahlt Schulden beim Internationalen Währungsfonds schneller ab als
vorgesehen.
14 Jun 2019
## LINKS
[1] /Proteste-gegen-Sparpolitik-in-Spanien/!5367889
[2] /Schrottschulen-in-Spanien/!5533324
## AUTOREN
Reiner Wandler
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Spanien
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