# taz.de -- Schrottschulen in Spanien: Büffeln auf der Baustelle | |
> Dutzende öffentliche Schulen in Madrid sind zu Schulbeginn Baustellen. | |
> Eltern glauben, die Regierung wolle so Privatschulen populär machen. | |
Bild: Auf in den Staub: spanische Schüler | |
MADRID taz | Fernando Rodríguez schaut mit seiner dreijährigen Tochter | |
Emilia über den Zaun und kann es nicht glauben. „Hier soll morgen der | |
Schulbetrieb beginnen“, sagt er und schüttelt den Kopf. Auf dem Gelände der | |
Averroës-Schule im Madrider Vorort Arroyomolinos wird nicht gelernt, | |
sondern gebaut. Arbeiter schaufeln Gräben zu, hinter dem Gebäude klaffen | |
tiefe Gruben, Bagger fahren herum. „Eigentlich sollte die Schule schon vor | |
zwei Jahren fertig sein“, sagt Rodríguez, der dem Elternverein angehört. | |
Doch nachdem der erste Bauunternehmer hingeschmissen hatte, verzögerte die | |
Neuausschreibung die Errichtung der Schule weiter. Die Kinder schickte man | |
derweil an eine Privatschule, wo sie in viel zu kleinen Klassenzimmern | |
untergebracht wurden. Eine Sardinenbüchse ziert deshalb das grüne T-Shirt | |
des Elternvereins, das Rodríguez trägt. | |
„Meine Tochter wird wohl ihre gesamte Vor- und Grundschulzeit auf einer | |
Baustelle verbringen“, befürchtet der 32-jährige Chefkellner. Das bedeute, | |
inmitten von Lärm, Staub und gefährlichen Maschinen. Denn neben der | |
Vorschule wartet auch die Grundschule auf die Fertigstellung. Dort, wo | |
heute Gruben klaffen, soll irgendwann einmal Sportunterricht stattfinden. | |
Arroyomolinos ist einer der Orte, die in den Jahren des Baubooms zwischen | |
Ende der 1990er und Anfang der 2000er stetig gewachsen sind. Immer gleiche | |
Reihenhäuser und Wohnblocks drängen sich an vierspurige Straßen, die | |
zahllose Kreisverkehre umkurven. Weil der Wohnraum billiger war als direkt | |
in der Hauptstadt, zogen vor allem viele junge Familien dorthin. | |
## „Wie das richtige Leben“ | |
„Die Landesregierung förderte staatlich subventionierte Privatschulen, | |
während das öffentliche Schulsystem vernachlässigt wurde“, erklärt | |
Rodríguez. „Ich will meine Tochter aber nicht auf eine Privatschule | |
schicken. Ich selbst war auf einer öffentlichen Schule, und das war gut | |
so“, fügt er hinzu. Die Privatschulen seien meist katholisch und suchten | |
sich ihre Schüler aus. „Ich will, dass Emilia zusammen mit Kindern | |
unterschiedlichster Herkunft und Religionen eingeschult wird. So, wie das | |
richtige Leben ist“, sagt Rodríguez. | |
Die Averroës-Schule ist kein Einzelfall: 73 öffentliche Schulen mit rund | |
15.000 Kindern sind in der Region Madrid zum Schuljahresbeginn noch | |
Baustellen. „Bau in Phasen“ heißt das Konzept der konservativen | |
Landesregierung – und hat zur Folge, dass jahrelang gebaut wird. So etwa am | |
anderen Ende der Region, in Paracuellos, einem Ort unweit des Madrider | |
Flughafens: Die Andrea-Casamayor-Schule hat noch nicht einmal Fenster, | |
gerade erst wurden diese angeliefert. Der Eingangsbereich ist eine | |
Baugrube, überall stehen Gasflaschen und Baugeräte. „Wir werden unsere | |
Kinder nicht zur Schule schicken, solange das hier so aussieht“, schimpft | |
Barbara García. | |
Die 37-jährige Fabrikarbeiterin ist Mutter eines vierjährigen Sohnes und | |
Sprecherin des Elternbeirats. „Selbst die Lehrer waren noch nicht in der | |
Schule“, sagt sie. Gerade einmal 20 Prozent der Gebäude sind halbwegs | |
fertig, und die gehören zur Vorschule. Die Grundschule soll erst im | |
nächsten Jahr errichtet werden. Einen Schulhof gibt es solange ebenso wenig | |
wie Klassenzimmer für Musik- oder Kunstunterricht und einen Speisesaal. | |
Die Andrea-Casamayor-Schule in Paracuellos wurde erst geplant und gebaut, | |
nachdem Eltern lautstark protestiert hatten. Mittlerweile gibt es fünf | |
öffentliche Schulen im Ort, doch drei sind Dauerbaustellen und zwei völlig | |
überfüllt. „Das Ganze hat System“, beschwert sich Isabel Galvín, | |
Vorsitzende der Lehrergewerkschaft im Dachverband Comisiones Obreras (CCOO) | |
in Madrid. „In den letzten Jahren verzögert die Schulverwaltung den Bau der | |
öffentlichen Schulen, um so die Nachfrage für subventionierte Privatschulen | |
zu erhöhen.“ Galvín weiß von Schul-Baustellen, an denen die Kinder im | |
Speisesaal unterrichtet werden. An anderen findet der Religionsunterricht | |
neben dem Notausgang statt, an wieder anderen haben die Lehrer auf ein | |
Lehrerzimmer verzichtet, um dort die Kinder unterzubringen. | |
## 300 Euro im Monat | |
All das ist eigentlich nicht zulässig. Die Verfassung und die | |
entsprechenden Bildungsgesetze garantieren eine Schulbildung an voll | |
ausgerüsteten Schulen, mit Räumen für Naturwissenschaften, Kunst, Musik und | |
Sport, mit Bibliothek, Speisesaal, einem Schulhof und einem Klassenzimmer | |
für alle. | |
Und die Baustellen sind nicht das einzige Problem: An 23 öffentlichen | |
Schulen allein in der Hauptstadt Madrid wurden für das kommende Schuljahr | |
ganze Klassen geschlossen, während nahegelegene Privatschulen neue Klassen | |
genehmigt bekamen. Die Begründung: fehlende Nachfrage. Die lange Schlange | |
vor der Uruguay-Schule im Madrider Distrikt La Latina spricht eine andere | |
Sprache. „Ich war an acht öffentlichen Schulen hier im Stadtteil, und | |
überall wurde ich abgewiesen“, sagt Zuldina Quiñones. | |
Die 46-Jährige ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes. Für die Einwanderin | |
aus Kolumbien ist es auch aus finanziellen Gründen wichtig, einen Platz an | |
einer öffentlichen Schule zu bekommen. Denn die staatlich subventionierten | |
Privatschulen verlangen „freiwillige Zahlungen“ der Eltern von bis zu 300 | |
Euro im Monat. Eigentlich müssten auch sie gratis unterrichten. Doch wer | |
nicht zahlt – offiziell für Zusatzaktivitäten am Nachmittag – wird | |
marginalisiert. Sie solle in einer Woche wiederkommen, wurde sie an der | |
Uruguay-Schule erneut abgewiesen. | |
Knapp die Hälfte aller Schulen in der Region Madrid sind mittlerweile | |
subventionierte – meist katholische – Privatschulen. Während in den Jahren | |
der Sparpolitik bei öffentlichen Schulen gekürzt wurde, stiegen die | |
Zuwendungen für subventionierte Privatschulen. „In den Jahren des Booms | |
wurden dann ganze Stadtteile errichtet, ohne dass die Regionalregierung | |
dort öffentliche Schulen gebaut hätte“, sagt Gewerkschafterin Galvín. „D… | |
von der Regionalregierung propagierte Wahlfreiheit gilt für die Eltern, die | |
öffentliche Schulen bevorzugen, nicht“, fügt sie hinzu. | |
Während Elternverbände und Lehrergewerkschaften sich beschweren und an | |
einigen Schulen gar Klagen gegen die Regionalregierung vorbereiten, spricht | |
der Madrider Bildungsminister Rafael Van Grieken von einem „ruhigen Auftakt | |
des neuen Schuljahres“. Mancherorts müsste man halt etwas zusammenrücken, | |
wie das bei Renovierungsarbeiten zu Hause eben auch sei. Am Nachmittag vor | |
Schulbeginn besuchte Van Grieken die Averroës-Schule in Arroyomolinos – und | |
sprach kurz dort, wo keine Gräben und Baumaschinen zu sehen sind. „Diese | |
Infrastruktur ist ein Beispiel für die Qualität des öffentlichen | |
Bildungssystems in der Region Madrid“, sagte er vor der Presse. Die Eltern | |
protestierten unweit. Unter ihnen auch Fernando Rodríguez mit seiner | |
Tochter Emilia. | |
20 Sep 2018 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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