# taz.de -- Anwohnerproteste gegen Neubauten: Not in my backyard | |
> Alle möchten in den Metropolen leben – aber kaum einer will dort Neubau | |
> in der Nachbarschaft. Das kann nicht funktionieren. | |
Bild: Hoffentlich bezahlbar und nicht schon wieder Eigentum: Neubau in Berlin | |
Weniger als 45 Quadratmeter galten im Wohnungsbau der späten 20er-Jahre als | |
ausreichend für eine vierköpfige Arbeiterfamilie. Die Enge spürt man, wenn | |
man heute Wohncontainer für Flüchtlinge in Berlin besucht. Knapp 40 | |
Quadratmeter für eine Familie sind dort üblich. Die Container gelten als | |
Notlösung, viele Geflüchtete wohnen dort aber lange, denn es gibt zu wenig | |
sozialen Neubau in der Hauptstadt. | |
Wer muss wie eng wohnen? Das ist die soziale Frage. Der Kampf um den Raum | |
betrifft dabei nicht nur Wohnungsgrößen, sondern auch Freiflächen in der | |
Nachbarschaft, da AnwohnerInnen oft nicht wollen, dass diese bebaut werden. | |
Der Widerstand gegen Nachverdichtungen wird heftiger, denn [1][der Zuzug | |
in die Metropolen wächst], während Freiflächen schwinden. | |
„Leider gibt es vielerorts das „Not in my backyard“(„Nimby“)-Phänome… | |
Menschen sind zwar im Prinzip für mehr bezahlbaren Wohnungsbau – aber eben | |
nicht vor ihrer Haustür“, beklagt Axel Gedaschko, Präsident des | |
Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). „Die | |
zunehmende Totalverhinderung ist ein Problem“, sagt er. | |
## Das „Großstadt-Paradox“ | |
Menschen geben echte oder vermeintliche territoriale Besitzstände nur | |
ungern auf, ob es sich um den Kiez oder die eigene Wohnung handelt. In | |
Berlin etwa existiert seit einem halben Jahr eine Onlinetauschbörse der | |
landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Wer nach dem Tod des Partners oder | |
dem Auszug der Kinder in einer zu großen, vielleicht auch zu teuren Wohnung | |
lebt, kann mit Leuten in zu kleinen Wohnungen tauschen. Die | |
Quadratmetermieten der Tauschwohnungen erhöhen sich durch einen Umzug | |
nicht. | |
Die bisherige Bilanz: „Im ersten halben Jahr wurden bislang rund 20 | |
Wohnungen getauscht, bei insgesamt 300.000 Wohnungen der landeseigenen | |
Wohnungsbaugesellschaften“ sagt David Eberhart, Sprecher des Dachverbandes | |
BBU. Es gibt viel zu wenige Menschen, die sich verkleinern wollen. | |
Denn Metropolenbewohner unterliegen einem „Großstadtparadox“: Man zieht in | |
die Großstadt auch wegen der vielen Menschen dort. Man will Vitalität | |
saugen aus der Vielfalt, der Freiheit, der Toleranz. Einerseits. | |
Andererseits aber ist gerade in den Metropolen die Sehnsucht nach privaten | |
Rückzugsräumen groß, nach einem überschaubaren Kiez, nach Grün, Sonne und | |
Licht. Also im Grunde nach weniger Häusern, weniger Menschen. | |
Das Großstadtparadox befeuert die Anwohnerproteste, wenn große Wohnanlagen, | |
Wohnblocks, Aufstockungen geplant werden. Man kämpft mit allen Argumenten | |
dagegen, ob in Berlin im Prenzlauer Berg in der Michelangelostraße, in | |
München im Randbezirk Trudering, in Bremen am Rennbahngelände. | |
## Edle und weniger edle Gegenargumente | |
Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) hat mehrere | |
Argumentationsmuster in den Protesten identifiziert. | |
Ganz oben auf der Liste stehen die „Beeinträchtigungsargumente“ der | |
AnwohnerInnen. Für sie bedeutet der Neubau weniger Weitblick, weniger Sonne | |
und Licht, weniger Grün, weniger Parkplätze, mehr Verkehr. Lehnen die | |
Anwohner dann auch noch die Nachbarschaft ärmerer Menschen durch den | |
sozialen Wohnungsneubau ab, wirkt der „Nimby“(„Not in my | |
backyard“)-Protestler erst recht egoistisch und asozial. | |
Neben der „Nimby“-Argumentation gibt es allgemeine ökologische Argumente, | |
die mehr im grünen Allgemeininteresse liegen und auch egoistischen | |
Eigeninteressen einen gesellschaftlichen Anstrich geben. Es sind | |
„Stellvertreterargumente“, so die BBSR-Forscher, mit denen dann etwa | |
generell gegen den zunehmenden Verkehr, den Verlust an Grün, an Tier- und | |
Pflanzenarten, gegen die Versiegelung der Flächen protestiert wird. | |
Hinzu kommen „kapitalismuskritische Grundsatzargumente“, da beispielsweise | |
in Berlin viele der Neubauwohnungen Eigentumswohnungen sind und nur von | |
einer dünnen, finanzstarken Schicht bezahlt werden können. | |
Die Argumentationsmuster gibt es in allen Kombinationen und jede hat ihre | |
Berechtigung. Auch der egoistischste „Nimby“ hat ein Recht darauf, den | |
Verlust von Freiflächen oder von Sonnenlicht zu betrauern. | |
Die Frage, ob die Feldlerche mitten in Berlin ein so riesiges geschütztes | |
Areal auf dem Tempelhofer Feld braucht, kann man sicher auch | |
unterschiedlich beantworten. Zudem stimmt es, dass durch den Neubau in | |
Berlin, der meist nur einer sehr finanzstarken Schicht dient, potentielle | |
Flächen für einen mietpreisgebundenen Wohnungsbau ein für alle Mal verloren | |
gehen. | |
## Geförderter Wohnungsbau mildert Widerstand | |
Aber es gibt besonders heikle Konfliktlinien. Wie politisch korrekt ist es, | |
wenn KleingärtnerInnen auf ihrem billig gepachteten Grün in | |
Innenstadtlagen, etwa in Berlin-Tempelhof, beharren und sogar | |
Ersatzkleingärten in Randlagen ablehnen, obwohl auf ihren Parzellen | |
Hunderte von bezahlbaren Wohnungen entstehen könnten? Wer für wen welche | |
Opfer bringen soll, das ist die soziale Frage. | |
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) kündigte an, dass | |
Baumaßnahmen „Schmerzen auslösen“. In seiner Nachbarschaft in | |
Berlin-Neu-Tempelhof wurden in einem Mietshaus in einer Seitenwand sogar | |
Fenster zugemauert, damit angrenzend daran auf einer Freifläche ein Neubau | |
hochgezogen werden kann. Solche Opfer können nur akzeptiert werden, wenn am | |
Ende auch von Normalverdienern bezahlbarer Wohnraum entsteht. | |
Es reicht daher nicht, wenn bei Neubauvorhaben der Anteil von | |
mietpreisgebundenen Wohnungen bei 25 oder 30 Prozent liegen soll. | |
„Gefördert“ werden muss auch die Mittelschicht, die sich Eigentumswohnungen | |
zum Preis von 750.000 Euro nicht leisten kann. | |
In Berlin hat wegen der geringen Einkommen fast die Hälfte der Einwohner | |
Anspruch auf eine Wohnung mit Mietpreisbindung. Eine Randbebauung des | |
Tempelhofer Feldes etwa sollte daher nur mit einem mindestens hälftigen | |
Anteil an subventionierten Wohnungen in Erwägung gezogen werden. | |
Nur wenn der Wohnungsneubau für breitere Schichten erschwinglich wird, kann | |
man die Botschaft vermitteln: Wer in den Metropolen leben will, muss Platz | |
machen können, muss vielleicht mehr Enge ertragen. Und auch die Trauer | |
aushalten können, wenn im Kiez neue Wohnblöcke hochgezogen werden und es | |
dadurch weniger Platz, weniger Sonne und weniger Grün gibt vor der Tür. | |
14 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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