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# taz.de -- Kritik des Flüchtlingsrats: Die Wohnung ist verletzlich
> Die Berliner Polizei holt Menschen zur Abschiebung aus deren Wohnungen –
> und verstößt dabei offenbar gewohnheitsmäßig gegen Recht und Gesetz.
Bild: Eigentlich sagt Art. 13 GG: „Die Wohnung ist unverletzlich“
Der 70. Geburtstag des Grundgesetzes wird dieser Tage viel gefeiert.
Allerdings profitiert nicht jedeR in Deutschland von den darin
festgeschriebenen Grundrechten, erklärt der Berliner Flüchtlingsrat aus
Anlass des Jubiläums: „Das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung
wird von der Berliner Polizei im Kontext von Abschiebungen regelmäßig
verletzt.“
Mit dieser Kritik steht der Rat nicht allein. „Wir schließen uns dieser
Rechtsauffassung an“, sagt die Sprecherin des Republikanischen
Anwaltsvereins, Rechtsanwältin Berenice Böhlo, auf taz-Anfrage. Auch Katina
Schubert, Sprecherin für Flüchtlingspolitik der Linksfraktion im
Abgeordnetenhaus, sieht einen „permanenten Rechtsbruch“ der Polizei bei
Abschiebungen aus Wohnungen. Sie werde das Thema in der nächsten
innenpolitischen Runde des Senats aufs Tapet bringen, sagte sie der taz.
Im vergangenen Jahr wurden aus Berlin 1.182 Menschen abgeschoben. Im
Gegensatz zu früher, als viele „vollziehbar Ausreisepflichtige“ in
Abschiebehaft genommen wurden, bis man sie außer Landes bringen konnte, ist
der Regelfall in Berlin heute die sogenannte Direktabschiebung ohne Haft.
Die Betreffenden werden direkt vor dem geplanten Flug von der Polizei
verhaftet – häufig in ihren Zimmern im Flüchtlingswohnheim beziehungsweise
in ihrer Wohnung.
Dass die Polizei dafür einen Durchsuchungsbefehl braucht, haben Berliner
Gerichte in verschiedenen Urteilen bestätigt. Knackpunkt ist Artikel 13
Grundgesetz, der besagt: „(1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2)
Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch
durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in
der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden.“
Rechtlich unstrittig ist inzwischen laut Flüchtlingsrat, dass auch ein
Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft, insofern es Privatsphäre zulässt und
kein Gemeinschaftsraum ist, als Wohnung im Sinne von Artikel 13 zu gelten
hat.
## „Bloßes Betreten“?
Die Polizei steht allerdings auf dem Standpunkt, man durchsuche ja gar
keine Wohnungen, es gehe um das „bloße Betreten und Besichtigen einer
Wohnung zwecks Abschiebung einer ausreisepflichtigen Person“, wie der
Sprecher der Innenverwaltung, Martin Pallgen, auf taz-Anfrage erklärt. Ein
Durchsuchungsbeschluss sei daher nicht erforderlich.
Allerdings hat das Berliner Verwaltungsgericht dieser Rechtsauffassung in
einer Entscheidung vom Februar 2018 deutlich widersprochen. Dabei ging es
um einen der seltenen Fälle, in denen die Polizei doch versucht hat, einen
Durchsuchungsbeschluss für eine Wohnung zu bekommen, um jemanden
abzuschieben – was ja eigentlich ihrer Auffassung, sie brauche gar keinen
richterlichen Beschluss, widerspricht. In der Begründung zu ihrer
Entscheidung erklärten die Richter: „Das von dem Antragsteller geplante
Vorgehen erweist sich als Durchsuchung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG.“
Dies sei nämlich der Fall, sobald Amtsträger in eine Wohnung eindringen, um
dort eine Person zu suchen und zu ergreifen (Az.: 19 M 62.18).
Diese Entscheidung ist in einer weiteren Hinsicht interessant: Die Richter
lehnten nämlich den Antrag mit der Begründung ab, es gebe dafür gar keine
„gesetzliche Ermächtigungsgrundlage“. Sprich: In Berlin kann die Polizei
gar keinen Durchsuchungsbeschluss für eine Abschiebung bekommen, weil dazu
nichts in den hiesigen Gesetzen (etwa dem „über die Anwendung unmittelbaren
Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des
Landes Berlin“) steht. Diese Rechtsauffassung wurde in Entscheidungen von
OVG und Kammergericht, die der Flüchtlingsrat zitiert, bestätigt (Az.: Z 6
LL 14.18 und 1 W 5118). Dem entgegenstehende Entscheidungen höherer
Gerichtsinstanzen gibt es laut Flüchtlingsrat derzeit nicht.
Wie kann es aber sein, dass die Polizei seit Jahrzehnten in einem
„rechtsfreien Raum“ (Böhlo) agiert, ohne dass dies eine breitere
Öffentlichkeit zur Kenntnis nimmt oder kritisiert? Zum einen gibt es
naturgemäß wenig Kläger – die werden ja abgeschoben. „Es gibt selten Fä…
dass Menschen nach einer Abschiebung zurückkehren, und noch weniger kennen
ihre Rechte und klagen“, erklärt die Anwältin.
## Diskurs verschiebt sich
Zum anderen hat ein Großteil der hiesigen Öffentlichkeit offenkundig kein
Interesse daran, Abschiebungen aus rechtsstaatlichen Gründen zu
verkomplizieren. Im Gegenteil verschiebt sich in letzter Zeit der
gesellschaftliche Diskurs immer mehr in Richtung „Durchsetzung des
Rechtsstaates“. Und zwar nicht in dem Sinne, dass Grundrechte wie Artikel
13 für alle gelten, sondern dass abgelehnte Asylbewerber auch wirklich
ausreisen müssen. Dass es andere rechtliche Gründe gibt, warum viele dieser
Menschen doch nicht gehen müssen, wird in der Debatte gerne unter den Tisch
gekehrt. In diese Richtung geht auch das von Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) initiierte „Geordnete-Rückführungs-Gesetz“, das unter
anderem die Inhaftierung abgelehnter Asylbewerber zum Zwecke der
Abschiebung vereinfachen soll.
Vor diesem Hintergrund steigt natürlich der Druck auf die Länder,
„konsequent“ (Seehofer) abzuschieben. Wenn dabei komplizierte juristische
Prozedere – wie ein Durchsuchungsbefehl für jede Festnahme zur Abschiebung
aus einer Wohnung – unterbleiben: Wen stört’s?
Eine fatale Entwicklung, findet Böhlo: „Gerade wenn es um Grundrechte geht,
muss man sich strikt an die Buchstaben des Gesetzes halten. Diese
Striktheit ist der Rechtsstaat. Gerade wo es unbequem wird, muss man genau
und korrekt sein.“
26 May 2019
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
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Flüchtlingsrat
Schwerpunkt Grundgesetz
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