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# taz.de -- Gerichtsurteil zu Abschiebungen: (R)eintreten jetzt verboten
> Verwaltungsgericht rügt Land Berlin: Die Praxis der Polizei, bei
> Abschiebungen ohne Richterbeschluss in Wohnungen einzudringen, sei
> rechtswidrig.
Bild: Auch Zimmer in Sammelunterkünften (hier: Brandenburg) sind vom Grundgese…
Berlin taz | Die Polizei darf Wohnungen oder Zimmer von Geflüchteten in
Heimen nicht ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss betreten. Auch für
Menschen, die abgeschoben werden sollen, gilt das im Grundgesetz verbriefte
Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13).
Mit diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht Berlin vergangene Woche der
Klage eines jungen Mannes aus Guinea gegen das Land Berlin in Teilen
stattgegeben. In einem zweiten Punkt wies Richterin Ennsberger jedoch die
Klage ab: Die Sicherstellung von Mobiltelefonen, Kopfhörern und
Portemonnaies durch die Polizei sei rechtmäßig, da diese Gegenstände
geeignet seien, sich selbst oder andere zu verletzen (VG 10 K 383.19).
Für den Berliner Rechtsanwalt Christoph Tometten, der den 22-jährigen
Kläger vertritt, ist das in der vorigen Woche schriftlich ergangene Urteil,
das der taz exklusiv vorliegt, eine wichtige Klarstellung zu den Rechten
Geflüchteter. Der taz sagte Tometten: „Das Urteil des Verwaltungsgerichts
stellt fest, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Die Polizei hat
auch bei der Durchführung von Abschiebungen das Grundgesetz zu achten.“
Damit schließe sich das Gericht der [1][jüngsten Rechtsprechung aus
Hamburg] an. „Daraus muss die Innenverwaltung nun umgehend Konsequenzen
ziehen und der bisherigen Praxis ein Ende setzen“, fordert der Anwalt.
Zugleich bedauert Tometten, dass das Gericht nichts dagegen habe, dass
Menschen vor ihrer Abschiebung die Handys weggenommen werden. „Es erschwert
den Rechtsschutz, wenn die Betroffenen so nicht rechtzeitig ihren Anwalt
kontaktieren können. Zur Mobilisierung von Fluchthelfern, die sich der
Polizei in den Weg stellen würden, taugt das Mobiltelefon in aller Regel
nicht. Auch die Ansicht des Gerichts, Mobiltelefone seien generell
geeignet, sich oder andere zu verletzen, ist abwegig.“
## Berufung zur „Handy-Frage“ angekündigt
Bei der mündlichen Verhandlung Ende September war durch die Aussage des
Einsatzleiters der Polizei deutlich geworden, dass diese Praxis häufig,
wenn nicht gar der Regelfall ist. Zwar habe er selbst kein Handy an sich
genommen, erklärte der Beamte, aber er wisse, dass die Ausländerbehörde
„das gerne sieht“. Tometten kündigte gegenüber der taz an, gegen die
Teilabweisung der Klage zur „Handy-Frage“ Berufung einzulegen.
[2][Abschiebungen aus Wohnungen] beziehungsweise Flüchtlingsheimen sind
inzwischen die Regel. Die Polizei kommt gerne überraschend in der Nacht
oder am frühen Morgen – und in Berlin, anders als in anderen Bundesländern,
nie mit richterlichem Durchsuchungsbefehl. Im rot-rot-grünen Senat hatte
dies 2019 [3][zum Krach zwischen Innensenator Andreas Geisel (SPD) und
Integrationssenatorin Elke Breitenbach (Linke)] geführt. Letztere hatte den
Betreibern von Flüchtlingsheimen per Vermerk erklären lassen, ohne Vorlage
eines richterlichen Durchsuchungsbeschlusses müssten sie die Polizei nicht
einlassen.
Für Geisel war dies ein Affront, zumal es in der Folge zu einigen
Strafanzeigen gegen Polizist*innen kam. Offenkundig auf Druck der
Berliner SPD war dann im Sommer 2019 in das Geordnete-Rückkehr-Gesetz von
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ein Passus aufgenommen worden, der
die Sache im Sinne Geisels zu klären schien. Die Polizei dürfe Wohnungen
zum Zwecke der Abschiebung „betreten“ (Aufenthaltsgesetz §58, Abs. 5), eine
„Durchsuchung“ bedürfe der Richteranordnung (Abs. 6 und 8).
Viele Jurist*innen, darunter der Wissenschaftliche Dienst des
Bundestages, halten jedoch die Unterscheidung von Betreten und Durchsuchen,
auf die sich auch Geisel beruft, für fragwürdig, wenn es um die Ergreifung
einer Person geht.
## „Ramme“ als Türöffner
Warum, zeigt auch der aktuelle Fall: Am 10. September 2019 sollte der
Kläger Ibrahim K. als Dublin-III-Fall nach Italien zurückgeschoben werden.
Dafür kam die Polizei an diesem Morgen gegen 8 Uhr in das Flüchtlingsheim
Alfred-Randt-Straße in Köpenick. Dort lebte K. mit Mory T., der ebenfalls
als Zeuge aussagte, in einem Zweibettzimmer. Als sie auf das Klopfen der
Sozialarbeiterin und der Polizei nicht öffneten, holten die Beamten eine
„Ramme“ und verschafften sich mit Gewalt Zutritt.
Die Beamten ließen sich die Ausweise der Männer zeigen, K. wurde erklärt,
er würde abgeschoben und müsse packen. Er und sein Zimmergenosse sagten
aus, K.s Handy, Portemonnaie und Kopfhörer hätten die Polizisten an sich
genommen. Die vernommenen Polizisten konnten dies zumindest nicht
ausschließen. Am Flughafen wurde K. freigelassen, weil er erklärte, er sei
mit der Abschiebung nicht einverstanden. Man gab ihm seine Besitztümer
zurück. Bis heute lebt er in demselben Heim, inzwischen als Asylbewerber,
da die Frist der Überstellung nach Italien kurz nach dem Vorfall abgelaufen
war.
Um die Frage, warum die Polizei erst mit viel Aufwand einen Mann abholt, um
ihn dann am Flughafen ohne viel Federlesens freizulassen, ging es vor
Gericht nicht. Es ging um den Unterschied zwischen Betreten und
Durchsuchen. Der Einsatzleiter erklärte, man habe nichts durchsuchen, den
Gesuchten auch nicht suchen müssen. Für diesen Eventualfall habe er eine
Richternummer auf seinem Dienst-Handy – diese aber noch nie benutzt, gab er
zu.
Der Richterin kam es allerdings weniger darauf an, was die Beamten
tatsächlich taten, sondern was sie im Vorhinein zu erwarten hatten. Konnten
sie um 8 Uhr morgens davon ausgehen, dass der Gesuchte in seinem Zimmer
war? Nein, so die Richterin, er hätte bei der Arbeit sein können oder
irgendwo anders im Heim. Zudem wohnte im Zimmer noch jemand, auch da hätte
man also womöglich nach der richtigen Person suchen müssen. Es sei daher
von einer Durchsuchung auszugehen – für die der Richterbeschluss fehlte.
## Künstliche Unterscheidung durch Politik
Martina Mauer vom Berliner Flüchtlingsrat begrüßte das Urteil.
„Ausländerbehörde und Polizei müssen nun ihre rechtswidrige Praxis beenden
und ab sofort vor jeder Abschiebung einen richterlichen
Durchsuchungsbeschluss einholen.“ Für die rechtspolitische Referentin von
Pro Asyl, Wiebke Judith, zeigt das Urteil zum einen, dass auch Zimmer in
Flüchtlingsheimen „Wohnungen im Sinne des Grundgesetzes und entsprechend
geschützt sind“. Zudem sei die künstliche Unterscheidung von Betreten und
Durchsuchen, „die von der Großen Koalition im letzten großen
Verschärfungsgesetz 2019 eingeführt wurde, nicht haltbar“. Der Gesetzgeber
müsse nachbessern, fordert sie von der nächsten Bundesregierung.
Die Innenverwaltung erklärte am Montag auf taz-Anfrage, man prüfe derzeit
das weitere Vorgehen, könne daher in der Sache noch keine inhaltliche
Erklärung abgeben.
12 Oct 2021
## LINKS
[1] /Fluechtlings-Razzien-nur-mit-Richterin/!5702724
[2] /Kritik-des-Fluechtlingsrats/!5595213
[3] /Gutachten-im-Auftrag-der-Linken/!5625160
## AUTOREN
Susanne Memarnia
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