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# taz.de -- Anti-Abschiebeaktivist über Ehrung: „Uns geht es nicht um Integr…
> Mohammed Jouni kämpft mit anderen jungen Geflüchteten gegen Abschiebung.
> Am Montag bekommt er dafür das Bundesverdienstkreuz – und wundert sich.
Bild: Protestplakat von Jugendliche ohne Grenzen bei der Innenministerkonferenz…
taz: Herr Jouni, freuen Sie sich über die Auszeichnung?
Mohammed Jouni: Ich freue mich, und gleichzeitig sträubt sich auch etwas in
mir.
Warum?
Wenn man unter anderem dafür ausgezeichnet wird, dass die diskriminierenden
und rassistischen Strukturen in Deutschland es nicht geschafft haben, einen
zu brechen: Was sagt das denn über das Versprechen der Chancengleichheit,
der Bildungsgerechtigkeit in diesem Land aus? Wenn es so wäre, dass hier
alle gleich partizipieren können, dann bräuchte es eine solche Ehrung
nicht.
Sie sind 1998 mit 12 Jahren als Geflüchteter ohne Ihre Familie aus dem
Libanon gekommen und heute Sozialarbeiter und Mitgründer einer
Selbstorganisation junger Geflüchteter. Sind Sie nicht stolz?
Ich freue mich über die Auszeichnung, das soll keine falsche Bescheidenheit
sein. Bescheidenheit ist ja auch kein Wert, mit dem man in dieser
superkapitalistischen Gesellschaft weiterkommt, die einem immer beibringt,
man müsse der Größte, der Klügste, der Schönste, der Selbstbewussteste
sein. Aber ich habe mit dem Wort Stolz Schwierigkeiten, zum einen, weil in
der Erziehung in meiner Familie Bescheidenheit ein wichtiger Wert war, zum
anderen, weil ich dabei sofort an Nationalstolz denke: Stolz auf etwas, für
das man gar nichts kann. Ich bin schon stolz darauf, dass ich als Erster in
meiner Familie Abitur gemacht und studiert habe. Ich weiß, dass ich oft
Glück gehabt habe. Aber ich habe auch Chancen ergriffen, wenn sie sich mir
boten. Mir wurde als Geflüchtetem hier nichts geschenkt.
Sie bekommen die Auszeichnung auch für Ihre politische Arbeit mit der
Selbstorganisation [1][Jugendliche ohne Grenzen (JoG)], die sich für ein
Bleiberecht für alle und menschenwürdige Behandlung Geflüchteter einsetzt.
Es ist ja fast ein bisschen absurd, Menschen zu ehren, die dieser
Gesellschaft den Spiegel vorhalten, darauf hinweisen, was hier schiefläuft
– und mit dieser Politik dann trotzdem weiterzumachen. Ich lebe seit 23
Jahren in einem Staat, der abschiebt, der strukturelle und institutionelle
Rassismen reproduziert, der Menschen in Lagern unterbringt, der geflüchtete
Kinder gesondert beschult – und der jetzt Menschen ehrt, die sich dagegen
einsetzen. Ich denke: Hört doch einfach damit auf, Flucht zu illegalisieren
und Geflüchtete zu kriminalisieren. Wenn ihr wirklich eure europäischen
Werte leben würdet, bräuchten wir solche Ehrungen nicht.
Sie bekommen diese Ehrung auch dafür, dass JoG tatsächlich politisch
gewirkt hat: etwa bei der [2][Altfallregelung], die ab 2007 vielen lange
hier lebenden Geflüchteten aus dem Duldungsstatus zu besseren
Aufenthaltsgenehmigungen verhalf.
Wenn uns, als wir 2004/2005 mit JOG angefangen haben und politisch etwas
verändern wollten, jemand gesagt hätte, dass wir tatsächlich etwas
erreichen würden, hätten wir das wohl als Träumerei abgetan. Ich glaube,
das war damals wirklich revolutionär, dass betroffene Jugendliche sich für
ihre eigenen Rechte eingesetzt haben. Dass wir daran mitwirken konnten,
dass so viele Tausende zu ihrem Recht kamen, hierzubleiben, das war schon
toll und hat uns motiviert, weiter für unser eigentliches Ziel, ein
Bleiberecht für alle, einzustehen.
Woher hatten Sie damals den Mut, JoG zu gründen?
Wir, meine Mitstreiter:innen und ich, brauchten damals einen Raum, um
unsere Erfahrungen auszutauschen, um zu verstehen, dass wir keine
Einzelkämpfer, nicht schuld an unserer Lage sind. Dass es nicht unser
Schicksal ist, benachteiligt und diskriminiert zu werden, dass das nicht
normal ist, sondern dahinter politische Entscheidungen stehen. Dass an uns
nichts falsch ist. Den Raum hatten wir im [3][BBZ] …
… einer Beratungseinrichtung für junge Geflüchtete in Moabit, wo Sie jetzt
selbst als Sozialarbeiter tätig sind.
Genau. Deshalb war mein erster Gedanke, als ich den Brief mit der
Ankündigung der Ehrung geöffnet habe, dass die eigentlich Walid Chahrour
gebührt, dem Leiter des BBZ. Er hat uns unterstützt und motiviert, uns
gezeigt, dass wir nicht alleine sind, dass wir uns zusammentun müssen.
Wie ging das?
Hier habe ich zum ersten Mal in meinem Leben offen darüber gesprochen, wie
es ist, in einem Heim zu leben, wo es stinkt, wo es laut ist, wo die
Polizei früh morgens kommt und Leute abholt, die schreien und weinen. Das
war viel zu schambehaftet, um mit Freund:innen darüber zu reden. Aber
hier war das normal, die anderen Jugendlichen hatten die gleichen
Erfahrungen. Und plötzlich war es auch normal, in Utopien zu denken, sich
zu sagen: Ich habe als Subjekt das Recht, mir einen guten Job zu wünschen,
eine schöne Wohnung, ein gutes Leben, anständige Behandlung.
Das klingt nach der guten alten Integration.
Nein! Im BBZ habe ich auch begriffen, dass das Ziel eben nicht Integration
heißt. Ich muss mich nicht in eine rassistisch strukturierte Gesellschaft
einfügen, sie akzeptieren und reproduzieren. Uns ging und geht es nicht
darum, „integrierte“, gut ausgebildete, brauchbare Jugendliche zu werden,
sondern darum, dass alle Menschen, die hier leben, ein Bleiberecht bekommen
– egal, ob sie für diese kapitalistische Gesellschaft brauchbar oder ob sie
alt oder krank sind oder kein Deutsch können, weil sie jahrelang in Lagern
gelebt haben. Deshalb bleiben wir auch dran. Ich verstehe diese
Auszeichnung als eine für uns alle. Deshalb habe ich sie auch nicht
abgelehnt.
8 Nov 2021
## LINKS
[1] http://jogspace.net/
[2] /Fluechtlingspolitik/!5194651
[3] https://www.bbzberlin.de/de/portfolio/jugendliche-ohne-grenzen/
## AUTOREN
Alke Wierth
## TAGS
Geflüchtete
Abschiebung
Bundesverdienstkreuz
Elke Breitenbach
Schwerpunkt Flucht
Asyl
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Abschiebung
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