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# taz.de -- Geflüchtete aus Sierra Leone in Bayern: Dauerdemo gegen Abschiebun…
> Gewalt, Zwangsheirat, Mord: Es gibt viele Gründe für die Flucht aus
> Sierra Leone. In Bayern fürchten hunderte Flüchtlinge dennoch die
> Abschiebung.
Bild: „Give us freedom“: Protestaktion von Geflüchteten am Münchener Kön…
München taz | München. Königsplatz. Direkt auf der Verkehrsinsel vor den
Propyläen haben sie ein paar Zeltpavillons aufgestellt. Protestcamp nennen
sie es. Ein paar Dutzend Flüchtlinge aus Sierra Leone haben sich hier
niedergelassen, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen. Viele von ihnen
verbringen sogar die Nächte hier. Vor drei Wochen – da befand sich das Camp
noch im Stadtteil Sendling vor der Zentralen Ausländerbehörde – sollen dort
sogar bis zu 200 Menschen gelagert haben.
„Give us freedom“ steht auf einem Transparent und „Please help us“. Üb…
Lautsprecher rufen sie: „Stop! Stop! Stop!“ Gemeint sind Abschiebungen. Die
Lage ist zentral, doch die Aufmerksamkeit gering. Die Autos fahren um die
Insel herum, Passanten kommen hier kaum rüber. Die Kälte ist durchdringend.
Nicht dass derzeit sonderlich viele Menschen aus Sierra Leone in das
westafrikanische Land abgeschoben würden. In den vergangenen fünf Jahren
wurden nach Angaben des Landesamts für Asyl und Rückführungen insgesamt 118
Sierra Leoner aus Bayern abgeschoben, darunter nur 15 nach Sierra Leone.
Doch die Befürchtung, dass die Zahl sehr schnell in die Höhe schießen
könnte, ist gerade besonders groß. Denn 524 der 936 abgelehnten
Asylbewerber aus Sierra Leone in Bayern haben vor wenigen Wochen ein
Schreiben bekommen, in dem sie aufgefordert wurden, sich in der zweiten
Oktoberhälfte zu einer Anhörung in der Ausländerbehörde einzufinden.
## Für die Flüchtlinge ist die Botschaft klar
Die Briefe kamen von unterschiedlichen Adressen, etwa einer
Bezirksregierung, einem Landratsamt oder einer Stadt, und unterschieden
sich auch inhaltlich. Mal war von einem „Vorsprachetermin zur Feststellung
der Staatsangehörigkeit durch Vertreter des Immigration Office und der
Botschaft von Sierra Leone“ die Rede, mal hieß es, eine Frau habe mit ihren
Kindern zu einer „Anhörungssondermaßnahme“ zu erscheinen, „um dort die
Ausstellung eines Dokumentes zu beantragen, welches Sie zur Rückkehr in Ihr
Heimatland berechtigt“. So intransparent die Aktion war, so klar war die
Botschaft in den Augen der Flüchtlinge. Sie lautete: Abschiebung.
Abschiebung in ein Land, aus dem die meisten von ihnen unter Lebensgefahr
geflohen waren, das sie größtenteils seit Jahren nicht mehr gesehen haben.
Viele von ihnen leben gut integriert in Bayern, meist in München oder
Niederbayern, arbeiten hier oder machen eine Ausbildung.
„In Sierra Leone“, heißt es in einer Pressemitteilung des Camps, „gibt es
keine Zukunft für uns, dort gibt es [1][keine gute medizinische
Versorgung], die Bildung ist schlecht. Die Menschen hier sind junge Leute,
sie wollen lernen, sie wollen arbeiten. Lasst sie etwas zu der Gesellschaft
hier beitragen.“
Sierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt – trotz seines
Diamantenreichtums, von dem nur eine kleine korrupte Elite profitiert. Nun
sind Armut, schlechte medizinische Versorgung und ein miserables
Schulsystem nach deutschem Recht noch keine Asylgründe. Und der Bürgerkrieg
in Sierra Leone liegt fast 20 Jahre zurück.
## „Man ist sich seines Lebens nicht sicher“
„Die politische Lage in Sierra Leone“, schreibt das Auswärtige Amt auf
seiner Homepage, „ist relativ stabil. Demonstrationen kommen gelegentlich
vor und können zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und
Verkehrsbehinderungen führen.“
So harmlos die Lage für deutsche Besucher zu sein scheint: Für einen großen
Teil der Einheimischen ist das Leben in Sierra Leone [2][nicht weniger als
die Hölle]. Zumindest wenn man Fatmata Sesay und Hawa Cramm Glauben
schenkt. Die beiden Frauen haben im Café der Glyptothek gleich neben dem
Königsplatz Zuflucht vor der Kälte gesucht. Sesay hat sich ein weißes
T-Shirt über ihren Pullover gezogen. Darauf steht: „Sierra Leone Refugees
Fighting Against Deportation“.
Ein wunderschönes Land sei Sierra Leone, erzählt die 25-Jährige, die vor
über sieben Jahren nach Deutschland kam. Die Natur – einmalig. Auch die
Küche – vorzüglich. „Und wir haben den schönsten Strand.“ Aber: „Man…
sich seines Lebens nicht sicher.“ Und dann erzählt sie die Geschichte eines
Volkes von ungebildeten Analphabeten, das von einer skrupellosen Elite
ausgebeutet wird, in dem ein Menschenleben nichts zählt. Von kleinen
Jungen, die 5.000 Leones dafür bekämen, jemanden zu töten. Verbrechen, für
die sich die Polizei nicht interessiere. „Und wissen Sie, wie viel 5.000
Leones sind?“, fragt Sesay. „2,50 Euro.“
Und Frauen hätten in Sierra Leone ohnehin keine Stimme. Anstatt sie in die
Schule zu schicken, würden Eltern ihre jungen Töchter mit alten Männern
zwangsverheiraten. Nicht selten würden elf- oder zwölfjährige Mädchen dann
geschwängert. Die meisten von ihnen stürben dann bei der Geburt. Und was
man hier in Deutschland häusliche Gewalt nenne, sei in Sierra Leone
schlicht der Alltag der Frauen.
## Vielen droht die Genitalverstümmelung
Die meisten Frauen würden zudem Opfer von Genitalverstümmelungen. Eine
Aussage, die sich mit Zahlen der Frauenrechtsorganisation Terre des Fremmes
von 2014 deckt. Danach werden 86 Prozent der Sierra-Leonerinnen im Namen
von Tradition und Aberglauben „beschnitten“.
Fatmata Sesay wuchs in Sierra Leones Hauptstadt Freetown mit Mutter,
Stiefvater und zwei jüngeren Geschwistern auf. Ihre Großmutter war Sowei,
Beschneiderin, zuständig für die Genitalverstümmelung der Mädchen in ihrer
Gemeinschaft. Als sie starb, erzählt Sesay, hätte sie an ihre Stelle rücken
und dafür erst einmal selbst beschnitten werden sollen. 17 war Sesay
damals, sie sagte Nein. Sie floh.
Mit Hilfe eines Hafenmitarbeiters gelangte sie auf ein Schiff, in eine
kleine Kammer, in der schon eine andere Frau saß. Es sei ein finsteres Loch
gewesen, so erzählt es Sesay. Brot habe es gegeben, sonst nichts. „17 Tage
blieben wir da drin. Und als sie mich rausgelassen haben, war ich in
Hamburg.“
Über eine Zwischenstation in Berlin sei sie schließlich in München
gelandet, lernte Lesen und Schreiben, machte einen Deutschkurs und ein
Praktikum im Krankenhaus. Demnächst will sie ihren Mittelschulabschluss
machen. Kontakt zu ihrer Familie hat sie nicht mehr. „Ich weiß nicht mal,
ob sie noch leben.“
## Die Botschaft Sierra Leones spricht von „Betrügern“
Neben Fatmata Sesay sitzt Hawa Cramm. Sie ist bereits seit 1996 in
Deutschland, seit dem Jahr, in dem Sesay geboren wurde. Beider Asylantrag
wurde anerkannt, doch damit gehören sie zu einer Minderheit. Die
Anerkennungsquote von Flüchtlingen aus Sierra Leone in Bayern schwankte in
den letzten fünf Jahren zwischen gerade mal 10 und 17 Prozent.
Jetzt solidarisieren sich die beiden Frauen mit den Menschen aus ihrer
Heimat, denen die Abschiebung droht. Hawa Cramm greift zu ihrem Handy, ruft
Fotos und Videos auf, auf denen Grausamkeiten zu sehen sind, die man nicht
sehen will: ein Gefolterter mit klaffenden Wunden; ein Festgenommener, dem
ein Polizist immer wieder voller Wucht mit einer Flasche auf den Kopf
schlägt; ein junges Mädchen, dem die Klitoris herausgeschnitten wird;
Männer, die an den Bäumen eines Dorfplatzes erhängt wurden; die Enthauptung
eines jungen Mannes mit einer Machete. Alle Bilder, so sagt Cramm, stammten
aus Sierra Leone. Verifizieren lässt sich Echtheit und Herkunft des
Materials freilich nicht.
Jedenfalls sind es Bilder und Videos, die die sierra-leonische Botschaft
nicht so gern im Umlauf sieht. Ohnehin dürften ihr die demonstrierenden
Landsleute ein Dorn im Auge sein. Bei den Anhörungen habe man ihnen
Vorwürfe gemacht, erzählen einige, die dort waren. Sie brächten ihr Land in
Verruf, habe es geheißen, und nun werde man dafür sorgen, dass sie nach
Sierra Leone zurückkämen und dort zur Rechenschaft gezogen würden.
Die Botschaft wiederum behauptete jüngst in einer Pressemitteilung, bei der
gemeinsamen „Identifizierungsmission“ mit den deutschen Behörden gehe es
lediglich darum, Betrüger ausfindig zu machen: Es gebe Hinweise darauf,
dass 70 Prozent der Flüchtlinge, die sich als Sierra Leoner ausgäben, in
Wirklichkeit aus anderen Ländern stammten. Diese Menschen vermittelten ein
falsches Bild „unseres geliebten Landes“. So sei letztens ein
vermeintlicher Sierra Leoner wegen Drogendelikten vor Gericht gestanden.
Von Ausreisepapieren ist in der Mitteilung nicht die Rede.
## Immer mehr Unterstützung aus der Politik
Das bayrische Landesamt für Asyl und Rückführungen indes macht keinen Hehl
aus seinen Absichten: Die Identifizierung laufe „letztendlich auf die
Ausstellung eines Heimreisedokuments (Passersatzdokuments) hinaus“. Auf
taz-Nachfrage, ob dies für die Betroffenen nun eine Abschiebung nach Sierra
Leone zur Folge habe, antwortet die Behörde: „Die zwangsweise Durchsetzung
der Ausreisepflicht ist nach Ausstellung eines Heimreisedokuments dabei
grundsätzlich möglich.“ Kurz: Mit Abschiebungen ist zu rechnen. Wann? Dazu
will das Landesamt sich nicht äußern. Man bitte um Verständnis.
Inzwischen wird die Unterstützung für die Demonstrierenden aus Sierra Leone
breiter. „Es ist eine Illusion zu denken, dass man diese Personen alle
abschieben könnte“, sagt etwa Katharina Grote vom Bayerischen
Flüchtlingsrat. Sie fordert eine Aufnahmeperspektive für die Flüchtlinge.
Mehr Arbeitserlaubnisse, ein besseres Angebot von Sprachkursen. Ähnlich
sehen es Organisationen wie Black Lives Matter oder der Münchner
Migrationsbeirat.
Auch aus dem Münchner Stadtrat kommen Solidaritätsbekundungen. Die
Fraktionen Die Grünen/Rosa Liste und Die Linke/Die Partei wandten sich
jeweils an Oberbürgermeister Dieter Reiter mit dem Appell, sich für die
sierra-leonischen Asylbewerber stark zu machen.
Die Menschen im Protestcamp wollen weiter am Königsplatz ausharren. Bei
einzelnen Aktion, etwa einem Marsch zur SPD-Parteizentrale, wollen sie
zusätzlich auf ihre Not aufmerksam machen. Eine größere Demo ist für den
18. Dezember geplant. „Wir machen so lange weiter, bis wir Hilfe bekommen“,
sagt Hawa Cramm. „Wenn wir aufhören, werden sie diese Menschen abschieben.
Die wollen lieber hier in der Kälte sterben als in Sierra Leone.“
25 Nov 2021
## LINKS
[1] /Gesundheitsversorgung-in-Sierra-Leone/!5750342
[2] /Inferno-in-Sierra-Leones-Hauptstadt/!5810514
## AUTOREN
Dominik Baur
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