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# taz.de -- Nationalsozialismus in deutschen Serien: Alle waren unwissend oder …
> TV-Serien wie „Charité“ schildern uns Nazideutschland als besonderen
> Abenteuerspielplatz. So wird das deutsche Grauen trivialisiert.
Bild: „Charité“: das deutsche Publikum liebt Nazigeschichten und nicht min…
Eine kleine Szene der TV-Serie „Charité“ (Das Erste) markiert das
Missratene dieser Fernsehproduktion. Gezeigt wird ein Wartezimmer im
Krankenhaus, nicht irgendeines, sondern eines in der Charité. Im berühmten
Weltspitzenkrankenhaus in Berlin kommen zusammen: Medizinstudentin Anni
Waldhausen, Hauptfigur der Serie, mit ihrer kleinen Tochter Karin, die an
einer Chromosomenanomalie zu leiden scheint – was die Mutter verzweifelt
stimmt, denn das sieht man im Nazideutschland gar nicht gern.
Eine solche Brut verdient Behandlung, euthanasierende. Neben der angehenden
Ärztin eine andere Frau mit schon etwas älterem Kind, körperlichen Kontakt
mit diesem ersichtlich meidend. Das Kind, ersichtlich also
drehbucherwünscht ungepflegt, vernachlässigt wirkend, wohl ein Mensch mit
Downsyndrom. Das wird gar nicht groß erklärt, aber man sieht als Zuschauer:
alles klar.
Für die Mutter, so ergibt sich aus der Szene, ist es keine Drohung, dass
ihr Kind auf eine Spezialstation kommen würde – „ist ja auch kein Leben“.
So weit, so ohnehin furchtbar. Was in dieser kaum anderthalb Minuten
dauernden Bilderflut allerdings ästhetisch angeboten wird, ist dies: Die
„gute“, sorgende Mutter sieht adrett aus, ihre Schauspielerin für diese
Serie, Mala Emde, ist fein frisiert, das Haar in blonden Wellen freundlich
ihr Gesicht umrahmend, fast wie eine weiche Madonna; die andere, der
NS-Logik ergebenen Mutter, ist grell gezeichnet, die Haare kühl, kantig
frisiert unter dem Hut, die Augenränder dunkel schattiert geschminkt, ihre
Blicke eifrig, kurz: ein Mustergeschöpf an Kaltherzigkeit und Einsicht in
die Nöte des braunen Volkskörpers: Ist doch auch kein Leben.
[1][So ist die TV-Serie „Charité“, so war sie in der ersten Staffel,] die
noch nicht in der Zeit des nationalsozialistisch selbst eroberten
Deutschland spielte, so ist sie nun, in der Ferdinand Sauerbruch im
Mittelpunkt steht, der deutsche Mediziner, Chirurg, der Heiler am
Operationstisch schlechthin, der deutsche Medizinschamane: eine farbige,
trotzdem Operationssaal-sterile Atmosphäre in toto, voller Klischees und
ohne eine einzige Szene, in der irgendetwas an Handlungen, Tönen und Gesten
überrascht. Das wäre eigentlich für Fernsehunterhaltungsstoff das sichere
Todesurteil – wer guckt schon, was er oder sie ohnehin schon kennt?
## Nazi + Krankenhaus = Quote
Aber das deutsche Publikum liebt Nazigeschichten und nicht minder
Krankenhausstorys, so wie in der ja keineswegs schlechten TV-Serie „In
aller Freundschaft“, die im Hier und Jetzt spielt, in der Leipziger
„Sachsenklinik“ und sich nur um Allzumenschliches kümmert und sich nicht an
horriblen Nazivergangenheiten abzuarbeiten hat. Aber Nazi plus Krankenhaus
– das macht Quote, als wären es kleine „Tatorte“, so millionenfach verfo…
das Publikum diese Serie, in der noch zwei Folgen ausstehen, deren letzte
aber ebenso verlogen „Die Stunde Null“ heißt, in der die sowjetischen
Eroberer Berlins sehr willkommen geheißen werden.
Liest man in den Zeitungen nach, wie die Macher*innen von „Charité“ ihre
Serie angelegt haben, ist viel guter Wille zu vernehmen. Selbst Ulrich
Noethen, der Darsteller des Ferdinand Sauerbruch, wird, als sei er ein
Historiker, einvernommen. Er ist Schauspieler, in „Charité“ wie all seine
Mitspieler*innen ohne ambivalentes Rollenspiel, [2][der in der Zeit neulich
zu Protokoll gab (kostenpflichtiger Inhalt),] er habe viel über das Vorbild
für seine Rolle gelesen und Verblüffendes an Erkenntnis gewonnen:
„Interessant fand ich, dass Sauerbruch wohl eine bipolare Störung hatte.“
Das entscheidende Wörtchen in diesem Satz ist „wohl“: Ulrich Noethen sieht
in dem Gott der modernen deutschen Ärzteschaft, dem in seinem Fach nicht
durchweg nazikompatiblen Mitläufer, einen kleinen psychischen Defekt – ganz
so wie die Deutschen, persilscheingewaschen so rasch, die Jahre zwischen
1933 und 1945 in ihrem Land auslegten: verführt, hereingelegt und ins
Verderben geführt durch braune Schergen, die nicht mehr alle Tassen im
Schrank haben.
Insofern ist „Charité“ eine Schmonzette für die Gemütshaushalte der
Deutschen, an die AfD-Chef Alexander Gauland seine „Vogelschiss“-Metapher
für die NS-Vergangenheit als nur zwölfjährige Anomalie der deutschen
Geschichte adressiert: Alle waren irgendwie dagegen, viel mehr waren
Widerstandskämpfer*innen, wenn auch nicht immer ersichtlich. Denn die
Verhältnisse, die waren ja riskant für die Aufrechten, nicht wahr? In den
fünfziger Jahren war dafür die Wendung populär, man habe sich ja „in
innerer Emigration“ befunden, ein giftiger Hinweis an die wenigen jüdischen
Remigrant*innen, dass man es ja auch nicht so leicht hatte bis 1945.
## Deutsch-selbstbesoffen
„Charité“ als TV-Produkt ist kein singuläres Ereignis für die Unfähigke…
der Deutschen, um es mal eher pathetischer zu formulieren, um den Verlust
ihres führergeführten Deutschland zu trauern, [3][wie ja die klassische
Formel von Alexander und Margarete Mitscherlich] ursprünglich gemeint war.
Nicht die Trauer um den selbst besorgten Verlust, besser: Mord an den
europäischen Juden, an Nachbar*innen und Kolleg*innen, sondern die um die
betrogenen Hoffnungen einer definitiv so gut wie gar nicht widerständigen
Nation gegen den Nationalsozialismus. Traurig, weil man verloren hat – zum
Glück der Nachgeborenen, möchte man natürlich anfügen.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat zur Differenz des NS-Deutschland zu
unserer heutigen Verfasstheit – und dank angloamerikanischer „re-education�…
ausführlich beschrieben – und sich dafür viel Ärger eingehandelt –, dass…
im NS-Deutschland nicht keine Moral gab, sondern eine andere, eben
nationalsozialistische. Eine, in der es Mitgefühl, wie es heute verstanden
wird, nur um die eigenen, die Herrenmenschen gab, nicht jedoch mit jenen,
die sie als Untermenschen oder Missratene verstanden und kalt, tödlich kalt
behandelten.
Keine deutsche TV-Produktion hat sich in einer realistischen Weise mal an
eine Skizze dieses NS-Deutschland gemacht – und schon gar nicht die
laufende namens „Charité“. Ein leider deutsch-selbstbesoffen besonders
preisgekröntes Beispiel ist auch „Unsere Väter, unsere Mütter“, ein
seifiges Machwerk, 2013 mit viel Trara als Quasi-Dokumentation der
schlimmen, der Jugend gestohlenen Jahre lancierten TV-Serie im ZDF. Was man
sah, war viel Kriegsästhetik mit Blitzen, Schrapnellen und zerschossenen
Körpern. Aber die jungerwachsenen Menschen, zum Nationalsozialismus so
dissident wie eine Hipster-Clique von heute gegen die schlimmen
bürgerlichen Verhältnisse, die kamen irgendwie aufrecht durch die Zeit,
fast ohne Schmutz an den Händen: Solche Eltern und Großeltern – die wollen
wir uns loben.
Nur dass es so nicht war. Nur im Fernsehen wird von der Stunde null an ein
Dauer-Mea-Culpa formuliert, ausnahmslos. Deutschland – ein insgeheimes
Widerstandsnest. Es stimmt irgendwie immer noch, was die aus ihrer Heimat
Deutschland geflohene Hannah Arendt nach 1945, ins zertrümmelte Land für
eine Recherchereise zurückgekehrt, schrieb: Dass deren Bewohner sich in
Sentimentalitäten ergingen, im Leid suhlten, das man ihnen angetan habe.
1968 formulierte die jüdische Remigrantin und Publizistin Hilde Walter
nicht als Erste, aber am treffendsten diese Beobachtung: „Es scheint, dass
die Deutschen uns Auschwitz nie verzeihen werden. Das ist ihre Krankheit,
und sie verlangen verzweifelt nach Heilung. Aber sie wollen sie leicht und
schmerzlos. Sie lehnen es ab, sich unters Messer zu legen, das heißt: sich
der Vergangenheit und ihrem Anteil daran zu stellen.“
Trostloserweise wird diese Sicht 51 Jahre später in einer TV-Serie
beglaubigt: Es gab so viele Gute damals, jetzt können wir es erkennen – und
geheilt sein.
5 Mar 2019
## LINKS
[1] /Neue-ARD-Serie-Charite/!5390462
[2] https://www.zeit.de/2019/09/ulrich-noethen-charite-ard-serie-nationalsozial…
[3] /Zum-Werk-Alexander-Mitscherlichs/!5182886
## AUTOREN
Jan Feddersen
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