# taz.de -- Politisches Buch „Zur rechten Zeit“: Verschiebung in deutschen … | |
> Vom Schlussstrich-Bedürfnis bis zur Parole „Wir sind das Volk“: Ein | |
> Sammelband gibt historische Tiefenschärfe in die Nation- und | |
> Heimat-Debatten. | |
Bild: Wieviel Halt im Leben doch eine Fahne geben kann | |
Dieses Buch kommt wirklich zur rechten Zeit. Unter der Federführung von | |
Norbert Frei hat sich in Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler | |
ein Team von Zeitgeschichtlern gefunden, das den deutschen Diskurs zu | |
Nation und Identität kritisch unter die Lupe nimmt. | |
Zurecht wird darauf hingewiesen, dass sich „die politische und | |
gesellschaftliche Tektonik bereits deutlich nach rechts verschoben“ hat, | |
„wenn gefühlt das halbe Land im Dauerdebattenmodus darüber streitet, was | |
Patriotismus und wo ‚Heimat‘ ist und wer oder was ‚deutsch‘“. Erinner… | |
tut Not. Zeitgeschichtler können helfen, für diesen Rechtsruck historisches | |
Hintergrundwissen zu liefern. | |
Richtig Rechtssein war nach dem Nationalsozialismus noch lange nicht tot, | |
es war nur lange out. Der Übergang vom nationalsozialistischen Deutschland | |
zu den zwei deutschen Staaten stellte das nationale Selbstverständnis vor | |
fast unlösbare Probleme. Entnazifizierung schien das Gebot der Stunde. Aber | |
wie weit sollte sie gehen, wenn die überwältigende Mehrheit der Deutschen | |
das von außen besiegte System unterstützt hatte? | |
Die westlichen Alliierten griffen die Hauptkriegsverbrecher heraus und | |
überließen den deutschen Spruchkammern den Rest. Schnell machte das Wort | |
der „Siegerjustiz“ die Runde. Ebenso mobilisierte der Vorwurf der | |
Kollektivschuldthese die deutschen Gemüter, als ob nicht gerade die | |
Spruchkammern dazu verpflichtet waren zu differenzieren. | |
Das Bedürfnis nach einem Schlussstrich kam auf, nicht nur am rechten Rand, | |
sondern in der Mitte der Nachkriegsgesellschaft. Die wichtigsten Parteien | |
der neuen Bundesrepublik versuchten sich mit einer „Vergangenheitspolitik“ | |
mit antialliierter Polemik eine gesellschaftliche Basis zu verschaffen. Von | |
Beginn an war der nationale Diskurs im Westen durch das unaufgeklärte | |
Verhältnis zu Nationalsozialismus und Weltkrieg kontaminiert. | |
## Angeblich erzwungene „Erinnerungskultur“ | |
Man muss sich nicht wundern, wenn die neue Rechte auf diese Geschichten | |
zurückkommt. Aber ihre Geschichte besteht aus Gerüchten. Die angeblich | |
erzwungene „Erinnerungskultur“ und die Unschuld der deutschen Soldaten sind | |
zentrale Ansatzpunkte ihrer System- und Elitenkritik. Dabei ist die | |
Erinnerungskultur ein (umstrittenes) Ergebnis jahrzehntelanger | |
gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. | |
Noch 1998 hielt Martin Walser seine berüchtigte Auschwitzkeulenrede in der | |
Frankfurter Paulskirche. Er erntete damit nicht sofort stürmischen Protest, | |
sondern Standing Ovations des Festpublikums. Nur Ignatz Bubis und Pastor | |
Schorlemmer blieben sitzen. Gesichert scheint die Erinnerungskultur | |
keineswegs, und die vehemente Kritik an der Traditionspolitik der | |
Verteidigungsministerin kommt heute nicht nur vom rechten Rand. | |
Noch schlimmer sieht es mit der Migration aus, die von den Autoren des | |
Bandes in ihren unterschiedlichen Aspekten in West und Ost thematisiert | |
wird. Xenophobe Reaktionen hat es in BRD und DDR zu verschiedenen | |
Zeitpunkten gegeben; die Vereinigung wurde nach 1990 von rassistischen | |
Ausschreitungen in Ost und West begleitet. Hier wuchs etwas zusammen, was | |
die Euphorie über den Sturz der DDR-Diktatur nicht verdecken konnte. Mit | |
der „Wir sind das Volk!“-Parole versucht heute die neue Rechte die | |
demokratische Legitimität des Protestes in eine ethnische Systemkritik zu | |
transformieren. | |
## Ambivalentes Erbe der DDR | |
Der neue Nationalismus in Deutschland lässt sich ohne die Vereinigung der | |
beiden deutschen Gesellschaften nicht verstehen. Der Blick auf den | |
offiziellen Antifaschismus der DDR offenbart schonungslos die Travestie | |
eines Ideals, das zur Herrschaftslegitimation missbraucht wurde. Ebenso | |
verkam die propagierte Internationale Solidarität zu einer hemmungslosen | |
Ausbeutungspraxis von Arbeitskraft aus der sogenannten Dritten Welt. | |
Das Erbe der DDR ist ambivalent; demokratische Volksbewegung vermischte | |
sich mit ethnisch eingeengter Solidarität. Mit der Vereinigung und ihren | |
Frustrationen konnten ethnonationale Vorstellungen zum Vehikel einer | |
populistischen Systemkritik werden. Diese ethnonationalen Vorstellungen | |
wurden lange in der alten BRD am Leben gehalten. Die Lebenslüge | |
„Deutschland ist kein Einwanderungsland“ ließ sich nach 1990 aber nicht | |
mehr aufrechterhalten. Aus dieser Dynamik entstand der Rechtsdrift der | |
ehemaligen Professorenpartei AfD, der Ost und West wirklich zusammenwachsen | |
ließ. | |
Diesem populistischen Nationalismus scheint es zu gelingen, den „besorgten | |
Bürger“ ebenso wie den gewaltbereiten Rechtsradikalen zusammenzubringen. | |
Umso beunruhigender, dass mit den identitären Ideologen ein intellektueller | |
Beistand erwachsen ist, der es bis in die Feuilletons des verhassten | |
Mainstreams geschafft hat. Mir scheint es weniger eine Rückkehr zu sein: | |
Das, was da auf uns zukommt, gab es so noch nicht. | |
6 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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Lesestück Meinung und Analyse | |
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