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# taz.de -- Rechte Intellektuelle in Frankreich: Autoritäre Pirouetten
> Was droht, wenn sich die Distanz zwischen konservativer Weltsicht und
> nationalistischer Ideologie verringert? Das lässt sich in Frankreich
> studieren.
Bild: Rechte behaupten, Frankreich habe „das Evangelium im Blut“: Galerie d…
Im [1][Vorfeld der Wahlen zum EU-Parlament] Ende Mai dieses Jahres werden
Demokratie und Rechtsstaat von zwei Seiten in die Zange genommen. Von
rechts außen droht eine Stärkung der im Vormarsch befindlichen
rechtsradikalen und rechtspopulistischen Parteien zwischen Finnland und
Kalabrien sowie zwischen Frankreich, Polen und Estland. Der Erfolg dieser
Parteien hat regional bzw. national unterschiedliche Ursachen und
politisch-kulturelle Entstehungsbedingungen.
Die andere Seite des Angriffs auf Demokratie und Rechtsstaat kommt aus der
politischen Mitte, ist aber ebenso gefährlich wie der von rechts außen. Von
bürgerlich-konservativer Seite wird zielstrebig die Verschiebung der Grenze
zwischen demokratisch fundierter konservativer und
populistisch-rechtsradikaler Politik befördert. Das beginnt in der
Bundesrepublik mit der Ventilierung von neuen Koalitionen in der Ost-CDU,
die eine Koalition mit der AfD nach den nächsten Landtagswahlen nicht mehr
ausschließt.
In Frankreich bot die Rechtspopulistin Marine Le Pen vom „Rassemblement
National“ (RN) dem wackelnden Präsidenten Macron und seiner Marschbewegung
(LRM) eine „Cohabitation“ an, wozu allerdings zuerst das
kryptodemokratische Mehrheitswahlrecht in ein demokratisches
Verhältniswahlrecht überführt werden müsste. Der Präsident schweigt dazu.
Aus der bürgerlich-konservativen medialen Öffentlichkeit wird zur
Grenzverschiebung zwischen Konservatismus und Rechtsradikalismus längst
nicht mehr geschwiegen. Éric Zemmour, Starkolumnist beim Figaro, der
größten konservativen Zeitung, Animator von Talk-Shows und Autor eines
Dutzends von Bestsellern, die regelmäßig Auflagen von über 300.000
Exemplaren erzielen, hat diese Grenzverschiebung zu seinem Markenzeichen
gemacht.
## Abwertung des Rechtsstaats
In seinem aktuellen Buch mit dem Titel „Destin Français“ („Französisches
Schicksal“) betreibt er eine Annäherung von Konservatismus und Le Pen bzw.
RN mit hemmungsloser Verherrlichung der Nation bis hin zum Nationalismus
sans phrase und ebenso schrankenloser Abwertung von Demokratie, Rechtsstaat
und europäischer Integration.
Als Sohn armer jüdisch-algerischer Einwanderer und naturalisierter Franzose
kann er sich Urteile über Frankreich, Juden, Muslime und Europa erlauben,
für die sich Autoren mit weniger Herkunftsrabatt ins politische Abseits
rechtsradikaler Sackgassen manövrieren würden oder sich den Vorwurf der
Islam- und Fremdenfeindlichkeit, des Rassismus und Antisemitismus gefallen
lassen müssten: „Israel ist heute die Nation, die sich Frankreich versagt
zu sein. Eine wilde Nation, selbstsicher und herrisch.“ Durchaus im
Horizont solcher Sätze liegt sein Vorschlag, Wohngebiete von Terroristen in
Brüssel/Molenbeek zu „bombardieren“ (NZZ, 7. 1. 2016).
Eine französische Spezialität ist die Grenzverschiebung zwischen
Konservatismus und Rechtsradikalismus nicht. Sie wird nur von Zemmour und
anderen in Frankreich radikaler praktiziert als hierzulande. Aber Zemmours
These, „das Hauptproblem ist die Einwanderung und die damit einhergehende
Entstehung eines zweiten Volkes auf französischem Boden“, fand hier wie
überall Resonanz. [2][Akif Pirinçci] reimte sie bei der Jubiläumskundgebung
von Pegida auf das Schlagwort „Umvolkung“ (Handelsblatt, 12. 2. 2019).
Jasper von Altenbockum fragte zum Jahreswechsel in seinem FAZ-Leitartikel
tief besorgt: „Sind wir noch ein Volk?“ ([3][FAZ, 31. 12. 2018]).
Darin rehabilitierte er „völkisches Denken“ und erhielt von den
Rechtsradikalen unter seinen Lesern die erwünschte Antwort. In Andalusien
versteht sich Vox, der rechtsradikale Koalitionspartner des
bürgerlich-konservativen Partido Popular, als Partei des „extrem gesunden
Menschenverstands“. Zemmour holt in seinem über 500 Seiten starken Buch
weit aus, um die Nation im „geheiligten Licht“ ihrer „Größe selbst in d…
Niederlagen“ leuchten zu lassen. Das Wort vom „geheiligten Licht“ ist
wörtlich zu nehmen, denn Zemmour hält sich noch an das Gerücht aus alten
und ganz windigen Schulbüchern,: „Frankreich“ sei von Anfang an „christl…
bis ins Mark“ gewesen und habe „das Evangelium im Blut“.
## „Lumpengewänder des Rechtsstaats“
Natürlich war „Frankreich“, als der Name für das Land aufkam und noch lan…
danach, tatsächlich aber kein ethnisch homogenes Gebilde, sondern ein
Gemisch aus „bunten“ gentilen Verbänden – Kelten, Römern, Galliern,
Bretonen, Normannen, Burgundern und anderen. Einzig im Seinebecken betrug
der Anteil der aus dem Osten eingewanderten (!) Franken, dem vermeintlichen
Urvolk, im 6./7. Jahrhundert um 10 Prozent, sonst überall weniger.
Derlei interessiert Zemmour, dem nur Unbedarfte solide historische Bildung
zubilligen, natürlich nicht. „Frankreich definiert sich“ für ihn „durch
seine Geschichte“ und nicht durch die „Lumpengewänder des Rechtsstaats“
oder die Menschenrechte. Geschichte meint bei ihm vor allem „Kriege“,
„Bürgerkriege“ und „große Männer“, kurzum: „eine eiserne Hand, ob
monarchisch, kaiserlich oder republikanisch“.
Folglich lässt er Frankreichs Schicksal mit der Taufe des legendären
Merowinger-Häuptlings Chlodwig in Reims im Jahr 496 beginnen. Von dem weiß
man nur, dass er (vielleicht) seine männliche Verwandtschaft eigenhändig
ausgerottet hat. Zemmour adelt ihn zum „Ursprung unserer Nation“. Der
Historiker Karl Ferdinand Werner urteilt nüchterner: „Man darf jedoch nicht
übersehen, dass ein guter Teil der Episoden [über Chlodwig], die von der
Geschichtsschreibung überliefert werden, sagenhafte Züge trägt“.
Mit Zemmour über historische Fakten zu streiten ist aussichtslos. Für ihn
beginnt „das messianische und zivilisatorische Frankreich mit den
Kreuzzügen, in denen sich „Waffenruhm“ als „höchste Kunstform“ erwies…
„den Pazifismus“ und „die abstrakte und blinde Religion der Menschenrecht…
dauerhaft widerlegte. „Held aller Helden“ Frankreichs ist Le Grand Ferré,
der seine Axt im Hundertjährigen Krieg (1337–1453) für die „königliche
Religion“ einsetzte. Mit diesem Krieg wurde die Armee für 300 Jahre „das
Bollwerk Frankreichs“, wie sich General de Gaulle ausdrückte. Öfter als auf
diesen bezieht sich Zemmour nur auf Napoleon. Beide haben „das Land vom
Rande des Grabes an den Haaren“ herausgezogen, im Vertrauen auf die
heilsgeschichtlich und biblisch fundierte, exklusiv französische Lehre von
der „konzentrierten (absoluten) und geheiligten Macht“ des frommen Bischofs
Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704).
## Armee und Auferstehung
Für Zemmour ist die Armee so etwas wie die Versicherung der nationalen
Auferstehung. Verliert die Armee wie im Krieg gegen Hitlers Wehrmacht 1940
und, in Zemmours Augen, in der Suezkrise von 1956 gegen die USA, schöpft
sie daraus immer Kraft – bis hin zur Entwicklung von Atomwaffen. Denn:
„Unsere größten Erfolge entspringen dem schrecklichsten Scheitern, so wie
unsere totalen Katastrophen einhergehen mit unseren strahlenden Erfolgen.“
Der „französische Herr wurde zum Vasallen“, als man begann, „im
französischen Generalstab englisch zu sprechen“ und damit „die Gewohnheit,
die Lust, den Mut, die Fähigkeit verlor, militärische Operationen in voller
Unabhängigkeit zu planen und allein auszuführen“.
Mit seinen eigenwilligen historischen Pirouetten verringert Zemmour die
Distanz zwischen der Weltsicht der bürgerlich-demokratisch-konservativen
und der im Rassemblement National von Marine Le Pens herrschenden
nationalistischen Ideologie. Das trifft auch auf aktuelle Probleme zu wie
den Umgang mit Muslimen, die Marine Le Pen abschieben möchte und die
Zemmour als Kriegsgegner betrachtet: „Wenn zwei Völker auf einem
Territorium leben, dann herrscht normalerweise Krieg“. Und da die
Sozialisten die Armee schwächten und die Todesstrafen abschafften, fehlten
Frankreich Mittel zum „Kampf jenseits demokratischer Gesetze“ (Zemmour).
4 Mar 2019
## LINKS
[1] /Europaparlament-nach-der-Wahl/!5571011
[2] /Geldstrafe-fuer-Akif-Pirincci/!5447791
[3] https://www.faz.net/aktuell/politik/kommentar-sind-wir-noch-ein-volk-159659…
## AUTOREN
Rudolf Walther
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