| # taz.de -- Macrons Bürgerdialog: Wir müssen reden, Chérie | |
| > In diesen Tagen diskutieren Menschen in ganz Frankreich über die | |
| > politische Zukunft des Landes. Nicht immer geht es dabei um die „großen“ | |
| > Fragen. | |
| Bild: Retter in der Not? Macron (links) will Europa bewahren. Gern mit Deutschl… | |
| PONT DE L'ARCHE/PARIS taz | Pont de l'Arche ist ein historisches Städtchen | |
| mit 4.200 Einwohnern am Lauf der Seine und der Eure in der Normandie. | |
| Gegenüber dem Rathaus treffen am späten Nachmittag die | |
| DiskussionsteilnehmerInnen ein. Die meisten kennen sich, auch die zwei | |
| Gendarmen in Uniform, die als Ordnungsdienst angefordert worden sind, | |
| werden mit Handschlag begrüßt. | |
| Die Debatte beginnt in nach vier Themen aufgeteilten Gruppen mit je 15 bis | |
| 20 Personen. Sie stellen sich mit ihren Vornamen vor, die meisten sagen | |
| auch, warum sie hier sind. In der Gruppe „Bürger in der Demokratie“ sind | |
| mehr als die Hälfte der Teilnehmer bereits in Rente, mehrere sind in | |
| lokalen Vereinen aktiv. Schnell wird klar, dass viele vor allem das | |
| Bedürfnis verspüren, mit anderen zu reden. | |
| Frankreich streitet zuerst und diskutiert anschließend. In vielen Städten | |
| und Dörfern werden derzeit im Rahmen einer von [1][Präsident Emmanuel | |
| Macron] angeordneten „Großen Nationalen Debatte“ lokale Diskussionsrunden | |
| organisiert – insgesamt sind es mehr als 8.000. | |
| Ende März soll alles zusammengefasst und im April ausgewertet werden. | |
| Niemand weiß, was am Ende von den Vorschlägen, Forderungen, Beschwerden | |
| oder Ratschlägen tatsächlich berücksichtigt wird. | |
| ## „Sonst wird es erst recht krachen“ | |
| Die Regierung feiert aufgrund der starken Beteiligung der Bürger und | |
| Bürgerinnen bereits einen „enormen Erfolg der partizipativen Demokratie“. | |
| Sie hofft, dass derweil der [2][Bewegung der Gelbwesten], die mit ihren | |
| Protesten seit mehr als drei Monaten Grund und Auslöser dieses landesweiten | |
| Palavers ist, die Luft ausgeht. | |
| Richard Jacquet ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Pont de l'Arche. Er | |
| mag nicht verhehlen, dass er hinsichtlich der konkreten Resultate nicht | |
| sehr optimistisch ist: „Ich bin nicht für einen Boykott der Debatte, aber | |
| falls es als Resultat nur ein paar kosmetische Verbesserungen geben sollte, | |
| wird es erst recht krachen.“ | |
| Wenn heute überhaupt in diesem breiten Ausmaß debattiert werden darf, dann | |
| sei dies weniger das Verdienst eines Staatschefs, der besonders auf die | |
| Volksmeinung hört, sondern eine [3][Folge der Gelbwesten-Bewegung]. Seit | |
| Jahren kürze der Zentralstaat die finanziellen Zuwendungen an die Kommunen | |
| und trage zur Verschlimmerung der Probleme bei. Als „Maire“ befinde er sich | |
| selber stets „zwischen Hammer und Amboss“. | |
| ## Das Verdienst der Gelbwesten | |
| An der Debatte im kommunalen Saal wollte er selber nur als stiller | |
| Beobachter teilnehmen. „Die Erwartungen sind groß, die Wünsche vielleicht | |
| sogar unerfüllbar“, meint Jacquet bekümmert. „Wie bei der Kunst oder dem | |
| Theater denken im Voraus viele Leute resigniert, das sei ohnehin nicht für | |
| sie.“ | |
| Die Diskussion beginnt. „Das große Verdienst der Gelbwesten ist es, dass | |
| sie das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit auf die Probleme vieler | |
| Mitbürger gelenkt haben. Aber jetzt dürfen wir nicht das Kind mit dem Bad | |
| ausschütten“, warnt Albert, der ein Heim für mehrfach verurteilte | |
| Jugendliche leitet und ursprünglich aus dem Kongo stammt. | |
| „Ich habe als Kind in einer Diktatur gelebt, eine Bewegung wie die | |
| Gelbwesten wäre dort in zwei Tagen unterdrückt worden. Mir gefällt es gar | |
| nicht, wie die Gelbwesten den Präsidenten oder Polizisten attackieren“, | |
| präzisiert er zum Thema Gewalt bei den Demonstrationen. | |
| „Die Regierung hat doch bloß Verachtung für das Volk“, entgegnet ihm die | |
| Hilfspflegerin Zora. Sie unterstützt die Gelbwesten aktiv. „Ich habe mich | |
| mehrmals an den Blockade-Aktionen auf den Kreiseln beteiligt. Als dann | |
| Rechtsextreme gekommen sind und sich einmischen wollten, hat mich das wie | |
| andere total angewidert.“ Sie möchte, dass die Debatte zu einer Annäherung | |
| der Bewohner mit verschiedener Herkunft und sozialer Stellung führt. | |
| ## Neue Perspektive der Basisdemokratie | |
| „Wir werden von einer kleinen Minderheit regiert“, meint der Rentner Guy | |
| Paul, der angibt, er habe sich bereits schriftlich „mit fünf Seiten“ an der | |
| nationalen Debatte beteiligt. Vorher sei er während 25 Jahren im | |
| öffentlichen Dienst gewerkschaftlich aktiv gewesen. | |
| „Ich schäme mich ein wenig dafür, dass wir die Gelbwesten ziemlich im Stich | |
| gelassen haben. Wir Rentner sollten uns stärker mobilisieren. Wir können | |
| ein Beispiel geben und dazu beitragen, dass es nicht zu Gewalt kommt. An | |
| die Wahlen glaube ich nicht mehr, ich setzte mehr auf die Solidarität und | |
| direkte, friedliche Aktionen.“ | |
| Dass in derselben Runde Eric vor allem die Bedeutung der Erziehung der | |
| SchülerInnen zu „aktiven und verantwortungsvollen Gesellschaftsmitgliedern“ | |
| betont, ist nicht erstaunlich, denn er leitet die gegenüber liegende | |
| Grundschule. „Ja, den Kindern muss im Schulzimmer erklärt werden, wozu die | |
| Steuern dienen, und dass diese nicht eine Strafe sind, sondern zum Beispiel | |
| der Anschaffung der Stühle dienen, auf denen die Kinder sitzen. | |
| Es brauche aber auch staatsbürgerliche Programme über Europa, ergänzt | |
| voller pro-europäischem Enthusiasmus der grauhaarige Gilbert. Die | |
| Gelbwesten hätten für ihn eine neue Perspektive der Basisdemokratie | |
| eröffnet: „Wir wollen nicht ins alte Schema zurückfallen, wo die Chefs in | |
| Paris sagen, was wir tun sollen.“ | |
| ## Für Frauen noch schwerer zu ertragen | |
| Nicht alle sind so gesprächig wie die Ex-Gewerkschafter Guy oder Gilbert. | |
| Schweigsam ist zunächst auch eine rothaarige Frau, die alle Blicke auf sich | |
| zieht, als sie sich zu den Versammelten setzt. Pont de l'Arche ist der | |
| Wohnort von Ingrid Levavasseur Die 31-jährige Krankenpflegerin ist eine | |
| landesweit bekannte Exponentin der Gelbwesten. | |
| Ihre plötzliche Bekanntheit hat ihr nicht nur Anerkennung eingebracht. Als | |
| sie im Januar eine Liste der Gelbwesten für die kommenden EU-Wahlen | |
| ankündigte, hagelte es Beschimpfungen. Später am Abend verrät sie, mit | |
| anderen aus den Reihen der Gelbwesten eine Partei gründen zu wollen. | |
| Bei einer Demonstration im Februar wurde sie in Paris von Gegnern in gelben | |
| Westen in äußerst grober Weise sexistisch beschimpft und bedroht. | |
| Einschüchtern lässt sie sich deswegen nicht. „Bei meinen Hausbesuchen habe | |
| ich gesehen, in welcher Misere viele Leute leben. Für die Frauen sind diese | |
| prekären Bedingungen meistens noch schwerer zu ertragen, und oft haben sie | |
| noch weniger Möglichkeiten, sich zu äußern.“ | |
| Viel guter Wille und der Wunsch, bei der Staatsführung konkrete | |
| Verbesserungen durchzusetzen, ist auch in den anderen Gruppen zu hören. In | |
| der Runde mit dem Thema „Ökologie und Energiewandel“ wird vorgeschlagen, in | |
| den Schulkantinen vegetarische Menüs zu fördern. | |
| ## „Reden macht nicht satt“ | |
| Eine weiteres Thema ist der häufig lange Weg zur Arbeit. Die | |
| Eisenbahngesellschaft SNCF wollte zum Jahresende den Bahnhof von Pont de | |
| l'Arche schließen. Aufgrund der starken Proteste bekommt der Anschluss | |
| jetzt eine dreijährige Gnadenfrist. | |
| In der Gruppe „Steuern und öffentliche Ausgaben“ wird mehr Transparenz bei | |
| den staatlichen Ausgaben, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Produkte des | |
| täglichen Konsums sowie eine Besteuerung von Internetkonzernen gefordert | |
| und über eine Kompensationsabgabe für Landsleute mit Wohnsitz im Ausland | |
| diskutiert. | |
| Doch was bleibt am Ende dieses einzigartigen Bürgerdialogs? „Wegen der | |
| thematisch eingeschränkten Art, wie diese Debatte von Macron organisiert | |
| wurde, bin ich sehr besorgt. Auf diese Art wird da nicht viel herauskommen. | |
| Reden allein macht nicht satt“, meint der Gewerkschaftssenior Guy. Er | |
| scheint mit seiner Skepsis nicht allein zu sein. | |
| ## Die „sehr-viel-Steuer“-Zahler | |
| An den demokratischen Nutzen des direkten Dialogs unter den Bürgern glaubt | |
| hingegen der Filmemacher Eric Rochant. Als einer der ganz wenigen | |
| Kulturschaffenden hatte er im Rathaus des 14. Arrondissements von Paris | |
| eine Debatte initiiert. Sein Motiv: „Wir richten uns an alle, die handeln | |
| wollen, weil die Bewegung der Gelbwesten eine echte Malaise zum Ausdruck | |
| bringt.“ | |
| Schnell wird beim Meinungsaustausch im prunkvollen Saal deutlich, dass es | |
| hier im Unterschied zur Veranstaltung in der ländlichen Normandie weniger | |
| um Alltagssorgen geht, sondern um Fiskalpolitik und technische | |
| Lösungsvorschläge. Diese Diskussionsteilnehmer kennen sich nicht, sie | |
| stellen sich weder mit Namen noch Beruf vor, geben aber oft stolz an, dass | |
| sie „sehr viel Steuern bezahlen“. | |
| Colette, die immerhin ihren Vornamen nennt, schlägt vor, dass auch die | |
| Haushalte, die heute von der Einkommenssteuer befreit sind, als Zeichen der | |
| Anerkennung als vollwertige Staatsbürger einen minimalen und symbolischen | |
| Beitrag leisten sollten. | |
| ## Echte Mitbestimmung | |
| Ein im Saal anwesender Beamter der Steuerbehörde gibt zu bedenken, das | |
| komme allein schon wegen der Kosten nicht infrage. Von den Gelbwesten | |
| spricht niemand. | |
| Am Ende der Veranstaltung ist Rochant mit dem Verlauf nicht sehr zufrieden: | |
| „Man könnte ja meinen, dass wir hier sind wegen der Gewalt bei den | |
| Demonstrationen. Das stimmt nicht. Wir sind hier wegen der Umfragen, die | |
| belegen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Gelbwesten | |
| unterstützt. | |
| Deswegen hat die Regierung diese Debatte organisiert. Und ich glaube | |
| aufrichtig, dass sie alle Meinungsäußerungen berücksichtigen wird. Sollte | |
| dies nicht der Fall sein, hätten wir allen Grund, uns zu empören.“ | |
| Draußen vor der Tür setzen einige Teilnehmer ihre Diskussion fort. Mit der | |
| „Großen Nationalen Debatte“ hat die Regierung zwar auf Kosten der auf | |
| sofortiges Handeln drängenden Gelbwesten Zeit gewonnen. Zugleich aber ist | |
| damit die langfristige Nachfrage nach einer echten Mitbestimmung gestiegen. | |
| 6 Mar 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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