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# taz.de -- Verstorbene Obdachlose in Hamburg: „Joanna kaputt“
> Die Obdachlose Joanna wird am Morgen des 28. Oktober leblos auf einer
> Bank in Hamburg gefunden. Der Versuch, mehr über sie zu erfahren.
Bild: Es gab kein Bett in einer Langzeittherapie für sie: Joanna starb
Hamburg taz | Eigentlich legen die Leute an Unglücksorten Blumen nieder und
stellen Kerzen auf. Wenn Menschen durch einen Unglücksfall zu Tode kommen,
durch etwas, was man für vermeidbar hält. An der Bank in der Fußgängerzone
in Hamburg-Niendorf steht nichts.
Auf ihr hat man am Morgen des 28. Oktober Joanna leblos aufgefunden, eine
43-jährige polnische Obdachlose. Sie starb im Krankenhaus. Vermutlich ist
sie erfroren, noch liegt das Ergebnis der Obduktion nicht vor. Das
Winternotprogramm begann wenige Tage später. Dies ist der Versuch, die
Spuren dieser Frau nachzuzeichnen, etwas mehr zu finden als ihren Vornamen
und ihr Alter.
Vielleicht könnte ich am Dienstag bei Hinz&Kunzt jemanden treffen, der
Joanna gekannt habe, sagte mir ein Mitarbeiter der Straßenzeitung am
Telefon. Straßenzeitung ist ein dürftiger Begriff für dieses Hamburger
Projekt. Es ist der Versuch, den Obdachlosen eine Stimme und eine Lobby zu
geben, es ist für viele alles, was sie an Geborgenheit noch finden können.
Am Dienstag wird das neue Heft an die VerkäuferInnen ausgegeben, der Raum
ist voller Stimmen, viele davon osteuropäisch. Aber es ist niemand da, der
Joanna gekannt hätte. Also schickt man mich zu Stephan Karrenbauer, einem
schmalen Mann mit kinnlangem Haar, der bei Hinz&Kunzt für die Sozialarbeit
zuständig ist. Seit 30 Jahren und trotzdem leuchtet sein Gesicht, wenn er
über seine Arbeit spricht.
## Am Anfang war die Hoffnung
„Sie war gezeichnet“, das ist das erste, was Stephan Karrenbauer zu Joanna
einfällt. Es macht ihn zornig und traurig zugleich, wenn den Leuten zu
ihrem Tod vor allem eines einfällt: Sie hat ja viel getrunken. Als er ihr
vor sechs Jahren zum ersten Mal begegnete, war sie eine andere Frau:
„Voller Elan und Hoffnung, hier Fuß zu fassen.“ Sie wollte arbeiten – ab…
hat keine Arbeit gefunden. Warum nicht? Karrenbauer kann nur spekulieren:
weil ihr Deutsch nicht genug war, um wirklich Fuß zu fassen und sich das im
Lauf der Jahre nicht deutlich verbessert hat.
Er holt zwei Bilder von ihr und legt sie nebeneinander: links eine Frau mit
kurzem, leicht gewelltem Haar, rundem Gesicht, Wimperntusche. Sie muss
damals Ende 30 gewesen sein, aber sie wirkt deutlich jünger. Auf dem
anderen Bild lächelt sie ebenfalls, aber sie hat Augenringe, das Gesicht
ist fülliger, geschminkt ist sie nicht. Es ist schwer zu glauben, dass nur
sechs Jahre zwischen den Aufnahmen liegen.
Der Tod scheint weit weg in der heiteren Umtriebigkeit rund um Karrenbauers
Büro. Hinz&Kunzt wird 25 Jahre, deswegen sieht man zwischen den
VerkäuferInnen die Tonangeln der Fernsehleute herausragen. Zwischendrin
fragt Karrenbauer einen Verkäufer, ob der ein Interview geben würde. „Du
bist doch nun schon eine Weile dabei“, sagt er, „willst Du nicht mit
Hamburg 1 sprechen?“
Der Verkäufer hat Lust, er möchte vorher noch schnell zum Friseur, er
braucht auch einen neuen Schlafsack, weil ihm der andere geklaut wurde. Der
Tod scheint weit weg, aber er ist es nicht. Pro Jahr sind es zwanzig bis
dreißig Obdachlose, deren Tod man bei Hinz&Kunzt mitbekommt – andere
sterben unbemerkt. Zu Beginn seiner Arbeit, sagt Karrenbauer, habe er sich
wie ein Berufstrauernder gefühlt.
## Trinken gegen die Angst
Karrenbauer weiß nicht, ob Joanna in Polen einen Beruf hatte, vielleicht
sogar Kinder. Er weiß nicht, ob sie schon alkoholkrank war, als sie kam –
und er macht sehr deutlich, dass das für ihn auch keine Rolle spielt. Auch
als Alkoholkranker könne man eine Wohnung unterhalten, sagt Karrenbauer,
natürlich könne man das.
Er sieht seit 30 Jahren sonntags mit einem Freund den „Tatort“ und er sah
ihn auch an dem Sonntag, an dem Joanna im Krankenhaus starb. Gemeinsam
leerten er und sein Freund eine Flasche Rotwein, Karrenbauer wurde müde und
nickte auf dem Sofa ein. „Ich kann das“, sagt er und hat nicht den Zorn
verloren und die Überraschung, wie selbstverständlich das für ihn ist und
wie lebensgefährlich für die da draußen auf der Bank.
Dort trinkt man gegen die Angst, man trinkt, um schlafen zu können, obwohl
man bedroht ist: vertrieben zu werden, bestohlen, attackiert. Es sei
unglaublich, wie eine Wohnung, wie sicherer Schlaf die früher Obdachlosen
veränderten. „Sie sehen aus, als kämen sie von der Wellness-Farm“, sagt
Karrenbauer. Und sie hören auf zu trinken.
Joanna und ihr Lebensgefährte waren schon lange keine Kandidaten mehr für
den normalen Wohnungsmarkt. „Sie hatte nicht mehr diese Kraft, diese
Ausstrahlung“, sagt Karrenbauer. Und wer schafft es, wer erhält sie sich?
Es scheint, dass man Glück haben muss, rechtzeitig einen Ast, eine Hand zu
fassen zu bekommen, um es an Land zu schaffen.
Es scheint, dass es einmal eine solche Hand gegeben hat. Bettina L. hat
Joanna und Robert auf der Straße streiten sehen, sie hat sie zu sich nach
Hause gebeten, um die Situation zu entschärfen. Die beiden haben sogar bei
ihr gewohnt – unter der Bedingung, dass sie keinen harten Alkohol trinken.
Eine Weile hat das geklappt, so hat es Bettina L. dem Niendorfer
Wochenblatt erzählt.
## Kein Therapieplatz für Joanna
Aber dann kippte es, Wodka tauchte im Haus auf und L. beendete, so sagt
sie, „das Experiment“. Joanna ist immer wieder ins Krankenhaus gekommen,
hat Alkoholentzüge hinter sich gebracht und dann doch wieder getrunken. Sie
wollte eine Langzeittherapie machen, sie habe um einen Platz „gebettelt“,
vergebens.
Stephan Karrenbauer glaubt, dass das an Joannas mangelnden
Sprachkenntnissen und an der fehlenden Krankenversicherung gescheitert ist.
Er selbst erinnert sich sehr offen an die ambivalenten Gefühle, die die
Situation in ihm aufkommen ließ. „Ich konnte ihr nichts anbieten“, sagt er.
Einen Schlafsack, ja, Essen, ja – aber keine Perspektive. Nicht das, was er
als seine eigentliche Aufgabe versteht. In dieser Gesellschaft gibt es
schon kaum Perspektiven für deutsche Obdachlose. Die Klassengesellschaft
reicht bis in die Obdachlosigkeit hinein und ganz unten findet man die
osteuropäischen Obdachlosen.
„Irgendwann ist man dann versucht, ihr die Mitschuld zu geben“, sagt
Karrenbauer. Aus Zorn darüber, dass man nichts hat außer einer
Rückfahrkarte, die sie nicht nutzen will. Karrenbauer sagt, dass sogar
diejenigen, die Obdachlosigkeit als Kostenfaktor betrachten, sehen müssten,
dass es mittelfristiger günstiger ist, einen alkoholabhängigen Menschen
nachhaltig zu therapieren, als ihn immer wieder als teuren Notfall im
Krankenhaus landen zu lassen.
Aber noch scheint die Hoffnung zu überwiegen, dass die osteuropäischen
Obdachlosen irgendwann nicht mehr da sind, dass man das Problem nicht hier
lösen muss. Dass es nicht das eigene ist, sondern das der anderen.
## Kaum einer kommt zur Beerdigung
Ich rufe noch den Niendorfer Kontaktbeamten der Polizei an. Der Beamte am
Telefon weiß sofort, wen ich meine, als ich nach Joanna frage. „Sie war
sehr weit weg von uns“, sagt er, und das fasst in einer sehr schönen
Sprache eine trostlose Wirklichkeit. „Ich hatte die negativen Begegnungen“,
sagt der Beamte, er wurde gerufen, wenn Joanna und Robert heftig stritten,
wenn sie wieder vor dem Kindergarten schliefen und den Platz verunreinigt
hinterließen. Er kam, wenn die Menschen, die im System keinen Platz haben,
die übrigen störten. Aber er spricht mit Anteilnahme über sie.
Joanna hat den Polizisten bis auf ein einziges Mal nie angesehen, wenn er
kam und sie wegschickte. „Sie war sehr in sich gekehrt“, sagt er. Er glaubt
nicht, dass sie noch Zeitungen verkaufte. Sie wollte keinen Krankenwagen,
keine Hilfe, zumindest nicht die, die er anbieten konnte. „Die Straße macht
einen über die Jahre kaputt“, sagt der Beamte. „Das ist schade um den
Menschen, das hätte anders ausgehen können.“
Bislang ist unklar, wo und wie Joanna beerdigt werden wird. Stephan
Karrenbauer will abwarten, bis Robert aus dem Krankenhaus kommt und sich
bei Hinz&Kunzt meldet. Zu den Beerdigungen von Obdachlosen erscheinen in
der Regel sehr wenige Menschen. Auch andere Obdachlose kommen nicht.
Karrenbauer glaubt, dass sie eben diesen Anblick scheuen: dass niemand
kommt. Inzwischen gibt es ein Gedenken am Totensonntag für alle
Obdachlosen, die im Laufe eines Jahres gestorben sind. Und es gibt einen
Baum, an den sie für jeden Toten und jede Tote eine Plakette hängen. Es
wird auch eine für Joanna geben.
„Joanna kaputt“, hat Robert gesagt, als er am Morgen des 28. Oktober vor
Bettina L.s Tür stand. Und das stimmt auf eine schreckliche Weise.
11 Nov 2018
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
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